Bayer soll zahlen
Ein hormoneller Schwangerschaftstest der deutschen Firma Schering steht im Verdacht, in den sechziger und siebziger Jahren zu Totgeburten und schweren Beeinträchtigungen bei lebend geborenen Kindern geführt zu haben. Der Pharmakonzern Bayer hat Schering 2006 aufgekauft und streitet weiterhin jegliche Verantwortung für den in Deutschland unter dem Namen Duogynon und in Großbritannien als Primodos vermarkteten Test ab. Vor zwei Jahren hatten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der University of Oxford eine Untersuchung veröffentlicht, die das Ausmaß der Nebenwirkungen von Duogynon deutlich macht. Sie hatten alle verfügbaren Zahlen zu Schwangerschaftstests, die auf der Verabreichung von synthetischen Formen der Hormone Östrogen und Progesteron basierten, zusammengefasst. Diese Wirkstoffe werden noch immer für Antibabypillen verwendet, in Duogynon waren sie jedoch in weitaus höheren Dosen enthalten. Der Schwangerschaftstest war negativ, wenn die Tests Blutungen auslösten, und positiv, wenn diese ausblieben.
Die Leiterin der britischen Untersuchungskommission, Julia Cumberlege, forderte von Bayer »freiwillige Entschädigungszahlen an die Menschen zu leisten, die so gelitten haben«.
Schon 1956 warnte der britische Gynäkologe Hubert Britton im British Medical Journal, dass in dem Anwendungszeitraum die grundlegenden Anlagen eines Embryos ausgebildet werden, wenn eine Schwangerschaft vorliegt. 62 Jahre später zeigte die Auswertung der britischen Forschenden, dass die Bedenken gerechtfertigt waren. Das Risiko von Fehlbildungen an Herz, Gehirn und Wirbelsäule, an Skelett und Gliedmaßen und am Verdauungssystem der Föten und Neugeborenen war nach Anwendung von hormonellen Schwangerschaftstests durchschnittlich um 40 Prozent erhöht. Über eine Millionen Frauen verwendeten den Test zwischen 1958 und 1978, bevor die heutzutage üblichen Urintests eingeführt wurden. Zwar stellte Schering die Vermarktung des Produkts als Schwangerschaftstest in einigen Ländern in den späten siebziger Jahren freiwillig ein, in Deutschland wurde es aber erst 1981 endgültig vom Markt genommen.
Vor der Markteinführung waren die Wirkstoffe von Duogynon nicht wie heutzutage üblich in Tierversuchen auf Giftigkeit und ihr Potential zur Fruchtschädigung untersucht worden. Das deutsche Arzneimittelgesetz, das dies vorschreibt, wurde erst 1976 verabschiedet, als direkte Konsequenz aus dem Contergan-Skandal, der weltweit Einfluss auf Zulassungsverfahren von Arzneistoffen hatte. Zuvor war lediglich eine Registrierung der auf dem deutschen Markt vertriebenen Medikamente notwendig.
Als angeblich besonders schonendes und daher auch für Schwangere geeignetes Schlafmittel war Contergan 1957 von der deutschen Firma Grünenthal in den Handel gebracht und rezeptfrei millionenfach verkauft worden. Es verursachte Fehlgeburten und Fehlbildungen von Gliedmaßen bei etwa 5 000 bis 10 000 Kindern weltweit und löste den größten Arzneimittelskandal der Bundesrepublik aus. Laut dem Bundesverband Contergangeschädigter leben in Deutschland noch rund 2 400 Betroffene. Wie im Fall Duogynon gab es bereits früh Warnungen vor den Nebenwirkungen von Contergan, es wurde 1961 vom deutschen Markt genommen. 1967 wurde gegen das verantwortliche Pharmaunternehmen und Angestellte Anklage erhoben, der Strafprozess wurde zu dem bis dahin umfangreichsten der neueren deutschen Rechtsgeschichte. 1970 wurde das Verfahren gegen Entschädigungszahlungen eingestellt, die über eine Stiftung an die Geschädigten ausgezahlt werden.
Die Duogynon-Betroffenen hoffen seit Jahrzehnten auf eine Entschädigung. Doch noch 2016 teilte der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), einem Mitglied der Betroffenen-Initiative »Netzwerk Duogynon«, André Sommer, schriftlich mit, man könnte ihm nicht helfen, da es nicht möglich sei, den geschilderten Sachverhalt zu prüfen und zu bewerten. Im selben Jahr waren interne Unterlagen des Konzerns Schering, die über Jahrzehnte im Landesarchiv Berlin eingelagert waren, öffentlich zugänglich geworden. Sie legen nahe, dass die gravierenden Nebenwirkungen von Duogynon dem Konzern bereits in den sechziger Jahren bekannt waren, doch dem Verdacht intern kaum nachgegangen wurde.
Sommer hatte Scherings Rechtsnachfolger Bayer erfolglos auf Schadensersatz verklagt. Auch in Großbritannien äußerte sich die Regierung gegenüber Betroffenen lange Zeit ähnlich wie die deutsche. Ein Bericht befand 2017, es lägen nicht genug Daten vor, die einen Zusammenhang zwischen dem Test und den Beeinträchtigungen eindeutig belegten. Die Studie von Forschenden an der University of Oxford konnte diese Behauptung jedoch widerlegen. Sie hatten die gleichen Unterlagen verwendet, auf die die Regierung ihre Aussage stützte, sie jedoch anders ausgewertet. An die Daten waren die Forschenden durch eine »Freedom of Information«-Anfrage der britischen »Association for Children Damaged by Hormone Pregnancy Tests« gelangt, eines Zusammenschlusses von Geschädigten hormoneller Schwangerschaftstests. Es ist dieser Zusammenarbeit von Betroffenen und Forschenden zu verdanken, dass der britische Staatssekretär für Gesundheit und Soziales, Jeremy Hunt, eine Gruppe von Forschenden 2018 mit einem unabhängigen Bericht zu Duogynon beauftragte, dem »Independent Medicines and Medical Devices Safety Review«.
Der nun unter dem Titel »First Do No Harm« veröffentlichte Bericht stützt sich außer auf interne Dokumente des Herstellers auf Interviews mit über 700 Menschen – vor allem betroffene Frauen und deren Familienmitglieder. In dem Bericht weisen die Autorinnen und Autoren sowohl dem Pharmaunternehmen als auch den staatlichen Aufsichtsbehörden unzählige Verfehlungen nach. Die Leiterin der Untersuchungskommission, Julia Cumberlege, sagte bei der Vorstellung des Berichts, sie habe »im Laufe der Jahre viele Überprüfungen und Untersuchungen durchgeführt, aber so etwas« sei ihr »noch nie begegnet«. Sie forderte von Bayer, sich nicht nur zu entschuldigen, sondern anzuerkennen, »was geschehen ist, und freiwillige Entschädigungszahlen an die Menschen leisten, die so gelitten haben«. In einer Pressemitteilung der deutschen Organisation »Coordination gegen Bayer-Gefahren« schließt sich André Sommer dieser Forderung an. Betroffene wie er warteten »seit mehr als 40 Jahren auf eine Entschuldigung und eine finanzielle Versorgung«. Bayer bestreitet weiterhin einen kausalen Zusammenhang und lehnt Entschädigungen ab.
Nicht nur im Zusammenhang mit Duogynon und Primodos werden Schadensersatzforderungen an Bayer gestellt. Seit der Übernahme des Biotechkonzerns Monsanto im Jahr 2018 muss sich Bayer mit Zehntausenden Klagen vor allem in den USA wegen des Herbizids Glyphosat auseinandersetzen. Die Kläger und Klägerinnen machen das umstrittene Pflanzengift für Krebserkrankungen verantwortlich, einigen wurden bereits Schadensersatzzahlungen in Millionenhöhe zugesprochen. Auch in diesem Fall gaben interne Akten und vertuschter E-Mail-Verkehr des von Bayer aufgekauften Konzerns den Ausschlag. Als Konsequenz der auch wirtschaftlich umstrittenen Übernahme verweigerten die Aktionärinnen und Aktionäre auf ihrer Hauptversammlung 2019 dem Vorstand mit einem so noch nicht dagewesenem Votum die Entlastung.