»die verbrechen« von Ronya Othmann

Dem Schweigen abgerungen

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Karge, menschenleere Gegenden – das erwartet die Leserinnen und ­Leser im Gedichtband »die verbrechen« von Ronya Othmann. Man ­begleitet das lyrische Ich auf einer Reise durch seine Erinnerungen, die vor allem an Erlebnisse der Flucht und der Vertreibung in Kurdistan geknüpft sind. Die genauen Umstände der Flucht aber bleiben unscharf, und ebenso, was das lyrische Ich eigentlich erlebt hat. Ein paar Gesprächsfetzen, die Erwähnung von Verwandten und wie beiläufig ein­geschobene Bemerkungen sind alles, was die langen Aufzählungen von Pflanzen, von Besitztümern und von Alltäglichem unterbricht, die sonst den Gedichtband beherrschen. Deshalb wiegen jene Bemerkungen und Gesprächsfetzen umso schwerer. Einer der wenigen geographischen Anhaltspunkte, die Othmann gibt, ist der Name der Stadt ­Afrîn, also der syrisch-kurdischen Stadt, in die 2018 die türkische Armee einmarschierte. Viele Einwohner flohen deshalb.

Die Unschärfe der ­Gedichte ist jedoch keine Schwäche, sondern Ausdruck der poetischen Fähigkeiten der 28jährigen Autorin, deren Vater ein nach Deutschland geflüchteter jesidischer Kurde ist. Als Kolumnistin für die FAZ und Taz hat sie sich bereits einen Namen gemacht, 2020 erschien ihr Debütroman »Die Sommer«. In »die verbrechen« widmet sie sich den Opfern der von Europa gebilligten türkischen Aggression, indem sie ­deren Sprachlosigkeit in den Mittelpunkt ihres Werks stellt. Sie zeigt, wie die Traumatisierten nach Worten ringen, um mit all ihren Ver­lusten zurechtzukommen.

Die Bilder, die Othmann für diese Sprachlosigkeit findet, sind von ­ge­radezu körperlicher Intensität. Sie spricht von »grammatik, / die zwischen deinen schulterblättern / sitzt und schmerzt«. An anderer Stelle sind »stimmbänder durchgeschnitten«. So bringt Ronya Othmann das Schweigen doch noch zum Sprechen, und es erzählt unter anderem von einem Schmerz, den die türkische und ­europäische Politik verursacht hat.

Ronya Othmann: die verbrechen. Carl-Hanser-Verlag, München 2021, 112 Seiten, 20 Euro