Die Verfilmung des Bestsellers »Hillbilly Elegy«

Hinter­wäldler, Clowns und Parasiten

Mit der Netflix-Verfilmung von J. D. Vances Bestseller »Hillbilly Elegy« rückt einmal mehr die Unterschicht in den Blickpunkt. Doch wie schon in den Filmen »Parasite« und »Joker« erscheint auch hier die vielbeschworene Rückkehr des Themas Klasse zwiespältig.

Wenn es Streit gibt, fliegen schnell mal die Fäuste. Auch der kleine J. D. Vance (Owen Asztalos) schlägt zu, wenn seine Mutter beleidigt wird. So fordert es eben der Ehrenkodex bei den aus den Appalachen stammenden Hinterwäldlern, die Ron Howard in seiner gleichnamigen Verfilmung von J. D. Vances Erinnerungsbuch »Hillbilly Elegy« por­trätiert.

Die toughe Oma (Glenn Close) versucht, J. D. von den toxischen Mustern aus Gewalt, Drogen und Armut fernzuhalten, die ihre Familie seit Generationen prägt. Dennoch droht der Enkel auf die schiefe Bahn zu ­geraten. Schließlich weiß er von seiner Mutter (Amy Adams), die einst Klassenbeste war und nun eine tablettenabhängige Gelegenheitsjobberin ist, dass sich Leistungsbereitschaft nicht immer auszahlt. Doch dann besinnt sich das Kind. In einer an ­»Rocky« erinnernden Power-Montage zeigt der Film, wie der Schüler durch Fleiß dem Sumpf entkommt. J. D. (jetzt: Gabriel Basso) nimmt ein Jurastudium in Yale auf.

Das Trump zugeneigte Lager feierte »Hillbilly Elegy«. »Endlich sagt mal jemand die Wahrheit über die Elite, die tüchtige weiße Arbeiter verraten hat«, hieß es. Dabei wurde offenbar übersehen, dass Autor J. D. Vance nicht die liberale Politik der Demokraten, sondern vor allem die Mentalität der Hillbillys für die Verelendung der Familien verantwortlich macht.

Der Film mit seiner heterogenen Mischung aus trotzigem Klassenstolz, Feier der einfachen Leute, Anklage der Umstände und Beschwörung des amerikanischen Traums ist zwar alles andere als gelungen – in seinen Widersprüchen bildet er aber die Ambivalenz des neuen, ideologisch zwiespältigen Interesses des Kinos an der Unterschicht ab. Die zugunsten von race und gender vernachlässigte Kategorie class kehrte in den vergangenen Jahren mit Macht zurück in Literatur und Film.

Der Beginn der Entwicklung lässt sich auf das Jahr 2016 datieren. Das Votum der Briten für den EU-Austritt und die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA zeigte, dass eine sich abgehängt fühlende weiße Unterschicht mit ihrem Frust über die sogenannten Eliten Wahlen entscheiden konnte.

Im selben Jahr erschien »Hillbilly Elegy« auf dem US-amerikanischen Buchmarkt. Darin schildert der Unternehmer James David Vance seine Kindheit in einer zerrütteten Familie in Middleton, einer vom wirtschaft­lichen Niedergang geprägten Industriestadt im Bundesstaat Ohio, und seinen Absprung nach Yale. Aus den Appalachen waren seine Vorfahren einst in die Gegend um Middleton gekommen, um in den großen Stahlfabriken zu arbeiten. Das Buch, so der Tenor der Kritik, könne helfen zu erklären, warum das Arbeitermilieu im nordöstlichen Rust Belt, einer traditionell demokratisch wählenden Gegend, einen rechtspopulistischen Kandidaten unterstützte.

Das Trump zugeneigte Lager feierte »Hillbilly Elegy«. »Endlich sagt mal jemand die Wahrheit über die Elite, die tüchtige weiße Arbeiter verraten hat«, hieß es. Dabei wurde offenbar übersehen, dass Vance nicht die liberale Politik der Demokraten, sondern vor allem die Mentalität der Hillbillys für die Verelendung der Familien verantwortlich macht. Ihnen attestierte er fehlenden Bildungseifer und eine mangelnde Bereitschaft, sich an die Erfordernisse der Wirtschaft anzupassen.

»Du musst entscheiden!« sagt auch im Film Vances Oma, die ihren Enkel zum sozialen Aufstieg ermutigt. Auch wenn der Film in einer Dinnerszene an einem Elite-College zeigt, wie sich die Oberschicht mit ihrer Tisch­etikette gegen »Eindringlinge« aus der Unterschicht wehrt, ignoriert Vance in seinem Buch den Klassen­aspekt. Er inszeniert sich als ver­armter Nachkomme schottisch-irischer Einwanderer, die im protestantischen Amerika diskriminiert wurden.

Die Debatten über die Ursachen des Rechtspopulismus beschäftigen das Kino und die Filmkritik immer wieder. 2016 gewann Ken Loach bei den Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme mit seinem sozialkritischen Film »Ich, Daniel Blake« über einen alternden Zimmermann, der nach einem Herzinfarkt zwischen Arbeits- und Sozialamt zerrieben wird. ­Nebenbei versucht der Protagonist, eine schwarze Bekannte vor der Prostitution zu bewahren. Es geht Loach nicht um die Artikulation ­eines rein weißen Arbeiterfrusts, sondern um die Solidarität der Armen jenseits ethnischer Grenzen. »Ich, Daniel Blake« ist ein deftiges Stück Linkspopulismus, lässt sich mit seiner plakativen Bürokratiekritik aber auch als Pro-Brexit-Film verstehen.

Der ebenfalls 2016 überraschend für vier Oscars nominierte Neo-Western »Hell or High Water« erzählt von zwei texanischen Brüdern, die, frei nach dem Brecht’schen Motto »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?«, jene Geldinstitute ausrauben, die ihnen mit der Pfändung ihrer Farm drohen. Armut erschient hier, im Gegensatz zu »Hillbilly Elegy«, nicht als individuelles Versagen, sondern als Fluch der Klasse, als eine Art Erbkrankheit. »Ich war mein ganzes Leben lang arm. Meine Eltern auch. Und deren Eltern. Es ist wie eine Krankheit, die von Generation zu Generation weitergegeben wird«, sagt einer der Redneck-Brüder. Dem Teufelskreis kann man nur mit Gewalt entkommen, der Glaube an einen ehrlichen sozialen Aufstieg existiert hier nicht mehr. Der Film bildet die Wut der Besitzlosen ab, zeigt aber deutlich, dass dieser Weg der falsche ist; zumal die Banküberfälle nicht nur der Notwehr im Überlebenskampf, sondern der Sicherung einer Ölquelle dienen.

2019 wurden gleich zwei Kinohits unter dem Klassenaspekt rezipiert. Im südkoreanischen Oscar-Gewinner »Parasite« schleichen sich die Mitglieder der armen Familie Kim trickreich als Angestellte in die reiche Familie Park ein. Bescheidener sozialer Aufstieg scheint nur durch fragwürdige Finten möglich. Der Film ist weit von der klassenkämpferischen Wut eines Ken Loach entfernt. Eben nicht der Graben zwischen den ­gesellschaftlichen Schichten, sondern das Hauen und Stechen im sozialen Kellergeschoss steht im Mittelpunkt von Bong Joon-hos Satire.

»Joker« wiederum inszenierte die Genese des Batman-Widersachers als Psychogramm eines Außenseiters, der glaubt, seinen Anteil am amerikanischen Traum einfordern zu können. Joaquin Phoenix spielt den Mietclown und erfolglosen Stand-up-Komiker Arthur Fleck, der von einem Auftritt in einer Late-Night-Show träumt und dabei in den Wahnsinn abdriftet.

Der Klassenkonflikt wird in »Joker« aber nicht primär als Persönlichkeitsstudie eines Manns gestaltet, der an den vom Spätkapitalismus geweckten Träumen scheitert. Den Hintergrund von Flecks Leidensgeschichte geben öffentliche Proteste gegen die »Elite« ab, die von Thomas Wayne verkörpert wird, einem Milliardär mit politischen Ambiti­onen (und Vater von Bruce Wayne, dem späteren Batman). Von Wayne als Sozialneider und »Clowns« diffamiert, nehmen sich die Demonstranten den amoklaufenden Spaßmacher Fleck als Symbolfigur. Insofern können die Riots in »Joker« durchaus in der Tradition populistischer Elitenkritik gesehen werden. Deutlich übt »Joker« aber auch Kritik an neoliberaler Austeritätspolitik: Auch weil seine Therapie Sparmaßnahmen zum Opfer fällt, verfällt Fleck dem Irrsinn.

»Hillbilly Elegy« zeigt die Folgen von Einsparungen in der Gesundheitspolitik ebenfalls auf drastische Weise. Das muss man dem Film trotz seiner naiven Beschwörung von Eigenverantwortung zugute­halten. Vances heroinabhängige Mutter wird aus dem Krankenhaus ­geschmissen, weil sie nicht krankenversichert ist. Früher, sagt sie, habe es das nicht gegeben. Sie weiß, wovon sie spricht. Schließlich war sie vor nicht allzu langer Zeit in derselben Klinik als Krankenschwester beschäftigt.

Hillbilly Elegy (USA 2020). Buch: Vanessa Taylor. Regie: Ron Howard. Darsteller: Glenn Close, Amy Adams, Gabriel Basso. Der Film kann bei Netflix gestreamt werden.