Die Kommunebewegung vor der Kommune

Umfassende Selbstorganisation

Bevor in Paris 1871 die Kommune ausgerufen wurde, hatte sich in der Industriestadt Le Creusot eine eigenständige Bewegung entwickelt.

Nahezu alle Analysen der Pariser Kommune von 1871 setzen mit einer Darstellung des 18. März in Paris ein. Allerdings beginnen soziale Bewegungen selten an einem festen Datum, jede Revolution hat ihre spezifische Vorgeschichte.

Im französischen Zweiten Kaiserreich kam es bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu zahlreichen Streiks und Aufständen. 1862 brachen zunächst in den Bergwerken des Départements Pas-de-Calais im Norden des Landes sowie in Marseille, Lyon und Paris Streiks aus. 1864 veranstalteten landesweit vor allem Ar­beiter und Arbeiterinnen in der Textil-, Holz- und Bauindustrie insgesamt 110 Streiks. Sie forderten nicht nur Lohnerhöhungen oder kürzere Arbeitszeiten, sondern brachten eine allgemeine Unzufriedenheit zum Ausdruck.

Das Streikgeschehen war von einer sich intensivierenden proletarischen Kommunikation begleitet, es gab klandestine Treffen sowie Diskussionen in den Kneipen, Familien und Fabriken. Dabei tauchten an unterschiedlichen Orten des gesamten Landes Forderungen nach Autonomie und kommunaler Selbstverwaltung auf, die dank der Selbstorganisation der Menschen an revolutionärer Kraft gewannen.

Schon in der Streikbewegung 1870 versammelten sich Tag für Tag im gesamten Land zahllose Menschen und diskutierten offen über ihre Arbeitsbedingungen, Steuer­probleme und soziale Fragen.

1870 erreichte die Streikbewegung mit 116 Arbeitskämpfen, an denen über 85 000 Arbeiterinnen und Arbeiter teilnahmen, ihren Höhepunkt. Zeitgenossen wie der Anarchist und spätere Pariser Kommunarde Gustave Lefrançais berichteten davon, wie sich Tag für Tag im gesamten Land zahllose Menschen versammelten und offen über ihre Arbeitsbedingungen, Steuerprobleme und soziale Fragen diskutierten. Diese Streikbewegung war eine wesentliche Grundlage der Kommunebewegung.

1870/1871 riefen einfache Arbeiterinnen und Handwerker, meist zusammen mit sozialistischen Revolutionärinnen, in zahlreichen Städten Frankreichs autonome Kommunen aus. Von der Geschichtswissenschaft, aber auch von zahlreichen Linken wurden diese Bewegungen in der Provinz lange lediglich als Reaktion auf die Kämpfe in Paris verstanden, doch kam es bereits vor der Proklamation der Pariser Kommune zu vielen revolutionären Aktionen. Trotz der Kürze ihrer Existenz vollzogen diese Kommunen eine Reihe wichtiger revolutionärer Maßnahmen, darunter die Neubesetzung des Polizei- und Beamtenapparats, die Befreiung politischer Gefangener, die Einführ­ung einer nichtreligiösen Bildung oder die Besteuerung der Reichen.

So auch in Le Creusot, einer Stadt zwischen Lyon und Paris. Noch in den ­dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts war Le Creusot ein kleines Städtchen gewesen, in dem knapp 3 000 Menschen lebten. Dort hatte 1836 der Industrielle Eugène Schneider das Stahlwerk Schneider-Creusot gegründet. In dem für damalige Verhältnisse ungeheuer großen Fabrikkomplex wurden Schienen, Eisenbahnbrücken, Kanonenboote und Panzerungen hergestellt. Der Unternehmer war ein Freund von Kaiser Napoleon III. und wurde 1867 sogar zum Präsidenten der Gesetzgebenden Kammer in Paris berufen. Von 1866 bis 1870 war er zudem Bürgermeister von Le Creusot. Unternehmerische und Staatsmacht gingen eine nie zuvor dagewesene Verbindung ein. 1870 war die Fabrik in Größe und Technologie führend in Europa. Die Stadt hatte mittlerweile 25 000 Einwohner, von denen etwa 10 000 direkt in der Fabrik beschäftigt waren.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter in Le Creusot hatten bereits in den sechziger Jahren eine Hilfskasse gegründet. In dieser konnten sich die Mitglieder durch einen monatlichen Beitrag gegen Erwerbsunfähigkeit, Erwerbslosigkeit oder Krankheiten selbst versichern. Doch stand diese Kasse unter Oberaufsicht der Firmenleitung.

Im Dezember 1869 forderte die Belegschaft, ihre Hilfskasse in Eigenregie zu verwalten. Diese war auf knapp eine halbe Million Francs angewachsen, doch verwehrte die Firmenleitung älteren Beschäftigten Rentenleistungen zumeist und das Geld blieb auf den Konten liegen. Nach mehreren öffentlichen Versammlungen wählten die Arbeiter am 17. Januar 1870 ein Komitee für die Kasse, das durch die Kontrolle der riesigen Geldmenge praktisch zur bestimmenden Kraft in der Stadt wurde. Es hatte nun Einfluss auf alle wesentlichen Belange in Le Creusot. Dieses Komitee leitete der junge Einrichter Adolphe Assi.

Doch bereits zwei Tage später entließ die Direktion Assi und das Komitee wurde aufgelöst. Daraufhin legten die Arbeiter und Arbeiterinnen die Arbeit nieder und hielten die Maschinen an. Auf Bitten Schneiders marschierten am 21. Januar über 3 000 Soldaten in Le Creusot ein, um den Streik niederzuschlagen. Öffentliche Versammlungen wurden verboten, Zusammenkünfte konnten nur noch heimlich stattfinden.

In einer solchen klandestinen Veranstaltung rief Assi eine »industrielle Kommune« als Teil der mittlerweile landesweit verbreiteten Kommunebewegung aus. Diese sollte alle fabrikinternen, ökonomischen und städtisch-­sozialen Fragen behandeln. Dabei ging es außer um die Verbesserung der konkreten Arbeitsbedingungen auch um Fragen nach einem guten Leben der Beschäftigten sowie die Gestaltung der Stadtgesellschaft, die Organisation von Schule, Wohnungsbau und die Enteignung von Kirchenbesitz nach fortschrittlichen Prinzipien. Die industrielle Kommune, wie sie in Le Creusot konzipiert wurde, beanspruchte damit umfangreichere Kompetenzen als alle anderen landesweit unter dem Kommunebegriff entwickelten Projekte. Sie wollte durch neue Institutionen wie Räte, welche sowohl die Belange der Stadt als auch der Fabrik bestimmen sollten, sowie Komitees für die eigene Verteidigung die gesamte Stadt fortschrittlich gestalten.

Diesem Selbstverständnis der industriellen Kommune als Selbstverwaltung der Arbeiterinnen im Gesamtkomplex von Unternehmen und Stadt maß der marxistische Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre im zwanzigsten Jahrhundert zu Recht große Bedeutung bei. Es war ein in der gesamten Kommunebewegung einmaliges Projekt.

Trotz der militärischen Intervention legten in den folgenden Wochen weitere Streiks die Minen der Stadt lahm. Streikbrecher wurden vielfach angegriffen. Die streikenden Männer und Frauen blockierten die Einfahrt in die Gruben und bewarfen die Ordnungskräfte mit Steinen. Im April 1870 waren alle Minen der Stadt im Streik und das Stahlwerk lahmgelegt.

Der Bürgermeister und Firmenchef Eugène Schneider lehnte, gestützt auf die Macht des Militärs, alle Forderungen der Streikenden ab, die Repression nahm zu. Mehrere Dutzend streikende Arbeiter kamen ins Gefängnis, Hunderte wurden entlassen. Auch Assi wurde festgenommen und nach Paris überstellt. Die industrielle Kommune war gescheitert.

Währenddessen tobte in Frankreich noch der deutsch-französische Krieg. Kaiser Napoleon III. geriet Anfang September 1870 in deutsche Gefangenschaft. Landesweit kam es zu Demon­stra­tionen und Aufständen. Am 4. September bildete sich in Paris eine provisorische nationale Regierung, die die Republik ausrief und den Krieg fortführte. Auch in Le Creusot strömte die Menge auf die Straßen und formierte sich spontan zu einer wütenden Demonstration, die vor das Wohnhaus Schneiders zog. Dabei riefen die Demonstrierenden: »Tod dem Ausbeuter der Arbeiter!« Tags darauf floh Schneider ins englische Exil.

Im von deutschen Truppen belagerten Paris spitzte sich die Lage zu, zahlreiche Revolutionäre kamen in die Metropole. Assi war nach dem Fall des Kaiserreichs aus dem Gefängnis ent­lassen worden und nach Paris gegangen. Er wurde zu einem Kommandeur der revolutionären Nationalgarde gewählt. Am 18. März, dem Tag des Aufstands in der Stadt, gab Assi den Befehl zum Sturm auf das Pariser Rathaus. Am 26. März 1871 wurde er mit 78 Prozent der Stimmen in den Rat der Pariser Kommune gewählt. Dieser verwaltete die Stadt nach revolutionären Prinzipien. Assi brachte seine Vorstellung der industriellen Kommune als Selbstverwaltung der Arbeiterinnen und Arbei­ter in die Diskussion des Pariser Kommunerats ein.

Mit dem Aufstand vom 18. März in Paris schöpften auch die Kommunarden in Le Creusot neuen Mut und riefen eine neue Kommune aus. Aber auch diese wurde nach kurzer Zeit militärisch niedergeschlagen.

Am Beispiel der Kommune von Le Creusot wird deutlich, wie umfassend die Kommunebewegung in den Jahren 1870 und 1871 war. Es wurden nicht nur neue städtische Institutionen geschaffen. Aus den Nachbarschaften, Stadtteilen und Werkstätten heraus verwirklichten die Menschen neue Formen der Selbstverwaltung. Innerbetriebliche Forderungen wurden mit kom­munalen Fragen verbunden. Den neuen, besonders in Le Creusot scharf hervortretenden Machtansprüchen ­von Zentralstaat und gigantischen Unternehmen hielt die industrielle Kommune einen Versuch umfassender dezentraler Selbstorganisation entgegen.