Soziale Bewegungen wenden sich gegen die nationalkonservative Regierungspolitik in Serbien

Vorsichtiger Aufbruch

In Serbien findet seit mindestens zehn Jahren ein autoritärer Umbau der Gesellschaft statt, doch die sozialen und politischen Probleme liegen tiefer. Deindustrialisierung, Korruption und Perspektivlosigkeit haben die gesellschaftliche Linke geschwächt. In den vergangenen Jahren hat es jedoch eine Reihe von Bewegungen und Protesten gegeben, die in Widerspruch zu den Regierungen der Serbischen Fortschrittspartei seit 2012 stehen.
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»Ich bin unter 30, und seit ich geboren wurde, herrscht Krise. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der es anders war«, sagt Galina Maksimović. Sie kommt aus Zrenjanin, rund 80 Kilometer nördlich von Belgrad, lebt aber in der serbischen Hauptstadt, wo sie auch politisch tätig ist. Sie schildert ein Gefühl, das viele Serbinnen und Serben teilen. Insbesondere junge Menschen verlassen das Land – Prognosen zufolge wird die Bevölkerung bis 2050 im Vergleich zu 1990 um ein Viertel geschrumpft sein.

Serbien ist ein umkämpfter Ort. China, Russland, verschiedene arabische Staaten und die EU verfolgen Interessen auf dem Balkan. Seit 2012 regiert die nationalkonservative Serbische Fortschrittspartei (SNS), die unter Staatspräsident Aleksandar Vučić versucht, sich außen- und wirtschaftspolitisch alle Optionen offenzuhalten. Für die Menschen im Land heißt das Überausbeutung von Arbeitskraft, soziale Ungleichheit und Abhängigkeit vom Parteiapparat.

»Der Umweltkonflikt ist Teil eines größeren Kampfes für ökonomische und soziale Gerechtigkeit.« Ana Veselinović Lukša, Rosa-Luxemburg-Stiftung Südosteuropa

Doch obwohl der Nationalist Vučić seit zehn Jahren ein autoritäres Regime aufbaut, gab es in den vergangenen Jahren starke Protestbewegungen, etwa gegen Umweltzerstörung oder die Entrechtung von Arbeiterinnen und Arbeitern. Ein Beispiel dafür sind die unter dem Namen »Ökologischer Aufstand« (Ekološki ustanak) organisierten Proteste gegen Kleinwasserkraftwerke und den Lithiumabbau. Die konkreten Konflikte unterscheiden sich, doch ihre Ursachen liegen im ökonomischen Entwicklungsmodell, dem Serbien in den vergangenen 30 Jahren gefolgt ist. Ana Veselinović Lukša, die bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Südosteuropa arbeitet und bei Solidarnost, einer neuen linken Plattform, aktiv ist, bringt es auf den Punkt: »Es ist nichts mehr übrig, das noch privatisiert werden könnte – jetzt muss man also natürliche Ressourcen ausbeuten. In diesem Sinne ist der Umweltkonflikt relevant als Teil eines größeren Kampfs für ökonomische und soziale Gerechtigkeit.«

Die Kriege in den neunziger Jahren, die den Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens besiegelten, und die korrupte Herrschaft Slobodan Miloševićs, unter dessen Ägide ein hybrides System eingeführt wurde, das staatlich gelenkte Unternehmen mit kapitalistischen Produktions- und Wettbewerbsverhältnissen kombinierte, hatten die einst produktive serbische Wirtschaft zerstört. Heutzutage dominieren undurchsichtige Eigentumsverhältnisse in einem Staat, der eng verbunden ist mit der organisierten Kriminalität. Serbien wurde zur ökonomischen Peripherie degradiert, ein Reservoir billiger Arbeitskraft, das landwirtschaftliche und einfache industrielle Güter produziert sowie Dienstleistungen anbietet. Die SNS hat derweil den Staat durchdrungen – mit fast doppelt so vielen Mitgliedern wie die CDU in Deutschland, bei einer Bevölkerung von nur sieben Millionen Menschen. Eine linke Opposition gibt es kaum. Mit dem Bündnis »Moramo!« (Wir müssen!), das unter anderem aus den genannten Protesten entstanden ist, wurde jedoch im April zum ersten Mal eine links-grüne Kraft ins nationale sowie ins Belgrader Parlament gewählt.

Ausnutzung niedriger Sozial- und Umweltstandards
Spätestens in der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 vertiefte die serbische Regierung ihre Beziehungen zu Russland und China, die neue Kre­dite und Investitionen versprachen. Circa 80 Prozent der chinesischen Investitionen in der Region fließen einer Recherche des Netzwerks Balkan Insight zufolge heutzutage nach Serbien, wo die niedrigen Sozial- und Umweltstandards ausgenutzt und vielfach unterlaufen werden.

Ein aufschlussreiches Beispiel bietet Zrenjanin. In der Stadt im Nordosten Serbiens leben rund 76 000 Menschen. Seit 2004 ist es dort aufgrund der hohen Arsen-Belastung behördlich verboten, das Leitungswasser zu trinken. Trinkwasser müssen sich die Bewohnerinnen und Bewohner in Flaschen und Kanistern kaufen. Mit dem Bau einer gigantischen Reifenfabrik des chinesischen Konzerns Linglong Tire in der Sonderwirtschaftszone im Verwaltungsgebiet Zrenjanin erhöht sich die Umweltbelastung noch weiter. Im März 2019 wurde der Grundstein für den Bau gelegt, doch erst im November 2021 wurde eine Frau aus Zrenjanin auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der etwa 500 vietnamesischen Arbeiter aufmerksam, die das Werk errichten. Die Arbeiter waren mit falschen Versprechen von Vietnam nach Serbien gelockt worden. Wenn ihre Arbeit in Zrenjanin verrichtet ist, ziehen sie wahrscheinlich weiter gen Westen.

Die Frau wandte sich an eine Journalistin, die mit lokalen Gruppen, unter anderem dem Sozialforum Zrenjanin, Kontakt zu den Arbeitern aufnahm und über die Situation berichtete. Die Arbeiter seien zu diesem Zeitpunkt vier Monate angestellt gewesen, ihre Ausweisdokumente seien ihnen abgenommen worden, sie arbeiteten jeden Tag zwölf bis 14 Stunden und lebten in heruntergekommenen Baracken, berichtet Tara Rukeci vom Sozialforum Zrenjanin. »Es war die Hölle«, bestätigt Galina Maksimović, die zum Belgrader Unterstützungskreis gehört. Die Arbeiter durften sich nicht frei bewegen, private Sicherheitsfirmen verhinderten Kontaktaufnahme nach außen.

Zu dieser Zeit drohte ein kalter Winter. »Die meiste Zeit verbrachten sie nur mit Flipflops an den Füßen«, so Maksimović. »Wir haben uns mit ihnen in Verbindung gesetzt, um zu erfahren, was sie brauchen«, führt Rukeci aus. Daraufhin organisierten Gruppen aus Zrenjanin, Novi Sad und Belgrad Winterkleidung, Lebensmittel, Hygieneprodukte. Zudem versuchten sie, Druck auf Institutionen auszuüben und an Informationen zu gelangen. »Anträge wurden geschrieben, Dutzende Briefe versendet«, so Rukeci. Reaktionen, ergänzt Maksimović, seien ausgeblieben. Durch Nachfragen bei der serbischen Arbeitsagentur konnten die unterstützenden Organisationen herausfinden, dass für einen Großteil der Arbeiter keinerlei Arbeitsgenehmigung erteilt worden war und dass die übrigen Genehmigungen auf Basis von Verträgen ausgestellt worden waren, die dem serbischen Arbeitsrecht widersprechen. So wurden unter anderem 26 Arbeitstage im Monat festgeschrieben und das Recht zu streiken entzogen. »So gut wie alle arbeiteten also unter illegalen Bedingungen«, fasst Maksimović zusammen.

Rukeci und Maksimović berichten auch, wie das Management versucht habe, durch Einschüchterung den Kontakt nach außen zu unterbinden, ohne jedoch die Organisierung der Arbeiter gänzlich aufhalten zu können. Ende 2021 streikten etwa 60 von ihnen für einige Stunden. »Es war ein ziemliches Chaos, aber solidarisch von Arbeitern und Aktiven organisiert«, so Maksimović. Die Männer bekamen ihre Ausweise zurück, erhielten weniger desolate Unterkünfte, sie wurden bezahlt und ihre Arbeitszeit wurde reduziert. Es ist nur ein kleiner Erfolg, wie Rukeci beklagt: »Es handelt sich um ein Verbrechen, Menschenhandel. Von den Behörden gibt es nur nur Stillschweigen oder Lügen. Alles, was jetzt passieren müsste – Inspektionen, gerichtliche Untersuchungen –, verzögert sich«, und dies habe mit den korrupten Strukturen zu tun. »Die Ausbeutung von Arbeitern und Umwelt in einem solchen Ausmaß kann nicht ohne Verbindungen in die Regierungsstrukturen geschehen«, meint sie.

Kämpfe für das Recht auf Wasser
In derartigen Investitionsprojekten zeigen sich das von der SNS-Regierung und ihren Vorgängerinnen vorangetriebene Entwicklungsmodell sowie die enge Verflechtung politischer und ökonomischer Führungsschichten. Die nur teilweise, intransparent und rechtlich stümperhaft vollzogenen Privatisierungen der neunziger und nuller Jahre haben vor allem jene begünstigt, die über entsprechende Kontakte in den Staatsapparat verfügten. Betriebe wurden zu geringen Preisen verkauft, Vermögenswerte entnommen, die Produktion nach wenigen Jahren eingestellt. Um die Deindustrialisierung zu kompensieren, bemüht sich die SNS-Regierung um ausländische Direktinvestitionen. Diese werden zum Beispiel durch staatliche Lohnzahlungen oder Steuererlasse subventioniert, die Enteignung und die Umwidmung von Land werden staatlich erleichtert, Ausnahmekonzessionen entgegen geltenden Regularien vergeben.

So lief es bei der Reifenproduktion von Linglong und auch im Falle der Kleinwasserkraftwerke. 2017 wurde öffentlich, dass die Regierung etwa 850 solcher Anlagen plante, bei denen Wasser aus Flüssen per Pipeline zu Kraftwerken abgeleitet werden sollen; viele Flüsse könnten dadurch nahezu ausgetrocknet werden. Die Menschen in ländlichen Gegenden sind auf die Flüsse angewiesen – als Trinkwasserquelle und für die Landwirtschaft. Selbst in ausgewiesenen Schutzgebieten wie dem Naturpark Stara Planina sah die Regierung circa 60 dieser Anlagen vor.

»Die Ausbeutung von Arbeitern und Umwelt in einem solchen Ausmaß kann nicht ohne Verbindungen in die Regierungs­strukturen geschehen.« Tara Rukeci, Sozialforum Zrenjanin

Doch die betroffene Bevölkerung organisierte sich vielfach und mit Hilfe von NGOs vernetzten sich die in den Bergregionen zerstreuten Initiativen. Zentral dabei war die NGO Pravo na vodu (Recht auf Wasser), für die Iva Marković und Žaklina Živković tätig sind. Die beiden erzählen im Belgrader Büro der NGO, wie innerhalb eines Jahres circa 70 lokale Initiativen mit dem ersten »Ökologischen Aufstand« im Juni 2020 zu einer Bewegung wurden, die über 10 000 Menschen aus dem ganzen Land auf die Straße brachte. »Umwelt war vorher ein Thema, bei dem die Leute immer sagten: ›Wir haben nichts mit Politik am Hut, das ist nicht politisch.‹ Wir haben uns dafür eingesetzt, dass ökologische Kämpfe als politische Kämpfe anerkannt werden«, so Mar­ković. Auch Veselinović (Solidarnost/Rosa-Luxemburg-Stiftung) unterstreicht das große Potential der ökologischen Bewegungen: »Der common sense war in diesem Fall auf unserer Seite. Es war ein Konflikt mit der richtigen antagonistischen Linie – ein Investor, der für wenig Geld die Flüsse in Plastikrohre zwängt und dabei das Leben im Fluss und um den Fluss herum zerstört. Das war ein Moment, der es ermöglicht hat, weitere Umweltthemen zu politisieren.«

Die Regierung habe wie üblich reagiert. »Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie dich aus, dann beleidigen sie dich und dann nehmen sie dich ernst«, so Marković. Als die mediale Aufmerksamkeit wuchs, schwenkten Ministerpräsidentin Ana Brnabić und Präsident Vučić um, sie verhöhnten die Bewegung nicht mehr öffentlich und sagten zu, die Forderungen zu prüfen. Doch »nach zwei, drei Monaten sind sie wieder in den Modus der Beleidigungen zurückgefallen«, konstatiert Živković wenig überrascht.

Arsen und Lithiumabbau
Gleichzeitig entzündete sich ein weiterer Konflikt: Im Westen Serbiens schritten Vorbereitungen für den Abbau von Lithium voran. Rio Tinto, ein Bergbaukonzern mit Sitz in London und Melbourne, will sich mit Hilfe der serbischen Regierung den Zugriff auf das begehrte Leichtmetall sichern. Dieses wird unter anderem für Lithium-Ionen-Akkumulatoren gebraucht und ist daher wichtig für die Elektroautomobilindustrie. Abgebaut werden bislang vor allem die Vorkommen in Australien, Chile und China, doch auch in Europa gibt es Lithium. Schon 2001 eröffnete Rio Tinto eine Tochterfirma in Serbien. Über Jahre nahm der Konzern Einfluss auf die dortigen Gemeinden und versprach einen »grünen« Bergbau. »Sie bieten kleine Jobs, befristet, gering bezahlt, aber sie sind höflich. Eine Frau sagte einmal: Wenn sie die Umwelt beim Bergbau so behandeln wie uns als Angestellte, dann wird alles in Ordnung sein«, berichtet Iva Marković.
Doch dann wurde deutlich, wie umweltschädlich der Lithiumbergbau ist. Wegen des hohen Arsengehalts in dem Erz befürchten Umweltgruppen eine Verschmutzung der Grundwasserreserven, was die Trinkwasserversorgung noch über die Region hinaus beeinträchtigen würde. Viele Menschen begannen, Widerstand gegen das Projekt zu leisten.

Die Initiativen konnten schnell in die Umweltbewegung eingebunden werden und Ende 2021 kam es zum zweiten »Ökologischen Aufstand«: Es fanden Großdemonstrationen sowie serbienweite Straßenblockaden statt, um gegen den umweltschädlichen Bergbau zu protestieren. Marković erläutert: »Wir wollten keinen Diskurs unterstützen, der sich ausschließlich gegen ein Unternehmen richtet. Das ist taktisch legitim, aber es geht um unsere Institutionen, um die serbische Regierung. Wir werden gegen die Leute kämpfen, die Rio Tinto das Land bereitwillig verkaufen.« Die massenhafte Mobilisierung erreichte, dass die Regierung eine Reform des Enteignungsgesetzes vorerst stoppte und Rio Tinto die Abbaulizenz entzog. Dass die Auseinandersetzung damit vorbei ist, glauben Marković und Živković jedoch nicht. »Die Menschen werden weiterkämpfen, sie sind verzweifelt, denn es wird ganz klar weitergearbeitet«, sagt Erstere. »Rio Tinto kauft wei­ter Flächen auf, als sei nichts gewesen«, ergänzt ihre Kollegin.

Vier weitere große Firmen sind an Bor, Lithium und Gold interessiert und es steht zu vermuten, dass die SNS-Regierung an ihren Plänen festhält. Unterstützung dürfte sie bei der EU finden – in deren Bestrebungen nach einer »grünen« Transition wird die Industrie in wachsendem Ausmaß auf Lithiumquellen außerhalb der chinesischen und australischen Oligopole, nah am Ort der Weiterverarbeitung, angewiesen sein. Ana Veselinović verspürt trotzdem Optimismus: »Manchmal fühlt man sich vollständig ohne Hoffnung, dass sich irgendetwas jemals ändert, aber der Zauber der Gesellschaft besteht darin, dass eine Art von Beschleunigung zu jedem Zeitpunkt eintreten kann, und das ist mit den Mobilisierungen gegen die Wasserkraftwerke und gegen Rio Tinto ­passiert.«

Wie es langfristig weitergeht, ist unklar. Der Weg der Transformation, den Serbien nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens eingeschlagen hat, habe, so Galina Maksimović, jede Erinnerung dar­an getilgt, dass sich eine Gesellschaft auch anders organisieren lasse. »Es ist unmöglich, sich vorzustellen oder überhaupt daran zu erinnern, dass es anders sein könnte. Dass es anders war«, meint sie. Auch Tara Rukeci ist pessimistisch: »In einem deindustrialisierten Land, ruiniert durch Privatisierungen, dessen Wirtschaft von ausländischen Investitionen abhängt, können wir nicht erwarten, dass sich die Position von Arbeiterinnen und Arbeitern verbessert. Ich befürchte, dass es in Zukunft eher schlechter wird, Ausbeutung und Mangel werden zunehmen.«

Während die SNS auch nach den Wahlen im April weiter regiert, bemüht sich die gesellschaftliche Linke in Serbien um eine vorsichtige Neuformierung. Ob die von Veselinović beobachtete Beschleunigung der gesellschaftlichen Politisierung für linke Strukturen zum Vorteil werden kann, hängt auch von der Reaktion der Regierung ab, denn die jüngsten Bewegungen stehen in Widerspruch zum autoritären Gesellschaftsumbau.