Das neue Album der schwedischen Viagra Boys

Shrimps, Charme und Tattoos

Die Viagra Boys sind gar nicht solche Machos, wie ihr Bandname vermuten lässt. Derb sind sie dennoch: Ihr neues Album »Welfare Jazz« strotzt nur so vor dreckigem und unkorrektem Humor.

Wenn man in nicht allzu ferner Zukunft vom Durchbruch eines amerikanisch-schwedischen Schauspielers namens Sebastian Murphy hören sollte, so würde das nicht allzu sehr verwundern. Denn Murphy, der Sänger der Stockholmer Band Viagra Boys, ist bereits jetzt ein großer Mime – nur hat die Welt noch nicht Notiz davon genommen.

Im Video zu »Ain’t Nice«, der ersten Auskopplung aus dem neuen Album »Welfare Jazz« der Viagra Boys, wankt der volltätowierte und volltrunkene Murphy, bekleidet mit Wifebeater-Shirt und Jogginghose, durch die Fußgängerzone des Stockholmer Rand­bezirks Farsta und gibt den White-Trash-Proleten, ehe er sich, bewusstlos auf dem Boden liegend, in einer Traumsequenz wiederfindet, in der er (zu sehen im Clip zum Song »Creatures«) gemeinsam mit dem alten Landadel niedliche kleine Hunde erschießt, als wären sie Tontauben.

Viagra Boys sind nicht nur eine Band, die gute Musik zwischen (Garage) Rock, Post-Punk und Blues abliefert, sie sind auch ein Popphänomen wegen ihres erfrischenden Witzes und oft fiesen Humors.

Diese Clips geben einen guten Eindruck davon, wie man das 2015 ­gegründete schwedische Quintett verstehen sollte: Die Viagra Boys sind nicht nur eine Band, die ordentliche bis sehr gute Musik zwischen (Garage) Rock, Post-Punk und Blues abliefert, sie sind auch ein Popphänomen wegen ihres erfrischenden Witzes und oft fiesen Humors. Ihr im Januar erschienenes Album ­deutet das bereits im Titel an: Wohlfahrtsjazz heißt es übersetzt. Eine bewusste Selbstironisierung, ein Gruß aus dem vermeintlichen Sozialstaatswunderland Schweden – und ein Hinweis darauf, dass einige Band­mitglieder tatsächlich in Jazzbands spielen.

Der Schlagzeuger Tor Sjödén und der Saxophonist Oskar Carls kommen aus dem Jazz, beide haben auch zusammen eine Combo. Einen jazzigen Einschlag hat auch der Sound der Viagra Boys – immer wenn der Rocksound zu konventionell wird, sorgt insbesondere das Saxophon für wohltuende Abwechslung. Der Bassist Henrik Höckert und der Gitarrist Benjamin Vallé hingegen entstammen der schwedischen Punk- und Hardcoreszene, spielten bereits zusammen in der Rock-/Noise-/Post-Punk-Combo Pig Eyes und der Hardcoreband Nitad. Komplett sind die Viagra Boys mit dem Keyboarder Elias Jungqvist.

Der Hingucker (und Hinhörer) bei den Viagra Boys ist aber der Sänger und Texter Sebastian Murphy. Er ist in Kalifornien aufgewachsen, kam im Alter von 17 nach Schweden und lebt mittlerweile als Tätowierer in Stockholm. Unübersehbar sucht er auch selbst regelmäßig Kollegen auf, die mit Nadel und Tinte hantieren, und dennoch scheint er bei der Körperbemalung nicht alles so ernst zu nehmen: Auf seiner Stirn prangt das Wort lös (locker, wackelig).

Die Entertainerqualitäten und das Spiel mit dem Unterschichtsklischee waren bereits auf dem ersten Album »Street Worms« von 2018 zu hören und auch zu sehen: Im Videoclip zur damaligen Single »Sports« inszenierte sich Murphy als pöbelnder Störer auf dem Tennisplatz.

Die Viagra Boys scheinen viel Spaß zu haben bei dem, was sie tun. In Youtube-Clips preist Murphy die Band als CEO des fiktiven Unternehmens Shrimptech Enterprises an. Sehenswert ist der Clip, in dem er die EP »Common Sense« bewirbt.

Murphy sagte kürzlich in einem Interview mit dem NME: »Vieles, was die Viagra Boys ausmacht, entspringt der verrückten Phantasiewelt in meinem Kopf, all die Bilder von Hunden, Shrimps, Spionen und komischem Zeug.« Eine Zeitlang habe er eine Obsession mit Shrimps gehabt, sagt er, daher auch der »Firmen­name« Shrimptech Enterprises. Auf ihrer Website geht der Spaß weiter, ­­da erfüllen die Viagra Boys ihre patriotische Pflicht in der Krise und ­rufen dazu auf, spendabel zu sein: »Support capitalism now, buy merchandise!« – »Enter your credit card details now!«

Neben all diesen Showeinlagen muss sich die Musik der Band nicht verstecken, denn auch die hat es teilweise regelrecht in sich. Während »Ain’t Nice« und »Creatures« noch recht konventionelle Rock-/Wave-/Punk-Stampfnummern auf gutem Niveau sind, kommt das Potential der Band und des Sängers Murphy vielleicht erst in der melancholischen Ballade »Into the Sun« und im ­lebensfroheren »I Feel Alive« so richtig zur Geltung.

In »Into the Sun« singt Murphy im Stil eines Tom Waits, erzählt von seiner gescheiterten Beziehung und dass er das Rumtreibertum aufgegeben habe, um die Liebe zu retten. »I stopped drinking and gambling / to earn back your love«, singt Murphy mit einer Stimme, der man die Whiskeys noch anhört, mit denen sie geölt wurde.

Auch die abschließende Coverversion von »In Spite of Ourselves« des Outsider-Country-Heroen John Prine ist sehr gelungen. Prine starb im Frühjahr 2020 an den Folgen von Covid-19; die Viagra Boys ehren ihn durch ein Duett Murphys mit Amy Taylor von der australischen Band Amyl and the Sniffers.

Fast alle Songs der Viagra Boys erzählen Außenseitergeschichten. »Ein Großteil unseres Materials besteht einfach darin, das Dasein als Versager zu feiern. Wenn wir Emo-Songs machen würden, ­säßen wird da und würden uns der Traurigkeit ergeben. Bei mir ist es so: Ich mache daraus eine Party und gehe weiter zur nächsten Party«, sagte Murphy dem NME.

Musikalisch gibt es aber auch Schwachpunkte, Songs wie das Instrumental »6 Shooter« oder »Secret ­Canine Agent« rauschen eher durch, und teils ähneln sich die Stücke rhythmisch (stets knarziger Bass und treibendes Schlagzeug) zu sehr. Dafür aber ist die Produktion satt und voll. Eine Rock ’n’ Roll-Nummer im Garage-Stil wie »Toad« klingt dringlich und dicht, wie es sein muss, »I Feel Alive« ist hymnischer Rock.

Die Viagra Boys hatten einen erweiterten Betreuerstab zur Verfügung: Matt Sweeney, Pelle Gunnerfeldt sowie Justin und Jeremiah Raisen ­haben mitgewirkt, allesamt renommierte Musikproduzenten. Auch prominente Fans haben sie mit der Platte gewonnen: Sowohl die Sleaford Mods, von der Attitude her eh nicht so weit weg von den Viagra Boys, als auch Iggy Pop outeten sich als Fans.

Ein interessantes Phänomen sind die Viagra Boys allemal – auch wegen ihrer Haltung und ihres Styles. Zum einen kommen sie aus Subkulturen, in denen es nicht selbstverständlich ist, Männlichkeitsideale auf die Schippe zu nehmen – und diese Herren hier machen sich, vom Bandnamen angefangen, über das Dicke-Hose-Gehabe nur allzu gern lustig. Zudem wirkt ihr schmutziger, punkiger Auftritt gerade im, wenigstens dem Klischee nach, stets ordentlichen, höflichen und korrekten Schweden erfrischend.

Wenn man Sebastian Murphy in »Ain’t Nice« in der reinlichen Stockholmer Vorstadt taumeln, torkeln und kotzen sieht, während er gelegentlich ein Kind ­anrempelt oder ihm den Tretroller klaut, ist das natürlich auch ein Statement in einer Zeit, in der Kunst möglichst prüde, brav und politisch korrekt sein soll. Man darf sehr gespannt sein, was aus dem Hause Shrimptech Enterprises in Zukunft noch kommen wird. Wenn man sich die jüngsten Videoclips anschaut, so weiß man: Egal, was es wird, es kann nur gut sein.

Viagra Boys: Welfare Jazz (Year0001/Rough Trade)