Die Angst vor anhaltender Inflation wird aus politischen Gründen geschürt

Neoliberalismus mit keynesianischem Antlitz

Der ständigen Warnungen vor anhaltender Inflation sind vor allem politisch motiviert. In der Debatte geht es um die Zukunft Europas.
Disko Von

Das Schreckgespenst der Inflation geht um. Wirtschaftsliberale Ökonomen in den USA und in Europa sagen eine Katastrophe voraus, sollten die Zentralbanken nicht bald die Leitzinsen erhöhen. Ihre Warnungen vor der »kalten Enteignung der Sparer« (Die Welt) durch die Teuerung greift die populistische Wirtschaftspresse dankbar auf.

Keynesianisch geprägte Linke beschwören derweil die Europäische Zentralbank (EZB) und die US-Notenbank Fed, auf keinen Fall die Zinsen zu erhöhen, weil das die Spielräume für staat­liche Wirtschaftspolitik einschränken und die wirtschaftliche Erholung nach der Coronakrise abwürgen würde. ­Eines ist beiden Seiten gemein: Sie stochern in dichtem Nebel. Die Diskus­sion ist von politischen Interessen und Glaubenssystemen geprägt.

Die Maßnahmen der EZB sind weder einer sozialen Bewegung noch überzeugenden Argumenten der Linken zu verdanken.

Tatsächlich ist die Inflationsrate gemessen am Vorjahresmonat im Euro-Raum im September auf 3,4 Prozent gestiegen, der höchste Wert seit 13 ­Jahren. In Deutschland sind es sogar 4,1 Prozent. Die pandemiebedingte ­Rezession des vergangenen Jahres ist vorüber und die Wirtschaft expandiert wieder stark. Zudem wurden in den USA und Europa riesige schuldenfinanzierte Konjunkturpakete beschlossen. Ermöglicht wird das seit Jahren von den Zentralbanken, die massenhaft Staatsanleihen aufkaufen und gleichzeitig mit niedrigen Zinssätzen sicherstellen, dass Investoren billiges Geld zur Verfügung steht. Seit 2016 liegt der Leitzins in der Euro-Zone bei null Prozent, die Geldmenge stieg enorm.

Keynesianer, die in den Siebzigern die Deutungshoheit in den wirtschaftspolitischen Debatten verloren haben, erhofften sich in der Covid-19-Krise, wie auch schon in der Weltwirtschafts­krise 2007/2008, ein Revival ihrer präferierten Wirtschaftspolitik. Hoch­tönende Slogans der US-Regierung (»Build Back Better«) oder der EU (»European Green Deal«) bestärkten Hoffnungen, dass die staatlichen Ausgabenprogramme auch sozialstaatliche, ökologische und andere fortschrittliche Anliegen umfassen werden.

Doch auch die Forderung nach harter Marktbereinigung verstummte nie: Wirtschaftsliberale Ökonomen warnen, dass Ausgabenprogramme und Niedrigzinsen zwar kurzzeitig die ­Krise milderen, langfristig aber das Wachstum schwächten. Seit über einem Jahrzehnt warnen sie auch unermüdlich vor Inflation. Ihr Argument ist trivial: Die ausufernde Geldmenge müsse, da die Produktion nicht ebenso stark wachse, zu einem Anstieg des Preisniveaus führen. Geschehen ist das seit 2008 allerdings nicht, im Gegenteil kämpfte die Europäische Zentralbank (EZB) vornehmlich gegen Deflation. Tatsächlich landete das viele Geld kaum in Form von Investitionen in der sogenannten Realwirtschaft, sondern floss in die Finanzsphäre und trieb dort etwa die Aktienkurse in die Höhe oder befeuerte die Immobilienspekulation in den Großstädten.

Eher linke Ökonomen argumentieren dagegen, dass die derzeit hohe Inflation auch auf einem Messproblem ­beruhe: Die Vergleichswerte seien fragwürdig, weil die Preise vor einem Jahr wegen der Einschränkungen in der Pandemie besonders niedrig lagen. Der Staat müsse noch mehr investieren, um eine lange Rezession zu verhindern. In ihrer Theorie hängt die Inflation primär von der Beschäftigungsquote und der damit verbundenen Lohnentwicklung ab.

Welcher Deutung man auch Glauben schenkt, der Preisanstieg lässt sich nicht leugnen. Viele Menschen haben in den Monaten der Wirtschaftseinschränkungen Geld angespart und wollen dieses jetzt ausgeben, wodurch die Nachfrage nach zahlreichen Gütern sprunghaft angestiegen ist. Die Situa­tion wird dadurch verschärft, dass die Lieferketten nicht wie zuvor funktionieren und von dem plötzlichen Anstieg der Nachfrage überfordert sind. Weltweit sind Containerschiffe und -häfen ausgelastet.

Aber entspricht der bemerkenswerte Preisanstieg der langfristigen Tendenz? Ein Blick zurück zeigt bedenklich niedrige Wachstumszahlen für die Zeit vor der Pandemie. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hatte für 2019 das schwächste weltweite Wirtschaftswachstum seit der Finanzkrise gemessen. In so einer Lage ist höchstens im Fall eines Angebotsschocks mit kurzfristiger, kaum aber mit anhaltender Inflation zu rechnen.

Doch auch darauf haben Wirtschaftsliberale eine Antwort: Sie warnen vor der sogenannten Stagflation, also einer Inflation bei gleichzeitiger Stagnation der Wirtschaftsleistung und hoher Arbeitslosigkeit, wie es sie in den sieb­ziger Jahren während der Ölkrise gab. Der Grund dafür seien steigende Löhne trotz schwachen Wachstums. Doch lässt sich die Situation heutzutage mit der damaligen kaum vergleichen. Anfang der Siebziger konnten die Gewerkschaften in Deutschland teilweise Lohnsteigerungen im zweistelligen Prozentbereich durchsetzen, was derzeit unvorstellbar ist. Eine Lohn-Preis-Spi­rale wie damals ist deshalb vorläufig nicht zu erwarten. Die Warnung vor Stagflation zeigt vielmehr, wie in der Lohnfrage die Kapitalinteressen und wirtschaftsliberale ökonomische Glaubenssätze in eins fallen.

Auch die Zentralbanken rechnen offenbar langfristig mit schwächerem Wachstum und tieferen Inflationsraten. Die EZB beobachtet nach ­eigenem Bekunden die Entwicklung, geht aber in ­ihrem Basisszenario davon aus, dass die Inflationsrate bald wieder sinken werde. Bis Ende 2022 sind demnach keine Zinserhöhungen zu erwarten.

Kritik daran gibt es vor allem seitens der Bank of England (BoE), die kürzlich durchblicken ließ, den Leitzinssatz auf 0,25 Prozent erhöhen zu wollen. Jens Weidmann, ein scharfer Kritiker der lockeren Geldpolitik der EZB, räumte kürzlich nach über einem Jahrzehnt den Posten des Bundesbankpräsi­denten. Die wirtschaftsliberale Neue Zürcher Zeitung monierte, der letzte couragierte Vertreter einer stabilitätsorientierten Politik werfe das Handtuch.

Nun die Zinsen zu erhöhen, würde die Finanzierung von Staatsausgaben erschweren, was insbesondere für die Länder an der südlichen Peripherie der EU verheerend wäre. Vor allem aber würde das eine Rezession auslösen und die seit Jahren anhaltende Rallye auf den Finanzmärkten bedrohen, die die Zentralbanken bislang befeuern. Vor den Konsequenzen schrecken die Verantwortlichen zurück.

Doch der Kurs der EZB ist weder einer sozialen Bewegung noch überzeugenden Argumenten der Linken zu verdanken. Er war im historisch einmaligen Wirtschaftseinbruch des vergangenen Jahres schlicht notwendig. Neoliberalismus oder Keynesianismus, auf welche sich die jeweiligen Kommentatoren beziehen, sind keine wirtschaftspolitischen Blaupausen, sondern werden vor allem zur Legitimation pragmatischer Politik herangezogen.

Was derzeit stattfindet, ist kein Wiederaufleben sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik in der Krise, sondern zeigt vielmehr, dass es eine solche schon lange nicht mehr gibt. Unter Margaret Thatcher und Ronald Reagan und ihren neoliberalen Nachahmern auch in Deutschland wurde ab den achtziger Jahren nicht nur die Inflation bekämpft, ­sondern zugleich die Macht der organisierten Arbeiterklasse gebrochen – und damit jener Kräfte, die Lohnsteigerungen gegen den ökonomischen Trend durchsetzen konnten. Die wirtschaftsliberalen Regierungen schufen zudem die Grundlage dafür, die Geldpolitik in den technokratisch geführten Zentralbanken demokratischer Kontrolle vollständig zu entziehen. Diese Institutionen sind mit der Stabilität des Systems befasst und werden dafür tun, »whatever it takes«, wie Mario Draghi 2012 inmitten der Eurokrise den Beginn der ultralockeren Geldpolitik ankündigte. Sie können das in der Gewissheit tun, dass es keine mächtigen Gewerkschaften mehr gibt, die mit Forderungen nach stark steigenden Löhnen für Instabilität sorgen könnten.

Gleichzeitig fordern Wirtschaftsliberale unverdrossen »Marktbereinigung« durch Zinserhöhung. Die globale Schuldenlast ist inzwischen gigantisch, was das Wachstum hemmt. Der Bank für Internationalen Zahlungs­ausgleich (BIZ) zufolge müssen sich rund 15 Prozent der Firmen in den hochentwickelten Nationalökonomien ständig weiterverschulden. Sie über­leben nur, solange die Zinsen niedrig bleiben, und müssten bei einer restriktiveren Geldpolitik Konkurs anmelden. Diese »gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche« (Marx), also die Zerstörung unprofitablen Kapitals, könnte aber erst die Bedingungen für einen neuen Aufschwung schaffen. Ob dieser aber tatsächlich einsetzen würde, müsste sich angesichts der strukturellen Akkumulationsprobleme des Kapitals erst erweisen. In jedem Fall würde zunächst einmal die Rezession zahlreiche Unternehmen in den Ruin treiben und Millionen von Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut stürzen.

Bei der Debatte über Inflation und Geldpolitik geht es also um nicht weniger als die Zukunft der ärmeren Staaten Europas, unzähliger Lohnabhängiger und der Finanzierung staatlicher Sicherungssysteme. Die Zentralbanken stabilisieren derzeit die Lage. Wie lange das aber angesichts steigender Schuldenlasten und wachsender Finanzblasen gutgehen kann, steht auf einem anderen Blatt.