Im Rausch wurden schon viele Wahrheiten entdeckt

Wie viel veritas liegt im vino?

Nicht selten haben Menschen, die Drogen konsumieren, den Eindruck, im Rausch zu einer ultimativen Erkenntnis gelangt zu sein. Es heißt sogar, im Wein liege Wahrheit – oder war es doch im LSD? Vielleicht war es aber auch ganz anders, wer kann sich da am nächsten Tag schon dran erinnern?

Die Sache mit der Wahrheit ist schon länger ein Problem. Vor Leuten, die sich in ihrem Besitz wähnen oder sie zu kennen glauben, sollte man sich ­hüten. Das gilt, genauer beschaut, auch für diesen Text, also für diesen Satz, weil er beansprucht, eine Wahrheit über die Wahrheit auszudrücken. An diesem Dilemma rätseln Philosophie und Sozialwissenschaften seit Jahrhunderten herum. Begriffe wie Dialektik oder Dekonstruktion wollen der Selbstwidersprüchlichkeit Erkenntnisse abringen, andere wiederum wollen nur noch kleine Wahrheiten im Unterschied zur einer veralteten großen Wahrheit gelten lassen. Und dann nehmen Menschen Drogen.

Wenn die Kiste mit der Wahrheit schon so schwierig ist, bleibt immer noch die altbekannte Tatsache, dass im Wein Wahrheit liegt. Das wussten schon die Menschen im alten Rom. Seither hält sich beharrlich die Idee, im Rausch – welcher Art auch immer – könne der Knoten durchschlagen werden. Doch weit gefehlt. Oder auch nicht, denn es mag sein, dass der eine oder die andere so etwas wie eine oder gar die Wahrheit im Rausch gesehen oder erlebt hat. Nur sinnvoll darüber sprechen konnte noch niemand.

Es mag sein, dass der eine oder die andere so etwas wie eine oder gar die Wahrheit im Rausch gesehen oder erlebt hat. Nur sinnvoll darüber sprechen konnte noch niemand.

Ein illustres Beispiel: William James, Mitbegründer des philosophischen Pragmatismus, kann sich einer berauschten Einsicht ins Metaphysische nicht erwehren, wie er in einem kurzen Essay aus dem Jahr 1882 verrät: »Für mich, wie für jede andere Person, von der ich gehört habe, besteht das Grundlegende der Erfahrung (des Rauschs) in dem unerhört aufregenden Gefühl einer eindringlichen metaphysischen Erleuchtung.« Nicht weniger als die »Wahrheit öffnet sich dem Blick in immer neue Tiefen, deren Offenkundigkeit einen beinahe erblinden lässt«. James erkennt im Lachgasrausch »alle logischen Beziehungen des Seins in einer offenkundigen Subtilität und Unmittelbarkeit, für die es im normalen Bewusstsein nichts vergleichbares gibt«.

Allerdings antizipiert James das Problem: Wie sollte sich die berauschte Erleuchtung in Sprache pressen lassen? »Diese Wahrheit aber verblasst oder entschlüpft im Augenblick des Eintretens, und bleiben Worte übrig, in die sie sich zu kleiden schien, so erweisen sie sich als allerhöchster Unsinn.« Nur der mehr oder weniger geheimnisvolle Eindruck einer gesicherten metaphysischen Erkenntnis bleibt unzweifelhaft zurück: »Trotzdem bleibt das Gefühl einer tiefen Bedeutung bestehen, und ich kenne mehr als eine Person, die davon überzeugt ist, dass wir in der Lachgas-Trance eine echte metaphysische Offenbarung haben.« Er hat sie also erlebt, die Wahrheit, nur kann er nichts berichten außer ihre Existenz, schon gar nichts Vernünftiges.

So oder so ähnlich erging es den meisten Literaten und Intellektuellen des 19. und 20. Jahrhunderts (ja, die Rede ist einmal mehr ausschließlich von Männern, leider), die den Versuch unternahmen, im Rausch der Wahrheit habhaft zu werden: von Thomas De Quinceys Opiumschaukel über Charles Baudelaires künstliche Paradiese bis zu Timothy Leary oder Allen Ginsberg, die keinen Unterschied zwischen Mikro- und Makrokosmos, zwischen Individuum und Universum mehr erkennen können. Was auch immer das bedeuten soll. Nur wenige, etwa Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin oder William S. Burroughs, erkannten, dass der Rausch selbst und folglich auch die Wahrheit als the unspoken thing streng im Bereich des Subjektiven und damit des Phantasmatischen zurückbleibt.

»Aber die Kunst!«, mag der bildungsbürgerliche Geist emphatisch einwerfen. Die Kunst vermittelt doch zwischen Ästhetischem und Wahrem und ist letztlich irgendwie auch Rausch oder zumindest rauschhaft. Nun ja, die Kunst mag ästhetische Wahrheit bereithalten. Damit verlagert sie das Problem jedoch nur von der Erkenntnis im Rausch zur Erkenntnis im Ästhetischen. Über beide lässt sich schwerlich (vernünftig) sprechen. Die Pragmatik des Sprechens wird letztlich immer defizitär bleiben und nur bedeutungslose Phrasen produzieren, wenn von der einen Wahrheit die Rede ist.

Die Pointe könnte sein, dass in vino womöglich doch die meiste veritas liegt. Besoffen geben Leute bisweilen kleine Wahrheiten preis oder lassen Emotionen zu, die sonst der Selbstkontrolle zum Opfer gefallen wären. Oder sie zeigen Charakterzüge (und damit Untiefen), die nüchtern ebenfalls verborgen bleiben. Das Nervengift Alkohol jedenfalls lässt hier und da tief blicken. Und die Psychotherapie hat beispielsweise mit MDMA einen Stoff im Blick, der durchaus zum Beispiel die Fesseln toxischer Männlichkeit lockeren kann.

Je psychoaktiver oder halluzinogener jedenfalls eine Droge, desto lustiger oder alberner werden die Versuche, the unspoken thing doch auszusprechen – etwa in den bekifften Momenten, in denen Zusammenhänge plötzlich offenkundig scheinen. Dumm nur, dass am nächsten Tag nicht mehr so klar ist, ob die simplen Gedankengänge, die noch in Erinnerung sind, in Wirklichkeit viel komplizierter waren, oder ob es dem Kifferbrain, leistungsmäßig am unteren Limit, nur so vorkam, als sei Banales auf dem Niveau von Werner Heisenberg.

Wenn schließlich von eher starken Halluzinogenen die Rede ist, zum Beispiel von Meskalin oder LSD, kann es gefährlich werden. Leute wie Leary, Frontmann der US-amerikanischen Gegenkultur, also der psychedelischen Revolution, sah sich unumwunden im Besitz der – von LSD erhellten – Wahrheit. Seine Sit-ins folgten einem strengen Protokoll, damit alle anderen, die mit ihm LSD nahmen, nicht aus Versehen eine andere als seine Wahrheit erblickten. Und genau hier stieß schon damals die Gegenkultur auf ein Problem: jenes, zwischen Wahrheit und Freiheit zu vermitteln.