Großbritannien ist unzureichend auf die steigende Zahl von Infektionen vorbereitet

Die Wirtschaft hat Vorrang

Großbritanniens Gesundheitssystem ist auf den erneuten dramatischen Anstieg der Zahl von Covid-19-Infektionen besser vorbereitet als im März. Experten warnen aber, dass die bisherigen Maßnahmen der Regierung völlig unzureichend seien.

Großbritannien war von der sogenannten ersten Welle der Covid-19-Pandemie stark betroffen. Im europäischen Vergleich sind dort besonders viele Menschen an Covid-19 gestorben. Mit mehr als 44 000 Toten belegte das Land im Juni den zweiten Platz einer makabren weltweiten Rangliste – in Europa steht Großbritannien sogar an erster Stelle.

Noch ist nicht abschließend geklärt, warum es in Großbritannien auch im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mehr Tote gab als in vielen anderen Ländern. Klar ist allerdings, dass das öffentliche Gesundheitssystem nicht auf eine Epidemie vorbereitet war.

Experten, Verbände und Gewerk­schaften werfen der britischen Regierung vor, wertvolle Zeit zur Entwicklung einer effektiven Strategie zum Umgang mit der Pandemie vergeudet zu haben.

Eine Reportage der  Rundfunkanstalt BBC zeigte beispielsweise, dass die britischen Regierungen es in den vergangenen Jahrzehnten versäumt hatten, genügend Schutzausrüstung wie Atemschutzmasken, Handschuhe und Schürzen für Beschäftigte im Gesundheitswesen zu lagern. Deshalb mussten die Beschäftigten im März und April mit unzureichender Ausrüstung erkrankte Patienten versorgen. Besonders Interessenverbände und Gewerkschaften im Gesundheitssektor kritisierten dieses Versäumnis der Regierungen, ebenso wie die anhaltende Sparpolitik und die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems.

Inzwischen sprechen auch britischen Medien ebenso wie der konservative Premierminister Boris Johnson angesichts der wieder rasant steigenden Infektionszahlen im Land von einer »zweiten Welle«. Ein wichtiger Teil der staatlichen Vorbereitung auf diese absehbare Situation ist die adäquate Versorgung der öffentlichen Krankenhäuser mit Schutzausrüstung. Wie die Financial Times berichtete, hat die Regierung im Laufe des Sommers 30 Milliarden entsprechende Artikel wie Masken, Handschuhe und Schürzen bestellt, um eine Situation wie im März zu vermeiden. Auch will Großbritannien ab März 2021 solche Güter wieder im eigenen Land herstellen. Als weitere Maßnahme sollte die Anzahl der Intensivbetten aufgestockt werden, allerdings ist unklar, inwieweit diese Pläne bereits verwirklicht wurden.

Experten, Verbände und Gewerkschaften werfen der britischen Regierung vor, wertvolle Zeit zur Entwicklung einer effektiven Strategie zum Umgang mit der Pandemie vergeudet zu haben, wenn man vom Ankauf notwendiger Schutzkleidung absieht. Bereits im Juni riefen die Vorsitzenden der Gewerkschaften für Beschäftigte im Gesundheitswesen in einem offenen Brief in der Fachzeitschrift British Medical Journal dazu auf, effektive Maßnahmen für den Fall eines erneuten stark erhöhten Infektionsgeschehens und dessen Folgen zu treffen, auf Basis einer Auswertung und Analyse der in der ersten Phase der Pandemie aufgetretenen Probleme. Die Autorinnen und Autoren des sich an alle politischen Parteien richtenden Schreibens forderten eine »konstruktive, überparteiliche, landesweite Herangehensweise«. Richard Horton, der Chefredakteur der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet und ein Mitunterzeichner des Briefs, hält die Politik der britischen Regierung für derart ungenügend, dass er Boris Johnson »Amtspflichtverletzung« vorwirft.

Tatsächlich nutzte Johnson den vergleichsweise ruhigen Sommer nicht, um untersuchen zu lassen, warum in Großbritannien mehr Infizierte an Covid-19 starben als in anderen Ländern und warum unter den Opfern nach wie vor besonders viele schwarze und südasiatische Briten sind. Als die strengeren Maßnahmen des Frühjahrs im Juni ausgesetzt worden waren, ermunterte der Premierminister dagegen die Bevölkerung, Restaurants und Cafés zu frequentieren, um die Wirtschaft zu fördern. Auch als im September die Zahl der täglichen Neuinfektionen wieder anzusteigen begann und in der dritten Oktoberwoche mit durchschnittlich mehr als 21 000 Neuinfektionen am Tag neue Rekordhöhen erreichte, ignorierte Johnson die Empfehlungen von Wissenschaftlern und erklärte die Verbesserung der Wirtschaftslage zur politischen Priorität.

Die Scientific Advisory Group for Emergencies (Sage) ist ein unabhängiges wissenschaftliches Expertengre­mium, das die britische Regierung in Notsituationen berät. Bereits im September hatte es in einem Bericht auf die wieder steigenden Fallzahlen und sich füllenden Intensivstationen hingewiesen. Der Bericht machte deutlich, dass rasch gehandelt werden müsse, um eine Situation mit »katastrophalen Konsequenzen« zu verhindern. Nötig sei »ein Paket von Maßnahmen«, da einzelne Maßnahmen bereits nicht mehr ausreichten. Der Bericht ging auf verschiedene Möglichkeiten ein, die Pandemie einzudämmen, darunter ein kurzer lockdown von wenigen Wochen, Homeoffice, die Reduktion von Kontakten zwischen verschiedenen Haushalten, die Schließung von Einzelhandelsgeschäften und Gastronomie sowie Fernunterricht für Studierende. Einen kurzen lockdown hielten die Autoren nach Abwägung der Effektivität und gesellschaftlichen Kosten für absolut notwendig, um die Dynamik der Virusverbreitung zumindest kurzzeitig zu unterbrechen.

Der Premierminister folgte dieser Empfehlung jedoch nicht und entschied sich für einen Kompromiss zwischen der Expertenempfehlung und den lockdown-Skeptikern in seinem Kabinett, allen voran Wirtschaftsminister Rishi Sunak. Neben einem dreistufigen lo­kalen lockdown-System wurden eine Sperrstunde für die Gastwirtschaft und eine Empfehlung zum Homeoffice angekündigt. Die Sage veröffentlichte daraufhin die Protokolle der Sitzungen, um auf die Diskrepanz zwischen ihrem Rat und den ergriffenen Maßnahmen hinzuweisen. Das Expertengremium fürchtet unter den gegebenen Umständen eine katastrophale Entwicklung der Fallzahlen.

Auch die oppositionelle Labour-Partei unter ihrem Vorsitzenden Keir Starmer forderte im britischen Unterhaus einen kurzen lockdown. Die von Labour geführte walisische Regionalregierung setzte den wissenschaftlichen Rat von Sage sogar in die Tat um. Am 23. Oktober begann dort ein lockdown von zwei Wochen, der das Gesundheitssystem entlasten soll.

Bei der von der Konservativen Partei gestellten Zentralregierung scheint die öffentliche Gesundheit aber nicht an erster Stelle zu stehen. Grace Blakeley, einer Kommentatorin der linken Zeitschriften Tribune und New Statesman, schrieb, die Wirtschaftspolitik der Regierung mache deutlich, dass dieser der Erhalt des Finanzsektors wich­tiger sei als der Schutz der Bevölkerung. »Die Arbeiterklasse« werde, so Blakeley im Interview mit der linken Online-Plattform Novara Media, »nur gerade genug unterstützt, damit die Wirtschaft nicht einbricht«. Bisher sieht es tatsächlich so aus, als wolle die britische Regierung den fragwürdigen ersten Platz als Land mit den meisten Todesfällen in Europa verteidigen; derzeit liegt es bei der Letalitätsrate von an Covid-19-Erkranken auf dem zweiten Platz hinter Italien.