Der Autor setzt sich mit der Kritik aus Osteuropa an linkem »Westplaining« auseinander

Western Leftists Explain Things to You

Die Reaktion der politischen Linken in Westeuropa und den USA auf den russischen Angriffskrieg hat bittere Kritik hervorgerufen. Besonders Osteuropäer beklagen den Dogmatismus und die Ignoranz der westlichen Linken.
Disko Von

In ihrem Aufsatz »Men Explain Things to Me« beschreibt die feministische Autorin Rebecca Solnit, wie sie einmal vergeblich versuchte, einem leutseligen Herrn begreiflich zu machen, dass sie das Buch, dessen Inhalt er ihr gerade in aller Ausführlichkeit referierte, durchaus schon kenne; sie sei schließlich die Verfasserin. Für diese männertypische Melange aus Topcheckertum, Ignoranz und Paternalismus prägte Solnit das schöne Portmanteau »mansplaining«, das sich, sehr zum Ärger der auf Twitter und Facebook allgegenwärtigen Dicke-Hose-Fraktion, bald großer Beliebtheit erfreute. Inzwischen kursieren zahlreiche weitere splaining-­Varianten (eine der schönsten: »Klansplaining«, für die Diskursmarken der Sorte »Ich bin nicht rassistisch, aber … «). Die jüngste nun heißt: »Westsplaining«.

Bekannt gemacht wurde der Begriff vor allem von der polnischen Anarchistin Zosia Brom, deren Polemik »Fuck Leftist Westsplaining« in der Zeitschrift Freedom News erschien. Anlässlich des Austritts der linken polnischen Partei Lewica Razem aus der von Yanis Varou­fakis, Slavoj Žižek und anderen gegründeten Sammlungsbewegung DiEM25, die sich nicht zu einer vorbehaltlosen Parteinahme gegen den russische Angriffskrieg hatte durchringen können, rechnete Brom mit der Borniertheit westlicher Linker in Bezug auf Ost­europa ab.

Der Drang der Osteuropäer in die Nato und die EU stellt für die Westlinke eine narzisstische Kränkung dar.

Gemeint ist damit vor allem das völ­lige Desinteresse an den Erfahrungen jener, die sie über die Weltlage belehren zu müssen meinen: die Unfähigkeit zu begreifen, dass für Linke in den ehemals realsozialistischen Staaten die Nato nicht bloß ein Instrument kapitalistischer Machtsicherung darstelle, sondern zugleich den einzig real existierenden Schutz vor russischen Großmachtgelüsten. Ganz ähnliche Kritik an der Verkehrung Russlands zum bloßen Opfer »des Westens«, wenn nicht gar zum antiimperialistischen Heros findet sich auch in zahlreichen weiteren Stellungnahmen polnischer, tschechischer, ukrainischer oder russischer Linker, die seit Kriegsbeginn erschienen sind. Der ukrainische Historiker und Aktivist Taras Bilous kennzeichnet dies in seinem »Offenen Brief aus Kiew an die westliche Linke« als den »Antiimperialismus der dummen Kerle« (auf Deutsch veröffentlicht unter dem Titel »An die Linke im Westen«).

Dem ist schwer zu widersprechen. Die übliche Erzählung zum Krieg, ob von der Linkspartei, den Democratic Socialists of America (DSA) oder dem Corbyn-Flügel der Labour Party, geht ja ungefähr so: Der russische Überfall auf die Ukraine sei zwar nicht so richtig toll, weil völkerrechtswidrig. Aber ­mindestens mitverantwortlich, wenn nicht gar hauptschuldig sei in Wahrheit die Nato, deren Osterweiterung Russland in die Enge getrieben und ihm im Grunde gar keine andere Wahl als den Gegenschlag gelassen habe. ­Zumal der Westen 2014 in der Ukraine den prorussischen Präsidenten habe wegputschen lassen, was den Konflikt überhaupt erst vom Zaun gebrochen habe.

Deswegen müsse nunmehr jede Unterstützung der ukrainischen Seite, ob durch Waffenlieferungen oder Sanktionen, tunlichst unterbleiben. Stattdessen werden wichtigtuerisch »diplomatische Lösungen« gefordert, die im ­Wesentlichen darin zu bestehen scheinen, die Neutralität der Ukraine auf Dauer festzuschreiben, während man sich im Hinblick auf die sonstigen Kriegsziele Russlands wohlweislich in Schweigen hüllt.

Das »Westsplaining« ist darum immer auch ein »Eastsplaining«, das heißt eines, das sich in die Perspektive der russischen Machthaber einfühlt. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin gibt es bekanntlich nur einen Konflikt mit dem Westen, nicht mit der Ukraine, die als selbständige Entität schließlich nur eine Erfindung der Bolschewiki sei. Während also die linken Strategen auf dem Risiko-Brett die imaginären Armeen verschieben und die Ukraine als »Pufferstaat« für »legitime russische Sicherheitsinteressen« designieren, bleiben die dort lebenden Menschen außen vor. Eine Rolle spielen sie weder als heldenhaft »kämpfendes Volk«, wie Linke es sonst so lieben, noch überhaupt als Wesen aus Fleisch und Blut, die gemäß ihren je konkreten Interessen handeln. Nicht einmal als »Opfer des Imperialismus« dürfen sie firmieren, obwohl all das Gerede von »Nato-Expansion« und »CIA-Putsch« doch genau das nahelegen müsste. Sie treten entweder bloß als willenlose Marionetten oder aber als finstere Nazis auf; sie haben, mit anderen Worten, der Westlinken nichts zu sagen, und genau das macht die Parallele von »man-« und »Westsplaining« so schlagend.

Auf diese Vorwürfe hat wiederum Varoufakis reagiert. In einer Erklärung, die zur Parteidisziplin mahnt, legt er zunächst einmal, wie man das heute so nennt, seinen Sprechort offen: Als unter der vom Westen gestützten Militärdiktatur geborener Grieche sei er nun einmal auf die Nato weniger gut zu sprechen als die Genossinnen und Genossen aus Osteuropa. Das ist die Gefahr dabei, sich auf die je besondere Erfahrung zu berufen: Bleibt man dabei stehen, verkommt sie schnell zur persönlichen Meinung.

Natürlich hat Varoufakis vollkommen recht damit, dass aus der bloßen Tatsache, dass die übergroße Mehrheit der Osteuropäer die Nato nicht als Invasor wahrnimmt, sondern als Garanten von Frieden und Freiheit, überhaupt nichts folgt: Linke müssen schließlich ständig gegen das argumentieren, was die übergroße Mehrheit so denkt. Aber um das zu tun, muss man es zumindest zur Kenntnis nehmen können.

Viel ist ja dieser Tage von der Notwendigkeit zu hören, Imperialismus­theorie zu betreiben, und allerorten wird einem angeraten, doch dringend Lenin zu lesen. Aber Ereignisse wie die von 2014, als große Teile der ukrainischen Bevölkerung der Staatsmacht mit dem erklärten Ziel trotzten, den Beitritt zu einer kapitalistischen Ausbeutungsgemeinschaft doch noch zu erzwingen (während andere Teile wiederum lieber einer alternativen, wenn auch weniger mächtigen kapitalistischen ­Ausbeutungsgemeinschaft, der Eurasischen Wirtschaftsunion nämlich, beigetreten wären), sind im antiimperialistischen Koordinatensystem schlicht nicht vorgesehen. Und weil sie nicht vorge­sehen sind, müssen sie permanent überblendet werden mit Bildern aus der Vergangenheit, ob aus Chile 1973 oder aus dem Großen Vaterländischen Krieg.

Ob die Hoffnungen, welche die Bevölkerungsmehrheit in »den Westen« setzt, illusorisch sind oder doch pragmatisch, ist in diesem Zusammenhang ganz zweitrangig. Denn egal, wie illusorisch, beschränkt oder auch schlicht hässlich sich viele dieser Wünsche und Bedürfnisse ausnehmen mögen, für die Westlinke stellen sie eine narzisstische Kränkung dar. Der Drang in die Nato und die EU konfrontiert sie nicht bloß mit der eigenen Ohnmacht, der Tatsache also, dass mehr und Besseres als die Sehnsucht nach etwas kommoderen Ausbeutungsverhältnissen derzeit nirgends im Angebot ist. Er lässt auch zugleich die Phantasien, mit deren Hilfe man sich über diese Ohnmacht hinwegsetzt, platzen. Da prangert man als integrer westlicher Metropolenlinker unermüdlich die Machenschaften der Herrschenden an – und statt es einem zu danken, haben die Geknechteten und Entrechteten nichts Besseres zu tun, als sich zu den stärksten Bataillonen zu flüchten.

Und nun? Zosia Brom fordert, die Westlinken mögen doch bitte einfach mal die Klappe halten. Das kann man gut nachvollziehen. Aber ob wirklich alles besser würde, wenn die Schlau­schnacker, statt dem Rest der Welt permanent die Welt zu erklären, anfingen, beflissentlich ukrainische Schriftstellerinnen und belarussische Marxisten zu rezipieren, darf bezweifelt werden. Nach dem 11. September 2001, manch eine wird sich vielleicht noch erinnern, begannen plötzlich alle möglichen deutschen Linken, den Islam zu studieren; dass das daraus hervorgegangene Expertentum die Welt besser gemacht hätte, wird heute kaum jemand behaupten wollen. Und wer weiß, die nächste Krise findet womöglich in Ostasien statt, und dann hätte man statt Jewhenija Bjelorussez besser Qiu Miaojin gelesen.

In ihrem klassischen Aufsatz »Can the Subaltern Speak?«, einer Kritik des »Westsplaining« avant la lettre, legte Gayatri Chakravorty Spivak dar, warum die Alternative zum Sprechen für die Subalternen nicht das Zuhören ist, sondern das Sprechen mit ihnen: ein Sprechen also nicht im Namen der anderen, sondern im eigenen. Dazu sollte man freilich ein bisschen mehr zur kapitalistischen Totalität zu sagen haben als bloß Parolen aus zweiter Hand.