In Singapur wird die Todesstrafe wieder vollstreckt

Exekution trotz Protest

Nagaenthran K. Dharmalingam wurde nach zwölf Jahren im Todestrakt gehängt. Fast alle, denen eine Hinrichtung droht, sind wegen Drogendelikten inhaftiert.

Alle Proteste und Gnadengesuche waren vergeblich. Am 27. April ließ die ­Regierung von Singapur das Urteil gegen den 33jährigen Nagaenthran K. Dharmalingam vollstrecken und beendete sein Leben nach zwölf Jahren Einzelhaft im Todestrakt des Gefängnisses Changi durch Erhängen. Der Malaysier wurde 2009 bei der Einreise mit 42,72 Gramm Heroin festgenommen und wegen Drogenhandels verurteilt.

Ab einer Menge von 15 Gramm schreibt das Gesetz die Todesstrafe vor. Seine Mutter Panchalai Supermaniam und seine Geschwister hatten bis zum letzten Tag versucht, die Hinrichtung zu verhindern. In Singapur diskutiert man seit 2010 darüber, ob bei Personen mit deutlich eingeschränkten geistigen Fähigkeiten, wie es bei Nagaenthran der Fall war, die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt werden soll. Das Berufungsgericht wies die Anfechtung der Angehörigen jedoch als unbegründet zurück und erklärte Nagaenthran für voll schuldfähig.

Neben der Unverhältnismäßigkeit im Strafmaß wird Singapur im Fall der Hinrichtung von Nagaenthran K. Dharmalingam eine Missachtung der UN-Behindertenrechtskonvention vorgeworfen.

Die Propaganda der Regierung stellt Drogen als Gefahr für das Leben verantwortungsbewusster Bürger und ihrer Familien sowie die nationalen Entwicklungsziele dar. In Medienkampagnen und dem Film »High«, der in Kollaboration mit dem National Council Against Drug Abuse entstand, werden Drogenkonsumentinnen und -konsumenten als irrationale Störer dargestellt, die staatlicher Kontrolle bedürfen. Soziale Ungleichheit und die individuelle Per­spektive Betroffener finden in diesen Geschichten keinen Platz. Nuancierte Darstellungen unterbindet die Regierung etwa durch Verbote von Serien. Singapur ist der weltweit am stärksten zensierte Netflix-Markt. Fast alle der verbotenen Programme enthalten Darstellungen von illegalem Drogengebrauch oder Alkoholkonsum.

Der Regierung gilt die Todesstrafe als ein verhältnismäßiges, erforderliches und wirksames Mittel der Abschreckung, um den Stadtstaat drogenfrei zu machen. Die Exekutionsdrohung, hohe Haftstrafen, Zwangstherapien und Auspeitschungen (sogenanntes caning, ein Erbe der britischen Kolonialzeit) machen die Drogengesetzgebung zu einer der striktesten weltweit.

Mit rechtsstaatlichen Prinzipien ist auch kaum vereinbar, dass es das 1955 erlassene Gesetz Criminal Law (Temporary Provisions) Act den Behörden Singapurs erlaubt, »zur Aufrechterhaltung von öffentlicher Sicherheit, Frieden und guter Ordnung« die Inhaftierung von Personen, die des Drogenhandels verdächtigt werden, ohne gerichtliche Anordnung und Überprüfung unbegrenzt zu verlängern. Das Gesetz über den Missbrauch von Drogen stellt nicht nur den Besitz und Gebrauch von Drogen sowie den Drogenhandel unter hohe Strafe, sondern auch das Informieren über Drogenkonsum oder etwa das Mitführen von Konsum­utensilien wie Spritzen oder Pfeifen. Die Behörden dürfen bei Verdacht auf Drogenkonsum einen Urintest verlangen, wobei dessen Verweigerung als Zeichen der Schuld bewertet wird.

Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International kritisieren die repressive Drogenpolitik wegen ihrer gesundheitlich und gesellschaftlich fatalen Folgen. Die Global Commission on Drug Policy, ein internationaler Zusammenschluss vornehmlich von ehemaligen Politikern, forderte in einem im vorigen Jahr veröffentlichten Bericht »Schluss mit der Prohibition«. Die vergangenen 50 Jahre hätten gezeigt, dass die repressive Drogenpolitik marginalisierte und arme Bevölkerungsgruppen überproportional hart treffe, nicht aber mächtige Gruppen der organisierten Kriminalität, die sich meist vor Strafverfolgung schützen können.

Diese Ungleichbehandlung zeigte sich auch in Nagaenthrans Fall. Nach seiner Festnahme gab der damals 21jährige an, er sei von einem Mann namens »King« genötigt worden sei, die Drogen nach Singapur zu schmuggeln, um Schulden zu begleichen. Diese habe er zur Bezahlung einer Herzoperation für seinen Vater aufgenommen.

Neben der Unverhältnismäßigkeit im Strafmaß wird Singapur eine Missachtung der UN-Behindertenrechtskonvention vorgeworfen. Der Oberste Gerichtshof bescheinigte Nagaenthran 2017 ADHS und »grenzwertiges intellektuelles Funktionieren«. Sein IQ wurde mit 69 bemessen, dieser Wert wird international als geistige Behinderung anerkannt. Das Gericht nahm dennoch keine verminderte Schuldfähigkeit an.

Die auch von Singapur unterzeichnete UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet nach Artikel 12 Absatz 3 die Vertragsstaaten dazu, »geeignete Maßnahmen« zu treffen, »um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen«. Trotz geäußerter Bedenken von Nagaenthrans Familie und Sachverständigen, dass sich sein Zustand in Haft verschlechtere, ermöglichten die Justizbehörden ihm keine unabhängige psychiatrische Beurteilung.

Auch UN-Institutionen, die Europäische Union und Prominente, darunter der Unternehmer Richard Branson, der Schriftsteller Stephen Fry und der Filmproduzent Timothy Shriver, hatten in den vergangenen Monaten an Singapur appelliert, die Hinrichtung nicht zu vollziehen. Die malaysische Regierung schlug vor, das Abkommen über die Überführung von Gefangenen zwischen den zwei Ländern zu nutzen.

Es gab für Gegnerinnen und Gegner der Todesstrafe und einen zum Tode Verurteilten aber auch einen kleinen Lichtblick. Am 28. April konnte der indischstämmige Malaysier Datchinamurthy Kataiah vor dem Obersten Gerichtshof einen Aufschub seiner für den folgenden Tag angesetzten Hinrichtung erwirken. Zwar legte die Generalstaatsanwaltschaft umgehend Rechtsmittel ein, doch auch das Verfahren vor der nächsten Instanz gewann Datchinamurthy. Wie viele zum Tode verurteilte Personen in Singapur vertrat er sich selbst, denn Anwälte und Anwältinnen scheuen solche Fälle, da sie Repressalien der Generalstaatsanwaltschaft fürchten.

Nach einer zweijährigen pandemiebedingten Pause werden Exekutionen in Singapur seit März wieder vollzogen, als Erster wurde Abdul Kahar bin ­Othman wegen Handels mit Heroin gehängt. Auch Roslan bin Bakar, Rosman bin Abdullah und Pannir Selvam Pranthamand droht die baldige Vollstreckung ihrer Todesurteile. Nach ­Angaben der Initiative Transformative Justice Collective saßen Anfang April 62 Personen im Todestrakt, 59 von ihnen wurden für Drogenvergehen und drei wegen Mordes verurteilt.

Dass diese Fälle detailliert dokumentiert sind und ­nationale wie internationale Aufmerksamkeit erlangen, liegt vor allem am Einsatz der Familien sowie von ­Aktivistinnen wie Kirsten Han und Kokila Annamalai und Anwälten wie Too Xing Ji und M Ravi. Auf ihren Aufruf hin versammelten sich im April zwei Mal je 400 Personen zu Protesten und einer Mahnwache gegen die geplanten Hinrichtungen im Hong Lim Park, dem einzigen Ort in dem nur formal parlamentarisch verfassten und nach ethnischen Kriterien organisierten Stadtstaat, an dem Proteste erlaubt sind. Kirsten Han bezeichnet die Anzahl der Protestierenden in einem Interview mit ABC News als beachtlich. Sie nimmt außerdem eine wachsende Zahl jüngerer Menschen in Singapur wahr, die sich gegen die Todesstrafe und ein Justizsystem aussprechen, das ausländische Staatsbürgerinnen und -bürger sowie Angehörige marginalisierter Gruppen ungleich höher bestraft.