Hühnchen aus dem Bioreaktor
Knusprige Chicken Nuggets, für die kein Tier sterben musste: Das verspricht das US-amerikanische Unternehmen Eat Just. Das Start-up stellte die Nuggets kürzlich in Singapur vor. Der Stadtstaat hatte zuvor als erstes Land der Welt ein Produkt aus sogenanntem Laborfleisch für den Lebensmittelmarkt zugelassen. Die Methode, mit der In-vitro-Fleisch hergestellt wird, ist keineswegs neu. Die Produktion von Fleisch aus Zellkulturen ähnelt dem Züchten von Gewebe für medizinische Zwecke, beispielsweise für Hauttransplantate.
Eat Just stellt sein künstliches Hühnchenfleisch in Bioreaktoren mit 1 200 Litern Fassungsvermögen her. Das Muskelgewebe des In-vitro-Fleischs wird aus Stammzellen gezüchtet. Für die Entnahme der Stammzellen muss das Spendertier nicht getötet werden, vielmehr entnahm Eat Just für seine Chicken Nuggets lebenden Tieren Gewebeproben. Um die Kosten zu senken, mischte das Unternehmen den im Labor gezüchteten tierischen Zellen Pflanzenproteine bei. Es handelt sich also nicht um ein reines Fleischprodukt.
Bislang werden die Chicken Nuggets aus Laborfleisch nur in einem gehobenen Restaurant in Singapur serviert.
Als Nährlösung für die Zellen verwendet Eat Just derzeit noch fetales Kälberserum (FKS). Das ist keineswegs billig: Ein Liter FKS kostet rund 500 US-Dollar. Zur Herstellung eines In-vitro-Burgers würden zur Zeit noch rund 50 Liter FKS benötigt, sagte Mark Post, der Gründer des Unternehmens Mosa Meat, dem Technologiemagazin Wired. Der Prozess, in dem das Serum gewonnen wird, ist zudem ethisch umstritten. Auf der Website des Vereins Ärzte gegen Tierversuche e. V. wird er so beschrieben: Unmittelbar nach der Schlachtung werde der schwangeren Kuh das Kalb entnommen und dem noch lebenden Kalb ohne Betäubung aus dem Herzen Blut abgesaugt, bis das Tier blutleer ist und stirbt. Wenn das Herz noch schlägt, kann eine größere Menge Blut gewonnen werden, pro Kalb etwa ein halber Liter.
Eat Just kündigte an, bei der nächsten Produktionslinie mit einer pflanzlichen Nährlösung zu arbeiten. Auch andere Unternehmen experimentieren mit nichttierischen Nährlösungen, beispielsweise aus Algenextrakten. Da Pflanzen Proteine meist nur in sehr geringen Mengen bilden, wird die kostengünstige Herstellung solcher Nährlösungen für den Massenmarkt wohl kaum ohne Biotechnologie und Gentechnik auskommen.
Ein schwieriger und teurer Schritt bei der Herstellung von In-vitro-Fleisch besteht darin, Muskelzellen zu ganzen Muskelfasern verwachsen zu lassen. Nur so entsteht aus einem labberigen Zellhaufen die faserige Fleischstruktur, die viele bei Ersatzprodukten vermissen. Aber je mehr Zellschichten sich bilden, umso schwieriger wird die Diffusion von Nährstoffen aus der Nährlösung in das Fleisch. Bei natürlich wachsendem Fleisch werden diese mit dem Blut transportiert. Um dickere Muskelstrukturen zu erhalten, müssten in dem Muskelgewebe auch Blutgefäße gebildet werden und mitwachsen. Bislang ist das nicht möglich.
Wann immer mit tierischem Material gearbeitet wird, besteht die Gefahr der Keimbildung. Bei der Herstellung des ersten Burgers aus Laborfleisch wurden Antibiotika verwendet, da Zellkulturen im Gegensatz zu lebenden Tieren kein Immunsystem besitzen. Der Einsatz von Antibiotika ist aber problematisch, er könnte zum Aufbau von Resistenzen führen. Eat Just gibt an, seine Chicken Nuggets ganz ohne Antibiotika zu produzieren. Das sei möglich, weil das Unternehmen unter hohen Hygieneauflagen arbeite und das Fleisch in sterilen Bioreaktoren züchte. Eat Just behauptet, mit seinem Laborfleisch einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten zu können, zu dem die globale Fleischproduktion erheblich beiträgt. Die Wissenschaftlerinnen Arianna Ferrari, Inge Böhm und Silvia Woll weisen in ihrem Aufsatz »In-vitro-Fleisch: Eine technische Vision zur Lösung der Probleme der heutigen Fleischproduktion und des Fleischkonsums?« jedoch darauf hin, dass bisherige Studien zum Energieaufwand bei der Produktion von In-vitro-Fleisch variieren. Grund hierfür sei, dass zum Zeitpunkt der Forschung kein großes Produktionssystem existiert habe, auf das sich die Analyse hätte beziehen können. Auch würden wegen der unsicheren Datenlage unterschiedliche Annahmen hinsichtlich der verwendeten Ressourcen und Prozesse getroffen. Klare Aussagen über die ökologischen Auswirkungen der Herstellung von In-vitro-Fleisch lassen sich auf Grundlage der bisherigen Studien also nicht treffen.
Einige Forscherinnen und Forscher, darunter die Umweltingenieurin Carolyn Mattick von der University of West Florida, zeigen sich hier wenig optimistisch. Matticks Studie »Zelluläre Landwirtschaft: Die kommende Revolution in der Lebensmittelproduktion« zeigt, dass die zelluläre Landwirtschaft mehr industrielle Energie benötigt als die Viehzucht, um äquivalente Mengen Fleisch zu produzieren. Der Grund sei, dass all die biologischen Strukturen, die in der zellulären Landwirtschaft fehlten, wichtige Funktionen beim Fleischwachstum erfüllten: Die Haut eines Tieres reguliert die Temperatur, innere Organe verteilen Nahrung, zirkulieren Nährstoffe und verteilen Sauerstoff, und das Immunsystem zerstört Pathogene. Würde Fleisch in einer Fabrik gezüchtet, müssten diese Funktionen auf andere Weise erfüllt werden. Zelluläre Landwirtschaft, welche sich auf die Herstellung von landwirtschaftlichen Produkten aus Zellkulturen unter Verwendung einer Kombination aus Biotechnologie und Molekularbiologie konzentriert, kann zwar Methoden zur Herstellung von Proteinen, Fetten und Geweben entwickeln, komplexe biologische Prozesse aber nicht in Gänze nachahmen.
Hinsichtlich des Land- und Wasserverbrauchs bei der Produktion von In-vitro-Fleisch können bisher nur Vermutungen angestellt werden, diese sind aber teilweise positiv. Insbesondere bei künstlichem Rindfleisch sei der prognostizierte Verbrauch der genannten Ressourcen deutlich niedriger – so zumindest manche Forscherinnen und Forscher. Generell ergeben sich bei In-vitro-Rindfleisch auch beim Energieverbrauch größere Vorteile als bei anderen Fleischsorten aus dem Bioreaktor. Das liegt allerdings hauptsächlich an der im Vergleich zu anderen Fleischsorten schlechteren Ökobilanz von konventionellem Rindfleisch. Die Vorteile, die die Produktion von künstlichem Hähnchen-, Schweine-, und Schafsfleisch in Sachen Land- und Wasserverbrauch verglichen mit der herkömmlichen Produktion mit sich bringt, sind hingegen marginal. Jedenfalls wird wohl erst die Massenproduktion von In-vitro-Fleisch zeigen, inwieweit durch die Züchtung von Fleisch in Bioreaktoren Ressourcen gespart werden können.
Der Markt für Laborfleisch könnte in den kommenden Jahren wachsen. Einer Schätzung der britischen Bank Barclays zufolge könnte das Marktvolumen für sogenanntes alternatives Fleisch – gemeint sind vor allem pflanzliche Fleischersatzprodukte, die es bereits jetzt vielerorts zu kaufen gibt, aber auch Laborfleisch – bis zum Jahr 2029 rund 140 Milliarden US-Dollar betragen. Das entspräche zehn Prozent des Marktvolumens der globalen Fleischindustrie. Eat Just akquirierte frühzeitig Risikokapital in Höhe von rund 120 Millionen Dollar und erreichte bereits 2016 einen Unternehmenswert von über einer Milliarde Dollar.
Bislang galt es nicht als sicher, ob In-vitro-Fleisch tatsächlich wie tierisches Fleisch schmecken wird. Kritiker monieren, beim fertigen Produkt fehle es dafür vor allem an Fett und am Blutfarbstoff Myoglobin; beides ist für den charakteristischen Fleischgeschmack entscheidend. Eine Guardian-Reporterin hat die Nuggets von Eat Just probiert und weiß Erfreuliches zu berichten: »Das Produkt schmeckt wie Fleisch«, schreibt Naima Brown. Es erinnere an richtige Chicken Nuggets: innen saftig, außen knusprig und mit salzig-fettigem Eiweißgeschmack.
Es ist unklar, wann In-vitro-Fleischprodukte für die Masse der Konsumentinnen und Konsumenten erschwinglich sein werden. Bislang werden die Nuggets von Eat Just nur in einem gehobenen Restaurant in Singapur serviert. Drei kleine Probiergerichte kosten 23 Dollar. Das Unternehmen behauptet jedoch, sein Produkt werde letztlich billiger sein als herkömmliche Chicken Nuggets.