Die Rolle des Staats zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus wird in der Krise deutlicher

Staat und Krise

In Krisenphasen wächst die Bedeutung des Staats zur Aufrechterhaltung des Akkumulationsprozesses. Auch autoritäre Tendenzen nehmen zu.
Disko Von

Es ist ein in der Linken weitverbreiteter, zumeist von sozialdemokratischen Strömungen gepflegter Irrtum, den Staat als ordnendes Gegenprinzip zur angeblichen »Anarchie der Märkte« anzusehen. Der Staat bildet keinen Gegensatz zu Markt und Kapital, er ist in seiner Eigenschaft als »ideeller Gesamtkapitalist« (Engels) ein notwendiger institutioneller Pol kapitalistischer Vergesellschaftung, dessen Machtapparat die Gesellschaft aufrechterhält und der die Optimierung des Verwertungsprozesses des Kapitals zur Maxime hat. Da die Marktsubjekte nur ihr borniertes Profitinteresse verfolgen und die hierdurch marktvermittelt zur Entfaltung gelangende fetischistische Kapitaldynamik blind ist für die sozialen und ökologischen Folgen ihrer Verwertungsbewegung, muss der Staat einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen setzen und auf verschiedene Weise intervenieren, damit das System nicht an seinen inneren und äußeren Widersprüchen zugrunde geht.

Der autoritäre Staatskapitalismus Chinas und die russische Staatsoligarchie sind keine Auslauf-, sondern krisenbedingte Zukunftsmodelle.

Kapital ist ohne Staat auch historisch nicht denkbar. Die sich im ewigen europäischen Krieg ausformenden absolutistischen Staatsmonster haben – im Rahmen der frühneuzeitlichen »Ökonomie der Feuerwaffen« (Robert Kurz) – maßgeblich zur Entstehung des Kapitalismus beigetragen. Die Monetarisierung mittelalterlicher Feudalabgaben und der Aufbau eines staatlichen Manufakturwesens für die Versorgung stehender Heere ebneten dem Kapitalismus ebenso den Weg wie die genozidalen Raubzüge Europas in der »Neuen Welt« oder die sogenannten enclosures, also die Überführung des Gemeineigentums von Land in Privateigentum.

Der Staat war auch der zentrale ökonomische Akteur jeder nachholenden Modernisierungsbemühung im 19. und 20. Jahrhundert. Bevor Deutschland, Japan oder Südkorea zu Propagandisten freier Märkte und Unternehmen wurden, schotteten die Staatsapparate derselben Länder ihre Volkswirtschaften durch Zölle ab, um ihren staatlich dirigierten Industrialisierungsprozess vor der übermächtigen Konkurrenz entwickelter Industrien zu schützen.

Insbesondere in Krisenphasen wird der Staat zum zentralen ökonomischen Akteur. Er agiert als letztes Aufgebot des Kapitals, wenn die dem Verwertungsprozess innewohnenden Widersprüche wieder einmal Spekulations- und Schuldenblasen und schließlich einen Marktzusammenbruch hervorgebracht haben. Dann müssen eilig beschlossene Gesetze zur Kostensozialisierung, staatliche Konjunkturprogramme, Subventionen und die Gelddruckerei der Notenbanken einen noch umfassenderen Zusammenbruch verhindern.

Die dreißiger Jahre sahen im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 eine starke Zunahme staatlicher Wirtschaftsaktivität, zum Beispiel in Gestalt des »New Deal« des US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, sowie einen weltweit um sich greifenden Protektionismus, der die Krise noch verschärfte. Doch auch der finanzmarktgetriebene Neoliberalismus, der sich in den USA in Reaktion auf die Stagflationsperiode der siebziger Jahre durchsetzte, ging mit enormen rechtskeynesianistischen Konjunkturprogrammen einher, unter anderem durch steigende Rüstungsausgaben, wodurch sich die Staatsverschuldung unter Präsident Ronald Reagan nahezu verdreifachte.

Während die Bedeutung der Finanzmärkte in den neunziger Jahren wuchs, wurde die Rolle des Staats immer mehr aus der öffentlichen Debatte verdrängt. Doch spätestens mit dem Platzen der US-Immobilienblase im Jahr 2007 ist der im neoliberalen Diskurs verpönte Staat wieder gefragt. Es wurden billionenschwere Konjunkturprogramme aufgelegt, während die Notenbanken dazu übergingen, Schrottpapiere (Hypothekenanleihen) und Staatsanleihen aufzukaufen, um das taumelnde Finanzsystem zu stabilisieren.

Die Krisenmaßnahmen der Jahre 2007 bis 2009 verblassen jedoch neben den Staatsprogrammen des vergangenen Jahrs. Der Unternehmensberatung McKinsey zufolge waren die staatlichen Krisenprogramme mit einem weltweiten Umfang von rund zehn Billionen US-Dollar bereits Mitte 2020 rund dreimal so groß wie die vor zwölf Jahren. Diesmal hielt sich das bereits im gefährlich angewachsenen spekulativen Bauboom verfangene China mit Konjunkturmaßnahmen zwar zurück, doch beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland preschte mit einer umfassenden, insgesamt rund 33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprechenden Krisenreaktion vor und gab ihren langjährigen Widerstand gegen EU-Konjunkturpakete auf.

Die Einführung von Transfer- und Konjunkturprogrammen im Juli 2020 ist ein Rettungsanker für die zuvor auf den Abgrund zutreibende, von wachsenden Ungleichgewichten und Zentrifugalkräften zerrüttete Euro-Zone. Auch in den USA sieht sich die Regierung unter Präsident Joe Biden starkem Druck ausgesetzt, neben den geplanten billionenschweren Infrastrukturplänen auch die im Wahlkampf versprochene Stärkung von Sozialprogrammen zumindest partiell zu verwirklichen.

Die gewachsene ökonomische Rolle des Staates, die in Deutschland in umfassenden staatlichen Kreditgarantien für von der Pleite bedrohte Unternehmen und der Ankündigung des Finanzministers Olaf Scholz (SPD) mündete, Konzerne zur Not zeitweise zu verstaatlichen, geht auch mit verstärkten Abschottungstendenzen einher. Der durch die systemische Überproduktionskrise befeuerte staatliche Drang zum Protektionismus äußerte sich schon vor der Präsidentschaft Donald Trumps indirekt in währungspolitischen Abwertungswettläufen. Diese Politik, bei der Exportüberschüsse durch die Abwertung der eigenen Währung erzielt werden, setze nach dem Krisenschub 2008 ein. Auch nach dem Ende der offen protektionistischen Politik Trumps bleiben die handelspolitischen Spannungen zwischen den USA und der EU bestehen, während sich zugleich eine weitere Verschärfung des Handelskonflikts mit China abzeichnet, bei dem die Regierung Biden eine gemeinsame Front mit der EU und Deutschland bilden will.

Gerade für eine führende Exportnation wie Deutschland ist diese Entwicklung verhängnisvoll – auch innenpolitisch, da die Exportabhängigkeit der Faschisierung des deutschen Staats bisher Grenzen setzte. Die westliche Krisenpolitik bejaht zwar formell die Aufrechterhaltung des freien Welthandels, was auch als eine Lektion aus den verheerenden Folgen des Protektionismus der dreißiger Jahre verkauft wird, doch werden immer mehr informelle Handelshürden errichtet – etwa in Gestalt der von der EU geplanten »Klimazölle«, die den Import von Waren aus Ländern mit niedrigeren Klimastandards verteuern sollen – und bilaterale Handelsabkommen geschlossen, die jene ausschließen, die nicht an ihnen beteiligt sind.

Auch die sich abzeichnende Energiekrise – angesichts steigender Energiepreise fordern derzeit erste europäische Stahlwerke Subventionen – wird die Rolle des Staats in der Wirtschaft weiter stärken. Mit der Krisenintensität und den sozialen Verwerfungen nimmt jedoch auch die Tendenz zu autoritärer staatlicher Krisenverwaltung zu. Aufbauend auf der Vorarbeit des Neoliberalismus, der Sozialabbau mit dem Ausbau des Überwachungs- und Polizeistaates koppelte, droht – ohne eine emanzipatorische Bewegung, die dem entgegenwirken könnte – auch den letzten bürgerlichen Demokratien des Westens dasselbe Schicksal wie der Türkei, Polen oder Ungarn. Der autoritäre Staatskapitalismus Chinas und die russische Staatsoligarchie sind keine Auslauf-, sondern krisenbedingte Zukunftsmodelle. Alexander Lukaschenko ist nicht der »letzte Diktator Europas«, sondern die Avantgarde eines autoritären Staatskapitalismus, der in der manifesten sozioökologischen Krise keinen ideologischen Konsens mehr schaffen kann und zur Stützung seiner Herrschaft zur blanken Gewalt greifen muss.

Denn die staatsinterventionistische Krisenbewältigung ist auch in den Zentren auf Sand gebaut. Die zunehmenden staatlichen Wirtschaftsaktivitäten – etwa bei Infrastrukturinvestitionen und dem »Green New Deal« – werden durch die vermittelte Gelddruckerei der Notenbanken finanziert. Die Zentralbanken des Euro-Raums und der USA kaufen Staatsschulden in ihren Währungsräumen mit neu generiertem Geld auf. Das ermöglicht erst den wachsenden Staatskonsum, heizt aber mittlerweile die Inflation an. Die kapitalistische Krisenpolitik befindet sich letztendlich in einer Krisenfalle, sie kann nur wählen zwischen verschiedenen Wegen in die weitere Krisenentfaltung samt der unausweichlichen Entwertung des Werts: Deflation oder Inflation. Die billionenschweren »quantitativen Lockerungen« der Notenbanken haben den Zusammenbruch des Weltfinanzsystems 2020 zwar verhindert, doch handelt es sich nur um einen Aufschub der Krise.