Fast alle Branchen leiden unter Lieferschwierigkeiten und gestiegenen Transportkosten

Peitsche für die Lieferkette

Fast alle Wirtschaftszweige haben derzeit mit Lieferschwierigkeiten zu kämpfen, vor allem bei Rohstoffen und Vorprodukten. Zu einer umfassenden Rückverlagerung von Produktionsstätten in westliche Länder wird es allerdings kaum kommen.

Manchmal beginnen große Probleme mit kleinen Dingen – wie Holzschrauben. Die Nachfrage dafür ist 2021 um über 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, was das deutsche Unternehmen Würth, einen der weltweit größten Hersteller von Bau- und Montagematerialien, vor große Heraus­forderungen stellt. Um die Produktionskapazitäten zu steigern, sind zusätzliche Maschinen nötig, die allerdings voraussichtlich frühestens in einem Jahr verfügbar sein werden. Ohne Schrauben geht es aber auf vielen Baustellen nicht voran, die Kunden sind wütend.

Lieferprobleme gibt es nicht nur auf dem Bau, mittlerweile haben fast alle Branchen damit zu kämpfen. Engpässe gibt es zum Beispiel bei Halbleitern, die unter anderem für den Autobau wichtig sind); auch an vielen Rohstoffen und medizinischen Gütern mangelt es. Selbst das Weihnachtsgeschäft scheint in Gefahr. Weil Kunststoffgranulat fehlt, werden Spielzeuge aus Plastik knapp, seien es Puppen oder Tierfiguren.

Die große Mehrheit der deutschen Unternehmen will nicht auf globale Lieferketten verzichten. In vielen Branchen wäre eine vorwiegend regionale Herstellung schlicht nicht rentabel.

Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung glaubte kürzlich in einer Analyse, Anzeichen einer Zeitenwende zu erkennen. Lieferschwierigkeiten bei bestimmten Gütern zeigten, wie »verletzlich moderne Volkswirtschaften durch die Internationalisierung von Lieferketten und die Auslagerung der Produktion systemrelevanter Güter ­geworden sind«. In den kommenden Jahren, so das IMK, dürfte eine Reak­tion erfolgen: »In der Nach-Corona-Zeit ist mit einer gewissen Deglobalisierung zu rechnen«, schreibt Sebastian Dullien, der wissenschaftliche Direktor des Instituts.

Lieferschwierigkeiten können profane Ursachen haben. Die Produktion von Kunststoffgranulat stockte in den vergangenen Monaten unter anderem, weil es in den südlichen USA, wo wichtige Polymerhersteller sitzen, im vergangenen Februar zu langanhaltenden Produktionsausfällen gekommen war; zudem hat China seine Produktion früher hochgefahren und wird derzeit vorrangig beliefert; explosionsartig gestiegene Frachtkosten tun ein Übriges.

Wenn man von Wetterereignissen ­absieht, lässt sich nicht nur beim Kunststoffgranulat der sogenannte Peitscheneffekt (»bullwhip effect«) feststellen: Werden Produkte knapp, bestellen Händler, Zwischenhändler und verarbeitendes Gewerbe vorsorglich mehr, als sie eigentlich benötigen. Der angestrebte Waren- beziehungsweise Materialpuffer wird von Station zu Station der Lieferkette größer. Am Ende der Kette entsteht so eine Nachfrage, die die Bestellungen der Händler am Anfang der Kette bei weitem übertrifft – als wäre ein Peitschenschlag durch die Lieferkette gegangen (auch bei einem Peitschenhieb wird die Amplitude der Wellenbewegung immer größer, je weiter man sich von der auslösenden Hand entfernt).

Hinzu kommt, dass zu Beginn der Covid-19-Pandemie Unternehmen ihre Produktion unterbrochen oder heruntergefahren haben. Weil sich beispielsweise weniger Autos verkauften, wurden Halbleiter an die Hersteller von Laptops umgeleitet, die während der Pandemie gefragt waren. Viele elektronische Produkte, auch Halbleiter, werden zudem zu einem Großteil in wenigen Ländern hergestellt. Der taiwanesische Halbleiterproduzent TSMC, der hauptsächlich in Taiwan produziert, hat einen Weltmarktanteil von über 50 Prozent.

Selbst bei einem vergleichsweise unkompliziert scheinenden Produkt wie einem Fahrrad stammen die meisten Einzelteile aus Asien, Rahmen und ­Gabeln etwa werden kaum noch in Europa hergestellt. Fehlt ein Teil, verzögert sich die Produktion. Einige Händler warten nach Angaben des Verbands des Deutschen Zweiradhandels noch immer auf bis zu 40 Prozent der Räder, die sie im vergangenen Jahr bestellt haben. Die Branche rechne damit, dass der Fahrradmarkt sich erst Ende 2024 normalisiert, heißt es in ­einer Mitteilung des Verbands.

Die Folgen der Lieferverzögerungen zeigen sich besonders in der Transport- und Logistikbranche. Kürzlich warteten vor der US-Westküste zahlreiche Schiffe mit rund einer halben Million Containern an Bord darauf, endlich abgefertigt zu werden. Auf den Docks wird mittlerweile rund um die Uhr ­gearbeitet, um die Schiffe möglichst schnell entladen zu können. Es fehlt ­allerdings an Lastwagen, um die Waren weiter zu transportieren. Viele Fahrer wurden zu Beginn der Pandemie wegen mangelnder Nachfrage entlassen und haben sich inzwischen beruflich um­orientiert. Nun zieht Frachtgeschäft wieder an, während viele Stellen noch unbesetzt sind. Weil Container nicht schnell genug entladen werden können, fehlen anderswo freie Chassis, um neue Ladung aufzunehmen. Logistikunternehmen wie Dachser rechnen damit, dass die Lage sich erst im Laufe des kommenden Jahres wieder normalisieren wird.

Sind solche Lieferprobleme ein Anzeichen dafür, dass die Globalisierung ihren Höhepunkt überschritten hat? Gegen diese Annahme spricht, dass »der weltweite Handel derzeit auf ­einem sehr starken Expansionskurs« sei und sich »inzwischen auf einem ­höheren Niveau als vor der Pandemie« befinde, wie das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München (Ifo) kürzlich feststellte.

Die große Mehrheit der deutschen Unternehmen will nicht auf globale Lieferketten verzichten. In vielen Branchen wäre eine vorwiegend regionale Herstellung schlicht nicht rentabel, der Lohnkostenanteil an den Produkten wäre zu hoch. Das würden die internationale Wettbewerbsfähigkeit der betreffenden nationalen Wirtschaftszweige gefährden. »In Deutschland hätten eine Renationalisierung und das Zurückholen der Produktion enorme nega­tive Folgen auf die Wirtschaftskraft«, schreiben die Ifo-Forscherinnen Lisan­dra Flach und Marina Steininger in einer Analyse.

Nach ihren Berechnungen wären zwar die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie »in einer deglobalisierten Welt etwas geringer« gewesen. »Gleichzeitig würde jedoch das deutsche Bruttoinlandsprodukt durch die Deglobalisierung und den Covid-19-­Schock auf das Niveau von 1996 zurückgeworfen werden.« Eine vom Ifo-Institut im Auftrag der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung erstellte Studie kam kürzlich zu dem Schluss, dass bei einer Rückverlagerung von Produktionsstätten nach Deutschland das reale Bruttoinlandsprodukt um rund zehn Prozent sinken würde.

Klar ist jedoch auch, dass die Unternehmen auf die Lieferprobleme langfristig reagieren müssen. Statt sich auf einige wenige Hersteller zu verlassen, wollen sie Aufträge auf mehr Produzenten in unterschiedlichen Regionen verteilen. Das schließt nicht aus, dass wichtige medizinische Güter und Schutzkleidung künftig mit staatlicher Hilfe wieder vermehrt in Deutschland produziert werden.

Auch bei Halbleitern könnte das der Fall sein: Die EU-Kommission kündigte Mitte September an, sie werde die Halbleiterproduktion in der EU fördern, um die Abhängigkeit der europäischen Industrie von asiatischen Herstellern zu verringern. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte vorige Woche bei einer von der Süddeutschen Zeitung ausgerichteten ­Veranstaltung, der Weltmarktanteil von EU-Herstellern solle bis 2030 von ­derzeit zehn auf 20 Prozent verdoppelt werden.

Viele Unternehmen hoffen allerdings darauf, Produktions- und Logistik­probleme nicht durch eine Rückverlagerung der Produktion, sondern mit Hilfe digitaler Technologie in den Griff zu bekommen. Das »Internet der Dinge« – die Automatisierung der Kommunikation, insbesondere unter Maschinen – soll dazu führen, dass sich der Produktions- und Lieferprozess weitgehend selbst steuert, überwacht und optimiert. Durch künstliche Intelligenz sollen Maschinen und Anlagen selbständig Vorprodukte bestellen können. Die Maschinen sollen Wartungstechniker in Echtzeit über Störungen informieren; benötigte Ersatzteile sollen automatisch bestellt werden.

Auch in der Logistik gibt es zukunftsweisenden Entwicklungen. Das US-Unternehmen Tusimple hat eine Technologie entwickelt, die den Aufbau eines Frachtnetzwerks aus autonom fahrenden Sattelschleppern ermöglichen soll. Bis die Schlepper tatsächlich selbstkontrolliert über die Straßen brausen können, während die Betreiber im Homeoffice Frachtpapiere ausfüllen, wird es allerdings wohl noch länger dauern. Für die nähere Zukunft scheint eher realistisch, dass Menschen bald noch zur Kontrolle anwesend sind, während die Fahrzeuge sich zumindest auf Autobahnen größtenteils selbst steuern. Die Schlepper wären wohl in der Lage, sich schneller auf veränderte Verkehrs­situtationen einzustellen als der Mensch, so dass die Fahrt flüssiger verliefe.

Mit diesen technischen Innovationen könnten Probleme, wie sie in der Pandemie entstanden sind, vielleicht gemildert werden. Gut möglich, dass dann nicht ein Virus den nächsten Lieferketten-Crash auslöst, sondern eine Softwarestörung.