Mit Corona kam der Boom
Als die Covid-19-Pandemie Mitte März die Ausübung der meisten Sportarten unmöglich gemacht hatte, war die Schachwelt noch sehr rege tätig. Allen Warnungen zum Trotz veranstaltete der Weltverband Fide das Kandidatenturnier, dessen Gewinner den Weltmeister Magnus Carlsen herausfordern darf, im russischen Jekaterinburg. Erst als die Sperrung des russischen Luftraums angekündigt wurde, brach der Verband das Turnier am 26. März nach der ersten Hälfte ab.
Mit einer eigens organisierten Chartermaschine wurden die Spieler gerade noch rechtzeitig außer Landes gebracht. Was seither geschah, dürfte den Schachsport dauerhaft verändern: Während alle anderen Sportarten pausierten, mussten Schachspieler und -spielerinnen bloß ihren Computer anschalten. Die drei großen Portale Chess.com, das unter anderem Magnus Carlsen gehörende Chess24.com und die spendenfinanzierte Open-Source-Plattform Lichess erlebten nie zuvor gesehene Zugriffszahlen. Allein auf Lichess wurden im Juni 2020 mehr als 70 Millionen gewertete Partien gespielt.
Das Portal Chess.com gab an, dass bei der Überprüfung der Online-Partien aus dem März über 300 Titelträger und Titelträgerinnen Betrugsversuche eingestanden hätten.
Nicht nur Amateur- und Hobbyspieler zog es ins Internet, auch die Weltspitze war und ist dort anzutreffen. So rief die Firmengruppe hinter dem Weltmeister auf Chess24 in kürzester Zeit die »Magnus Carlsen Chess Tour« ins Leben. Der Preisgeldfonds von einer Million US-Dollar macht klar, welches finanzielle Potential der Veranstalter im Online-Schach sieht. Für die Fans wurde der Traum wahr, den weltbesten Spielern, die per Webcam zugeschaltet waren, während der Partien direkt ins Gesicht zu schauen und nach den Partien live ihren Analysen zuzuhören. Auch für die Veranstalter ist das Spektakel ein großer Erfolg. Selbst der Streaming-Dienst DAZN übernahm die Übertragungen von Chess24 in sein Programm.
Chess.com hielt mit dem Turnier »Pogchamps« dagegen, in dem wenige Spitzenspieler, dafür aber E-Sport-Stars antraten. Natürlich zogen diese ihre Fans zum Schach und sorgten so für eine riesige Resonanz. Der Weltverband Fide trägt zudem wohl aus finanziellen Gründen weiterhin wichtige Wettkämpfe auf der Plattform aus. Mit dem »Fide Online Nations Cup« gab es im Mai eine sehr gut dotierte Premierenveranstaltung. Aber auch das wichtigste Mannschaftsturnier des Verbands, die alle zwei Jahre ausgetragene Schacholympiade, findet dieser Tage online statt. Somit wird zum ersten Mal in der Geschichte nicht direkt am Brett entschieden, welche Nation die stärkste im Schach ist.
Auch das zu Amazon gehörende Streaming-Portal Twitch gehört zu den Gewinnern der Krise. Gab es früher nur wenige Schachspieler unter den Streamern, so haben Fans mittlerweile eine riesige Auswahl, wem sie beim Spielen zuschauen oder gegen wen sie gar antreten wollen.
Der größte Star des Online-Schach ist der US-Amerikaner Hikaru Nakamura, der bei der »Carlsen Chess Tour« und mit seinen Streams so viel Geld verdient, dass er keine Wettkämpfe mehr am realen Brett spielen will. Den Fans des Schachspiels bieten sich ungeahnte neue Möglichkeiten. Sie können von starken Spielern lernen, die jede Menge Lehrvideos kostenlos ins Netz stellen. Viele der Streamer bieten für ihre Abonnenten auch geschlossene Turniere oder Simultanvorstellungen an. Musste man früher teilweise dreistellige Eurobeträge für die Teilnahme an einem Simultanturnier bezahlen, kann man derzeit beispielsweise für fünf Euro im Monat jede Woche gegen den ehemaligen Vizeweltmeister Gata Kamsky spielen.
Dass es beim Streaming aber auch Risiken gibt, erlebte Elisabeth Pähtz, die beste deutsche Spielerin. Sie wurde auf Lichess wegen Computerbetrugs und rassistischer Kommentare gesperrt. Wie sich herausstellte, hatten verschiedene Helfer und Helferinnen Zugang zu ihrem Account und jemand aus diesem Kreis spielte dort, während sie auf Reisen war. Pähtz suchte daraufhin Kontakt zum Opfer der Beleidigungen und steht inzwischen in gutem Austausch mit ihm. Auch die Fide sprach sie von den Betrugsvorwürfen frei.
Allein der Verdacht, die amtierende Schnellschacheuropameisterin könne Computerhilfe in Anspruch genommen haben, zeigt allerdings, wie groß das Betrugsproblem im Online-Schach ist. Chess.com gab im April an, dass bei der Überprüfung der Partien aus dem März über 300 Titelträger und Titelträgerinnen Betrugsversuche eingestanden hätten. Insgesamt wurde von der Plattform im ersten Quartal eine fünfstellige Zahl an Accounts wegen Betrugs gesperrt. Beim ersten klassischen Turnier während der Coronazeit, dem »Sunway Sitges Open«, versuchte man, dem Problem mit der Regel zu begegnen, dass die Computerkamera während der Partie grundsätzlich laufen muss. Dennoch wurden nach dem Turnier etliche Fälle von Computerbetrug bekannt.
Wenn selbst solche Maßnahmen nicht greifen und sich jeder Durchschnittsspieler und jede Durchschnittsspielerin mit einem Smartphone auf Weltniveau heben kann, werden offizielle Wettkämpfe im Netz wohl noch lange Zeit keine Alternative zum Offline-Duell sein. Der Deutsche Schachbund (DSB) versuchte, beide Welten zu verbinden, und rief für seine Vereine die »Deutsche Schach-Online-Liga« (DSOL) ins Leben. Viererteams spielten hier in Achterligen gegeneinander. Die richtige Atmosphäre wollte sich aber nicht einstellen. Spieler konnten weder die Stellungen der anderen Teammitglieder sehen noch gab es nach den Partien die Möglichkeit zur gemeinsamen Analyse mit dem Gegner.
Wann die Ligen den Betrieb wiederaufnehmen können, ist noch vollkommen offen. Oft finden Mannschaftskämpfe, meist eine Veranstaltung älterer Herren, in engen Räumlichkeiten statt, in denen sich Abstandsregeln kaum einhalten lassen.
Auch die eigenständig verwaltete Schachbundesliga machte dem DSB, der eine frühe Rückkehr zum Ligenbetrieb wünschte, einen Strich durch die Rechnung. Die 16 Teams der höchsten Liga beschlossen, die Saison 2019/2020 erst im Frühjahr 2021 fertigzuspielen. Deshalb wird es auch erst im kommenden Jahr wieder Aufsteiger in die Bundesliga geben. So stellt die Entscheidung alle anderen Klassen vor vollendete Tatsachen: Alle Auf- und Abstiegsentscheidungen sind in das kommende Jahr vertagt.
Viele Landesverbände haben bereits beschlossen, dass es keine Saison 2020/2021 geben wird. Die große Frage lautet, ob die Spieler dann wirklich an die Bretter zu den langen Partien zurückkehren werden. Schließlich dürfte die Attraktivität des Online-Schachs weiter steigen, es werden wahrscheinlich mehr Angebote folgen, die Plattformen und Überwachungsmechanismen noch besser werden.
Die Fide hat mittlerweile mitgeteilt, die zweite Hälfte des unterbrochenen Kandidatenturniers noch im November und Dezember 2020 in Jekaterinburg abhalten zu wollen. Ein Spötter auf Twitter merkte an, es gebe derzeit nur einen Ort, an dem man das Turnier risikolos veranstalten könne: das Weltall.