Ist der Erfolg der FDP unter Erstwählern Grund für Pessimismus?

Erste Wahl liberal

Die FDP ­erhielt bei der Bundestagswahl 23 Prozent der Stimmen unter Erstwählerinnen und Erstwählern, nur die Grünen kamen auf einen genau so großen Stimmenanteil. Ist die Beliebtheit der Liberalen bei jungen Leuten Anlass für Pessimismus?

Liberale sind auch nur dornige Grüne

Die FDP war für junge Wähler die liberale Alternative zur CDU. Ihr Erfolg ist kein Grund zum Pessimismus.

Von Paul Simon

Es war eine der Überraschungen der Bundestagswahl: Anstatt dass die Stimmen der »Generation Greta« vor allem den Grünen zugeflogen wären, stimmte Umfragen von Infratest Dimap zufolge 23 Prozent für die FDP; beide Parteien liegen gleichauf.
Wirtschaftsliberale Journalisten freuten sich. Das Ergebnis mache Hoffnung, schrieb unter der vermutlich nicht satirisch gemeinten Überschrift »Grüne Propaganda lässt die unangepasste Jugend unbeeindruckt« Ulf Poschardt, der Chefredakteur von Welt /N24. Linke und Linksliberale zeigten sich dagegen empört. Ein Lehrer habe seine Kollegen gefragt, was man den Leuten im Politikunterricht nur beigebracht habe, schrieb die Taz über die Reaktionen in sozialen Medien. Andere hatten dort schnell den Schuldigen ausgemacht: Der Gangsta-Rap mit seinen Liedern über Statussymbole und den harten struggle auf dem Weg nach oben habe, so klagten einige sinngemäß, die Jugend neoliberal verdorben.

Es gibt konkrete politische Anliegen, die vor allem junge Menschen dazu verleiten könnten, für die FDP zu stimmen.

Dass so viele junge Leute für die FDP stimmten, ist allerdings kein Grund zum Entsetzen, und auch nicht zum Pessimismus. Es hilft, die Ergebnisse mit denen der Bundestagswahl 2017 zu vergleichen. Bei den damaligen Erstwählern kam die FDP auf zwölf Prozent der Stimmen, die Unionsparteien aber noch auf 24. Damals waren die Zeitungen voll mit Artikeln über das Stabilitätsbedürfnis der Jugend. Der jetzige FDP-Erfolg bei jungen Wählern war also vermutlich zu einem großen Teil der Ablehnung der Union geschuldet, die dieses mal nur zehn Prozent der Erstwählerstimmen erhielt.

Die FDP sei, darauf wiesen Journalisten hin, auf Internetplattformen wie Tiktok, die junge Erwachsenen nutzen, sehr präsent gewesen und habe dank Internetsubkulturen wie Gamern, dem Hype um Kryptowährungen und iro­nischen neoliberalen Meme-Seiten ein empfängliches Publikum unter internetaffinen Jugendlichen vorgefunden. Bevor man aber in kulturpessimistische Klagen darüber verfällt, dass das Internet und die dort von Influencern propagierte Konsumkultur die Jugend zu neoliberalen Subjekten forme, sollte man bedenken, dass es konkrete politische Anliegen gibt, die vor allem junge Menschen dazu verleiten könnten, für die FDP zu stimmen. Unter anderem will die FDP Cannabis legalisieren, das Wahlalter auf 16 senken und in die Digitalisierung und andere sogenannte Zukunftstechnologien investieren.

In der Einwanderungspolitik klingt die FDP zumindest liberal, solange man nicht auf die Details achtet, etwa die Erschwerung des Familiennachzugs für Flüchtlinge. Dass die FDP durchaus am rechten Rand mit der AfD um Stimmen konkurriert, dürften vielen jungen Menschen, falls sie nicht zufällig aufmerksam die Thüringer Landespolitik verfolgen, kaum bewusst sein, denn bei dieser Bundestagswahl präsentierte sie sich als zukunftsorientierte Bürgerrechtspartei und möglicher Koalitionspartner der Grünen.

Sicherlich wird es unter jungen FDP-Wählern auch solche geben, die, wie einst der heutige FDP-Vorsitzende Christian Lindner, bereits mit 18 Jahren als Unternehmensberater tätig sind, Probleme nur für »dornige Chancen« halten und FDP wählen, weil Freiheit für sie niedrige Steuern bedeutet. Aber das Naserümpfen vieler Linker über solch neoliberale Verblendung ist wohlfeil. Wirtschaftsliberale sind sich immerhin im Klaren darüber, dass ein selbstbestimmtes Leben in dieser Gesellschaft nur möglich ist, wenn man über genug Geld verfügt.

Auch bei der Klimapolitik ist nicht ganz so eindeutig, auf welcher Seite der Realitätssinn anzutreffen ist. »Die Armen der Welt haben ein Menschenrecht auf zivilisatorischen Fortschritt, die wollen nicht Bullerbü«, warnte Christian Lindner vor einer Klimapolitik, die der Wirtschaft schadet. Das ist zumindest näher an der Wirklichkeit als die Hoffnung, man könne arme Länder mit Degrowth-Ideen und Verzichtsaufrufen zum Klimaschutz bewegen. Dass das FDP-Klimaprogramm ebenso illusorisch ist und der zivilisatorische Fortschritt, von dem Lindner so beseelt spricht, und auch nicht aus mehr besteht als Politik im Interesse der ­Reichen, bloß etwas frischer verpackt, davon werden sich einige junge FDP-Wähler hoffentlich noch überzeugen lassen. Es könnte eine lehrreiche Er­fahrung werden für die 46 Prozent der Erstwähler, die für die FDP und Grünen votierten, bald von der Regierung, die sie gemeinsam gewählt haben,­ ­gemeinsam enttäuscht zu werden.

 

Kinder ihrer Zeit

Das gute Ergebnis der FDP unter Erstwählerinnen und -wählern zeigt, dass viele junge Leute neoliberale Werte verinnerlicht haben. Das lässt nichts Gutes hoffen.

Von Federica Matteoni

Es war zweifellos eine der überraschendsten Erkenntnisse der Bundestagswahl: Junge Deutsche, die zum ­ersten Mal wählen durften, stimmten nicht mehrheitlich, wie von vielen erwartet, für die Grünen. Fast ein Viertel von ihnen entschied sich für die FDP, was viele Kommentatorinnen, vor allem linke, ratlos zurückließ.

Schnelles Internet, schnelle Autos, Papas Erbe, Instagram, Tiktok und Co., die Legalisierung von Cannabis und Klimapolitik, aber eben ohne Tempolimit auf Autobahnen – dass man unter anderem diese Dinge mit der FDP in Verbindung bringt, wird in unzähligen Analysen als Grund für dieses Ergebnis genannt. »Spinnen die jungen Leute?« fragt Markus Feldenkirchen auf der Website des Spiegel und trifft damit den Ton vieler Kommentare.

Neoliberale Vorbilder sind heutzutage in jedem Bereich des beruflichen und privaten Alltags vieler, nicht nur junger Menschen präsent.

Die meisten journalistischen Erklärungsversuche sagen vor allem einiges über die Erklärenden aus. Zunächst einmal, dass sie oft mit politischen und gesellschaftlichen Klischees arbeiten, die der Realität nicht mehr entsprechen. Erwartungsgemäß freut sich etwa Ulf Poschardt, der Chefredakteur von Welt-N24, darüber, dass eine vermeintlich »unangepasste Jugend« trotz »grüner Propaganda« für die FDP gestimmt habe.

Andere sprechen den jungen FDP-Wählern und -wählerinnen mehr oder weniger direkt politisches Urteilsver­mögen ab und führen den Erfolg der Partei allein auf deren Kommuni­kationsstrategie zurück. Die FDP sei in den richtigen sozialen Medien stark vertreten, heißt es oft, nämlich in denen, die junge Menschen tatsächlich nutzen.

Der Journalist Raphael Knipping nimmt auf Twitter die Streaming-Plattform Twitch unter die Lupe und zeigt, wie einige erfolgreiche Streamer dort auftreten: »Self-made Aufstieg und Statussymbole pur, live präsentiert für hunderttausende junge Zu­schau­er*in­nen«, schreibt er etwa über den Twitch-Streamer Trymacs. Knipping suggeriert, dass solche Figuren für junge Menschen eine Art Vorbildfunktion hätten, die ihr Wahlverhalten erklären könne.

Abgesehen davon, dass solche neoliberalen Vorbilder heutzutage in jedem Bereich des beruflichen und privaten Alltags vieler, nicht nur junger Menschen präsent sind und man also keinen Twitch-Account braucht, um sie ausfindig zu machen, ist es fraglich, ob man das Wahlverhalten junger Menschen so erklären kann. Dass viele junge Menschen kaum andere Vorbilder kennen und wahrscheinlich auch deshalb die FDP wählen, ist allerdings durchaus Grund zum Pessimismus.

Ob die FDP mit ihren Aktivitäten in sozialen Medien dazu beiträgt, ist jedoch fraglich. Chris Köver analysiert auf dem Internetportal Netzpolitik.org den Auftritt der FDP in sozialen Medien, insbesondere auf Tiktok. Zwei der aktivsten FDP-Mitglieder sind dort über 70jährige Männer, die sich nicht eben als Vorbilder für einen »Self-made-­Aufstieg« präsentieren – eher als nette Opas, die sich gerne mal selbst aufs Korn nehmen. Der Politikberater Martin Fuchs sagte Köver, »zu sagen, es lag an Tiktok«, sei »unseriös und unterkomplex«.

Man kann jüngeren Deutschen kaum vorwerfen, dass sie neoliberale Werte verinnerlicht hätten, wurden diese doch in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten von nahezu allen politischen Parteien verbreitet. Während sich neo­liberale Politik in vielen Bereichen von den Kategorien »links« und »rechts« gelöst hat, wird in politischen Debatten noch immer daran festgehalten. Das führt zu Fehlurteilen, etwa dem, einer idealistischen, linken, vor allem ums Klima besorgten Jugend stehe eine materialistische, egoistische Porsche-­Jugend gegenüber. Dass die Ergebnisse für Grüne und FDP unter Erstwählern und -wählerinnen gleich hoch ausfielen, zeigt keineswegs eine Spaltung der ­Jugend, sondern eher, wie ähnlich die politischen Angebote beider Parteien für diese Zielgruppe sind.

Christian Lindner feierte am Wahl­abend die guten Wahlergebnisse der FDP mit den Worten: »Die politische Mitte wurde gestärkt, die politischen Ränder geschwächt.« Er war umgeben von zehn Führungsmitgliedern seiner Partei – davon nur zwei Frauen. Die Grünen schickten nur weiße Deutsche in die Delegation der Sondierungsgespräche, was kurz für Aufsehen sorgte. Sieht für die jungen Erwachsenen die Zeit nach der großen Koalition so aus: eine starke, männliche, deutsche Mitte, aber Hauptsache digital und grün?

Die Vermutung liegt nahe, dass ihre Wahlentscheidung weniger damit zu tun hatte, dass sie der SPD und den Unionsparteien eine Absage erteilen wollten, sondern mehr damit, dass es keinen Gegenentwurf zum abstrakten Gerede von »Freiheit« und »Zukunft« sowie zur irrationalen Angst vor einem »Linksrutsch« gab.