Ein Gespräch mit Elisabeth Joris über Feminismus in der Schweiz

»Die Westschweiz ist tendenziell progressiver«

Von Wahlrecht bis Frauenstreik. Die Schweizer Historikerin Elisabeth Joris im Gespräch über Frauenbewegung und Feminismus in der Schweiz.
Interview Von

Sie sind 1946 geboren. Erst ab 1971, da waren Sie schon einige Jahre erwachsen, durften Frauen in der Schweiz wählen; im Kanton Appenzell Innerrhoden sogar erst ab 1990. Woran lag es, dass die Schweiz in puncto Gleichberechtigung so hinterherhinkte?

Ein Faktor, der immer hervorgehoben wird, ist, dass Verfassungsänderungen hier eine Mehrheit der Stimmbevölkerung – damals also der Männer – brauchen sowie eine Mehrheit der sogenannten Ständestimmen, das heißt eine Mehrheit der Kantone. Die Frauen mussten das Frauenstimmrecht also mit Zustimmung der Männer erkämpfen, und es ist schwierig, jemanden, der Privilegien hat, dazu zu bringen, diese aufzugeben. In anderen Ländern gab es vom Parlament und der Regierung Initiativen, dass man den Frauen das Wahlrecht gibt. In der Schweiz gab es 1959 und 1971 Abstimmungen in der Eidgenossenschaft, beide Male auf Druck von den Frauen auf der Straße. 1959 lehnte eine Mehrheit der Stände und der Stimmbevölkerung ab; außer in drei Kantonen in der französischsprachigen Westschweiz, in Genf, Waadt und Neuenburg, in denen dann auf kantonaler und kommunaler Ebene das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. 1971 stimmte immer noch in acht Kantonen eine Mehrheit der Männer dagegen.

»Seit 1993 kommt es nicht mehr in die Tüte, dass in der Schweiz eine Re­gierung ohne Frauen gebildet wird.«

Welche weiteren Faktoren gab es?

Das Bundesgericht hat bis 1971 bei der Interpretation des Verfassungstexts nicht im Sinne der Frauen geurteilt. Frauen haben seit Beginn des 20. Jahrhunderts gesagt, in der Verfassung heiße es: »Alle Schweizer sind gleich vor dem Gesetz.« Schweizer, im Sinne des generischen Maskulinums, schließt ja Frauen nicht aus. Den ersten Bundesgerichtsentscheid diesbezüglich gab es schon in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die erste Schweizer habilitierte Juristin, Emilie Kempin-Spyri, die Nichte der Schriftstellerin Johanna Spyri, hatte geklagt, weil sie nicht das Anwaltspatent erhalten konnte, das nur bekam, wer das volle Wahl- und Stimmrecht hatte. Es wurde ein paar Mal in dieser Frage das Bundesgericht angerufen, auch noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts – das Gericht lehnte immer ab. Es war kein politischer Wille der Männer da, etwas an dieser Situation zu ändern. Nicht nur bei Abstimmungen, sondern auch in den Institutionen.

An welchen historischen Besonderheiten lag das?

Dass die Männer sich das erlauben konnten in der Schweiz, hängt auch damit zusammen, dass es im Gegensatz zu Deutschland, Russland oder Österreich nach dem Ersten Weltkrieg keinen Bruch gegeben hat. Man musste ja in Deutschland nach dem Ende des Kaiserreichs ei­ne neue Verfassung schaffen. Bei den Siegern gab es 1918 keinen Bruch. Im Vereinigten Königreich erhielten Frauen erst 1928 auf Druck der Suffragetten das volle Wahlrecht, in Frankreich und in Italien erst 1944 beziehungsweise 1946. Die Schweiz war weder vom Ersten noch vom Zweiten Weltkrieg tangiert, sie hat sich aufgrund dieser Geschichte als Sonderfall in Europa definiert, und zwar nicht in dem Sinne, dass die Schweizer dankbar sind, verschont geblieben zu sein. In den Fünfzigern wurde das so umgedeutet, dass das mit dem politischen System zu tun habe, und dazu gehörte eben auch, dass die Frauen kein Stimmrecht haben.
Dazu kommt eine lange republikanische Tradition, in der Politik nur von Männergremien gemacht wurde. Es gab keine Kaiserin wie etwa in Österreich, keine Fürstinnen. Es war eine lange Tradition des Ausschlusses, bis in die Siebziger wurde die Politik zudem in den Hinterzimmern der Gastwirtschaft, im Säli, gemacht.

Dort hatten Frauen keinen Zutritt?

Die Abstimmungsdiskussionen waren immer am Sonntag. Die Frauen mussten nach Hause und kochen, die Männer blieben und diskutierten bei Wein die Politik.

Gibt es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen der Schweiz, wenn es um Gleichberechtigung geht?

Ja, denn die drei französischsprachigen Kantone sind viel stärker an Frankreich orientiert. Nach diesen war dann das Tessin der erste Kanton, der das Frauenwahlrecht einführte, und dann Basel-Stadt direkt an der Grenze zu Deutschland. Die Westschweiz ist tendenziell progressiver, das ist bis heute so. Je zentraler und östlicher, desto konservativer.

1991 gab es einen ersten Frauen­streik, an dem sich eine halbe Million Menschen beteiligten. 2019 gab es dann den zweiten mit 100 000 Beteiligten. Wie kam es 1991 dazu?

1991 war der Aufhänger das 700jährige Jubiläum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, des Rütli-Schwurs. Da feierte man die angeblich älteste Demokratie der Welt, und das war zufällig im selben Jahr, in dem es 20 Jahre Frauenstimmrecht gab und zehn Jahre Gleichstellung in der Verfassung. Die Abstimmung zu Letzterer war an einem 14. Juni gewonnen worden, daher wählte man das Datum für den Streik. Bei dem ging es primär um die Umsetzung des Verfassungsartikels, die typischen Gleichstellungsfragen. Zugleich waren Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger die Frauen in den Pflegeberufen erstmals aktiv geworden, hatten verschie­dene Aktionsformen in den Spitälern ausprobiert, nicht den klassischen Streik, sondern Bummelstreik, auf die Straße gehen, Transparente aus den Fenstern hän­gen. Diese Formen wurden dann beim Frauenstreik übernommen. Überall in der Schweiz gingen junge, alte, in verschiedenen Branchen tätige und erstmals auch Hausfrauen auf die Straße. Es gab zwar eine Koordination über die Gewerkschaft, aber man wusste am Morgen nicht, wie viele kommen, weil alles über selbstorganisierte autonome Gruppen lief.

Was wurde denn seit 1991 erreicht?

Im Gegensatz zum restlichen Europa, wo es in den neunziger Jahren unter dem Vorzeichen des Neoliberalismus hieß: Deregulierung, also weniger Staat, wurde in diesen Jahren in der Schweiz reguliert, indem eben auch ein Gleichstellungsgesetz durchkam, das zum Beispiel sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ahndete. Ebenfalls dank der Mobilisierung konnte durchgesetzt werden, dass 1993 eine Frau in den Bundesrat, die Regierung, gewählt wird. Es wurde zwar zunächst ein Mann gewählt, aber es gab so große Proteste, dass dann eine Frau das Innendepartement bekam.

Wer war das?

Ruth Dreifuss von der Sozialdemokratischen Partei, eine ehemalige Gewerkschaftssekretärin, das erste jüdische Mitglied der Regierung und das erste mit einem feministischen Hintergrund. Sie wurde dann gewählt, aber nur, weil diese Frauennetzwerke bereits bestanden und es Druck von der Straße gab.

Seitdem kommt es nicht mehr in die Tüte, dass in der Schweiz eine Regierung ohne Frauen gebildet wird. Was konnte außerdem seit 1991 erreicht werden?

Neben dem Gleichstellungsgesetz (das 1996 in Kraft trat, Anm. d. Red.) waren das mehr bezahlter Mutterschaftsurlaub – vorher acht Wochen, nun 14 –, die Legalisierung der Abtreibung, dass Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand gilt und dass häusliche Gewalt und die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit zu politischen Fragen wurden. Und schließlich, dass bei der Altersrente auch die unbezahlte Betreuungsarbeit berücksichtigt wird. Die Mitfinanzierung der Kinderkrippen war dann erst in den zehner Jahren ein Thema.

Die Kinderbetreuung war auch bei den Frauenstreiks in jüngerer Zeit ein wichtiges Thema. Sie ist in der Schweiz teils sehr teuer. Was bedeutet das für Alleinerziehende und Geringverdienende?

Je nach Einkommenshöhe erhält man Unterstützung. Aber die Betreuung ist keine öffentliche Aufgabe. Da sieht man große Unterschiede: In der Südschweiz gibt es weniger Angebote, aber diese sind günstig. In der Westschweiz ist es viel selbstverständlicher, dass der Staat, die Öffentlichkeit, Kosten übernimmt. In der deutschsprachigen Schweiz ist Kinderbetreuung ex­trem teuer, weil viele die Kostenübernahme immer noch ablehnen; die sagen, das sei Privatsache.

Wie intersektional ist die Schweizer Frauenbewegung?

In den Frauenstreikkomitees im urbanen Umfeld, die zum Teil einen Bezug zur Universität haben, war Intersek­tionalität beim Frauenstreik 2019 sehr präsent, das war 1991 noch kein Thema. In ländlichen Gebieten geht es viel eher um die generelle Gleichstellungsfrage, wie 1991.

Wie stark ist der Antifeminismus von rechts in der Schweiz?

Der beginnt sich jetzt bezüglich der Gender-Frage stark zu artikulieren, bis hinein in die Neue Zürcher Zeitung. Er hat verschiedene Färbungen, aber der Antifeminismus von rechts ist immer stark gewesen, auch in der Schweizer Volkspartei (SVP). Traditionelle Milieus gibt es immer noch, dazu kommen junge Rechte, aber die rechtsextreme Szene ist nicht so stark wie in Deutschland.