08.06.2021
Julian Radlmaier, Regisseur von »Blutsauger«, im Gespräch über politische Filme

»Fiktion muss auch zu ihrem Recht kommen«

Seine Weltpremiere feierte »Blutsauger«, der zweite Langspielfilm von Julian Radlmaier, im Frühling auf der Berlinale. Nun wird der Film auch auf dem aufgrund der Covid-19-Pandemie verschobenen Publikumsfestival der Berlinale gezeigt. Mit der »Jungle World« sprach Radlmaier über die antisemitischen Implikationen seines Filmtitels, über sogenannte professionelle und Laienschauspieler und darüber, ob ein guter Film politisch sein muss.

Der Titel ihres Films »Blutsauger« spielt auf ein Zitat von Karl Marx an: »Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.« Kam ihnen die Idee zum Film wirklich bei der Lektüre des »Kapitals«?
Meine Ideen entstehen oft aus komischen Kreuz- und Querverbindungen. Auch diesmal war es ein Schneeballeffekt, ausgehend von Marx, dessen Mehrwerttheorie mich immer am meisten interessierte. Ursprünglich wollte ich gemeinsam mit einem Freund einen ganz anderen Film drehen. In seiner Küche lasen wir dann das »Kapital«, mit einigen Leuten, die später im Film auch als Teilnehmer eines Marx-Lesekreises zu sehen sind. In einer Szene diskutiert die Gruppe, ob der Begriff des Vampirs im ­»Kapital« wörtlich zu nehmen ist. Die Idee hinter »Blutsauger« war letztlich, einen »marxistischen« Film insofern zu drehen, als dass wir die Marx’schen Metaphern wortgetreu umsetzen.

»Man kann mit diskursiven Elementen und Brecht’scher Verfremdung sicher auch einen ziemlich doofen Film machen. Und ein Film, der das überhaupt nicht macht, kann für mich ästhetisch und politisch viel interessanter sein.«

Entsprechend sind die Vampire im Film die Kapitalisten, die die ­Arbeiter wortwörtlich aussaugen. Hatten Sie Sorge, dass der Topos vom Blutsauger als antisemitisch verstanden werden könnte?
Es gab natürlich die große Angst, dass es als Film über den »jüdischen Kapitalisten« oder die »jüdische Weltverschwörung« angesehen werden könnte. Dem wollten wir auf verschiedenen Ebenen entgegenwirken. So sagen die Vampire selbst an­tisemitische Dinge. An einer Stelle werden antisemitische Karikaturen gezeigt – das mögliche Missverständnis taucht also ganz explizit auf. ­Zudem bezeichnet der Vampirismus im Film eine Position in der gesellschaftlichen Struktur. Vampire sind keine eigene Wesensart; es handelt sich auch nicht um eine Krankheit, die sich überträgt. Man wird Vampir, indem man Kapital erwirbt und in diese Struktur hineingerät.

Zentrale Vertreterin der Vampire ist die Hauptfigur Octavia. Die protestantische Fabrikantentochter lebt als Besitzerin einer Kosmetikfabrik in einem prächtigen Schloss an der Ostsee, genießt das Leben und saugt ihre Angestellten aus. Zugleich liebäugelt sie mit sozialistischen Ideen. Steht sie für einen bestimmten Typus der herrschenden Klasse?
Sie verkörpert ganz explizit die Metapher von Marx. Sie lebt von der Arbeit anderer Leute, die ihr ökonomisches Kapital schaffen. Die Mehrarbeit ihrer Arbeiter ermöglicht es ihr, mehr Zeit zu haben; die Care-Arbeit ihres persönlichen Assistenten, sich nur noch mit schönen Dingen zu ­beschäftigen. Freie Zeit schafft kulturelles Kapital, das wiederum ihre ökonomische und gesellschaftliche Position naturalisiert. Sie scheint mehr zu wissen und feinsinniger zu sein – und in allen Bereichen überlegen. Das ist ihre Performance. Zugleich gibt es bei ihr diesen koketten Flirt mit dem Sozialismus. Dahinter steht die Idee: Eigentlich bin ich ja selbst nicht so glücklich in diesem Ausbeutungsverhältnis. Übertragen auf den Vampirismus sagt sie an einer Stelle, dass man dann vielleicht nicht immer »so einen Durst« hätte.

Braucht es derlei ambivalente Charaktere, wenn man das Kapitalverhältnis fassen will?
Die Gefahr besteht, dass man Figuren erschafft, die nur Typus sind und allein eine abstrakte Idee repräsentieren. Oft fällt diese dann mit all ihren Schwachstellen und aufgrund fehlender Präzision in sich zusammen. Diesen Widerspruch greift »Blutsauger« auf: Für den Film habe ich versucht, bestimmte politische Abstraktionen, soziologische Typisierungen und historische Komponenten zusammenzubringen. Aber: Eine Figur muss mehr sein als das, kann nicht darauf reduziert werden. Fiktion muss auch zu ihrem Recht kommen.

Geschieht das in ihren Filmen auch dadurch, dass die Rollen sowohl mit Laien als auch profes­sionellen Schauspielern besetzt sind?
Das Professionelle ist ja oft eine Floskel. Es werden Stereotype bedient, Herangehensweisen einfach abgespult. Mir geht es darum, nicht am Fetisch des Professionellen zu kleben, dass immer alle die anerkannten Topkräfte ihres Fachs sein müssen. Das produziert gewisse Störungen und Reibungen. Die Kontraste zwischen den Darstellern finde ich ­ästhetisch und politisch interessant. Kommen alle möglichen Leute vor, hat das auch ein demokratisches, utopisches Moment. Oft schaue ich in meinem Umfeld, mit wem ich Lust habe zu drehen, ohne Casting. Zumal man anders miteinander umgeht: Freunde sind nicht an Karriere inte­ressiert, behandelt man sie also schlecht, dann kommen die nicht wieder.

Was machen die unterschiedlichen Herangehensweisen ihrer Darsteller mit den Figuren im Film?
Im Arbeitsprozess merkt man: Manche Rollen sollen einen sozialen Gestus repräsentieren. Im »Blutsauger« liefert die Profischauspielerin Lilith Stangenberg als großbürgerliche ­Octavia auch eine bewusstere Performance ab. Die Theaterschauspieler sprechen anders, besitzen rhetorische Präzision, können sich gut den geschulten Habitus der Macht aneignen. Demgegenüber verkörpert etwa Ale­xandre Koberidze – als Laie – einen falschen Baron, der eigentlich ein ­gescheiterter Schauspieler ist, der sich nach Hollywood durchschlagen will. Er spielt diesen proletarischen Hochstapler nicht qualitativ schlechter. Aber er kann, passenderweise, den Klassengestus nicht so spielen wie die anderen. Aber die spezifischen Ausdrucksqualitäten, die er mitbringt, könnte wiederum ein Schauspieler kaum herstellen.

Laut Handlung musste der Fake-Baron aus der jungen Sowjetunion fliehen, nachdem er als Trotzki-Darsteller aus einem Film von Sergej Eisenstein herausgeschnitten wurde. Diese Anekdote beruht auf wahren Ereignissen. Wie entstand daraus eine Figur?
Ursprünglich sollte im Eisenstein-Film »Oktober« von 1928 auch Trotzki verkörpert werden, seine Figur wurde dann aber auf Geheiß Stalins aus dem Werk entfernt. Zufällig entdeckte ich dazu in einer Eisenstein-Biographie die extrem schräge Anekdote, dass der Laiendarsteller, der Trotzki damals gespielt hatte, im wahren Leben »eine Art Zahnarzt« gewesen sei. Darauf basierte die Idee zu der Figur. Beeinflusst wurde ich auch von einem Roman Ilja Ehrenburgs aus den zwanziger Jahren namens »Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz«. Darin geht es um einen jüdischen Herrenschneider, der etwas Falsches sagt und daher die Sowjetunion verlassen muss. Er wird dann, in der Tradition der Schelmen- und Hochstaplergeschichten, unter anderem in Berlin Stummfilmdarsteller in einer Art Fritz-Lang-Parodie.

Statt wie in Vampirfilmen jener Zeit gibt es im »Blutsauger« strahlenden Sonnenschein zu sehen, außerdem moderne Motorräder und Kitesurfer. Hatten Sie dennoch Sorge, die derzeit beliebte Zwanziger-Jahre-Ästhetik zu bedienen?
Anfangs stellte ich mir die Frage, ob ich das wirklich machen will. Gerade dieser Fetisch um das verruchte Berlin der Zwanziger wurde in letzter Zeit extrem übermäßig bedient. Das interessierte mich überhaupt nicht. Davon wollte ich den Film relativ frei halten. Gleichzeitig stellen sich eine Reihe erinnerungspolitischer Fragen, wenn man einen Film über die zwanziger Jahre in Deutschland dreht: Braucht es immer gleich eine Großtheorie der deutschen Geschichte? »Blutsauger« konzentriert sich eher auf die strukturellen Ansätze aus Marx’ »Kapital«, dennoch ist die reale Geschichte immer präsent. Dahingehend fand ich die Zwanziger enorm aufschlussreich: Mich interessierte einerseits der Zusammenhang von ökonomischer Krise und Faschismus, andererseits der erste Moment der Enttäuschung über den real existierenden Sozialismus; die postrevolutionäre Ernüchterung, die sich immer und immer wiederholt.

Sie beleuchten das Verhältnis von marxistischer Theorie, kapitalistischen Arbeitsverhältnissen und realer sozialistischer Geschichte oft in seinen absurden Momenten. Im Berlinale-Text ist von »ironischem Materialismus« die Rede. Ist diese Widersprüchlichkeit mit Humor besser zu greifen?
Der Humor erlaubt es, eine Distanz zu schaffen. Bezieht man sich humoristisch auf etwas, baut man ein subjektives Verhältnis auf. Es ermöglicht mir, Schwachstellen einer Theorie aufzuzeigen, die dann entstehen, wenn man sie auf das Leben übertragen möchte. Die Bruchstellen werden sichtbar. Für mich hat das ein antiautoritäres Moment: Auch in der Möglichkeit, sich von einer als negativ gezeichneten Realität nicht erdrücken zu lassen, sondern ihr eine geistige Widerstandskraft entgegenzusetzen.

Schafft derlei spielerische Kritik eine neue Perspektive auf die kommunistische Idee?

Sie ermöglicht sicher einen ersten Zugang, und zwar auch mir selbst, denn ich bin ja kein Propagandist, sondern stelle Fragen. Es fällt die Blockade weg, die durch einen bestimmten Theoriesprech entsteht und oft noch immer mit autoritären K-Gruppen assoziiert wird. So entsteht auch ein anderer Blick auf Marx und seine fundamental egalitäre ­Dimension. Wenn ich auf einer spielerischen Ebene operiere, wird auch die Theorie-Besserwisserei ausgehebelt. Die Probleme knüpfen dann wieder an Alltagserfahrung an und sind auf ihren Kern reduziert: Für wen arbeitet man? In »Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes« ging es viel um die Frage der Arbeitsteilung: Wer macht welche Arbeit? Vielleicht geht es darum, den Bezug zum Leben jedes Einzelnen herzustellen und mit einer bestimmten Idee des Kommunismus zu verbinden, ohne gleich mit Klassenkampfrhetorik zu kommen.

Ihre Filme kreisen ziemlich ausdrücklich um die Frage nach der befreiten Gesellschaft. Kann man über 30 Jahre nach dem Ende des Ostblocks heute wieder kommunistische Filme drehen?
Zumindest kann man wieder darüber nachdenken, was »Kommunismus« noch sein könnte. Feministische oder antirassistische Diskurse öffnen sich für die kommunistische Idee und umgekehrt, ein Beispiel sind die Texte von Bini Adamczak. Sie zeigt, dass Kommunismus die bessere gesellschaftliche Organisationsform sein könnte. Dass er nicht das sein muss, was man mit der historischen Erfahrung assoziiert. Und sie leugnet dennoch nicht den Schrecken des autoritären Sozialismus, im Gegenteil. An solche Diskurse versuche ich anzuknüpfen.

Sorgen Sie sich darum, dass sich der Markt ein kommunistisches Märchen oder eine marxistische Vampirkomödie als charmante Filmchen einverleiben könnte?
Die Gefahr besteht darin, dass die Theorie zum Gimmick wird. Auf der Vermarktungsebene des »Blutsaugers«, etwa im Trailer, ist das Gewicht schon dahin verschoben. Die Auseinandersetzung im Film ist meiner Ansicht nach aber ernsthaft genug, ­damit das nicht passiert. Der riesige Widerspruch ist alt: Um einen Film zu machen und dabei alle Leute okay zu bezahlen, braucht man ein Budget. Dieses Budget ist an das Versprechen geknüpft, dass man eine kommerzielle Relevanz hat. Trotzdem muss ich aufpassen, dass das nicht zum Genre gerät, das man dann ­bedient. Das Gute ist: Die Nachfrage nach diesem Genre ist nicht besonders groß.

Immerhin wird Ihr Name in einem Atemzug mit anderen Filmemachern genannt, Max Linz etwa. Zeit Online erschuf gar den Ausdruck »neue deutsche Diskurskomödie«. Finden Sie sich da wieder?
Es gibt sicher einige ästhetische ­Verwandtschaften. Mit Max Linz etwa verbindet mich auch ein gewisser Werdegang, wir haben zusammen studiert. Doch es existiert keine Gruppe. Ich möchte auch keine Ästhetik proklamieren, zumal die Filme ganz unterschiedliche Perspektiven einnehmen – und es andere Filmemacher gibt, denen ich mich sehr nahe fühle, die aber gar nicht zu dieser Zuschreibung passen, etwa Alexandre Koberidze. Andererseits gibt es vielleicht ein verbindendes Element, das mit der Generation zu tun hat: Theorieinteressiertes Kino war in den siebziger und achtziger Jahren in Deutschland noch relevant. Danach war es völlig verpönt, fast verboten. Diskurse durften in Filmen nicht mehr stattfinden. Das hat ein paar Leute genervt – auch aufgrund der Erfahrung, die wir an der Filmhochschule gemacht haben.

Sie haben an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin ­studiert, die von zahlreichen kritischen Filmemacherinnen und Filmemachern besucht wurde.
Die DFFB hat eigentlich eine große Tradition kritischer, diskursiver Filme – ich denke an Harun Farocki oder Hartmut Bitomsky. Bisweilen entstand der Eindruck, dass dies vergessen und stattdessen für die deutsche Filmwirtschaft ausgebildet werden sollte. Insofern erschien das manchen als attraktive Gegenästhetik, die man wiederbeleben konnte. Ich möchte aber nicht sagen, dies sei der Königsweg. Man kann mit diskursiven Elementen und Brecht’scher Verfremdung sicher auch einen ziemlich doofen Film machen. Und ein Film, der das überhaupt nicht macht, kann für mich ästhetisch und politisch viel interessanter sein.

Politische Fragen behandeln Sie in Ihren Filmen einerseits essayistisch, andererseits auch in der Tradition des fiktionalen Kinos, etwa mit Anleihen an den italienischen Neorealismus. Welcher Ansatz tat es Ihnen zuerst an, was brachte Sie zum Film?
Der Wunsch, Filme zu machen, entsprang einer Art libidinöser Beziehung zum Kino. Das Diskursive und Politische kam erst später hinzu. Es war also nicht so, dass ich mir ein Vehikel für meine Ideen suchte – der ­affektive Bezug zum Film bestand schon. Mich beeindruckten die Filme von Godard oder Alexander Kluge, das Collagenhafte und die Tatsache, dass alles Mögliche in einen Film ­integriert werden kann. Stark beeinflusst wurde ich von Straub-Huillet und ihrem Umgang mit Laien und Sprache. Wichtig sind für mich aber auch Jean Renoir und die Italiener, etwa Pasolini, weil mich nicht nur das Essayistische, sondern auch die Fiktion interessiert – und daran wiederum der Punkt, an dem alles auseinanderzufallen droht. In den sechziger Jahren kam die Vorstellung auf, dass fiktionale Geschichten das Alte seien, das man zerstören müsse. Je mehr ich mich mit der Filmgeschichte beschäftigte, merkte ich: Mit der Art, wie Fiktionen und Figuren kon­struiert werden, können oft differenziertere Aussagen getroffen werden. Das möchte ich nicht aufgeben.

Blutsauger. (D 2021). Buch und Regie: ­Julian Radlmaier. Darsteller: Alexandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Alexander Herbst, Corinna Harfouch
Der Film wird im Rahmen der Berlinale am 17. und 18. Juni gezeigt.