Für und Wider eines allgemeinen verpflichtenden Dienstjahres

Soziale Pflicht

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier plädiert für ein verpflichtendes Dienstjahr – ist das sinnvoll für das Gemeinwesen oder staatliche Zwangsmaßnahme?

Alte Leier

Die Idee einer sozialen Dienstpflicht macht Bürgerrechte zu einem Tauschgut, für das Gegenleistungen zu erbringen sind. Für eine solidarische Gesellschaft fehlen die strukturellen Voraussetzungen.

Von Jens Kastner

Seit die Wehrpflicht für Männer in Deutschland 2011 ausgesetzt wurde, wird alle paar Jahre wieder über einen Ersatz diskutiert: ein verpflichtender Arbeitsdienst für alle, der dem Gemeinwesen dienen soll. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Idee kürzlich unter dem Namen »soziale Dienstpflicht« wieder zur Diskussion gestellt. Die Argumente sind nicht neu: Das Pflichtjahr soll den Gemeinsinn stärken, den Austausch mit Menschen anregen, die man sonst nicht treffen würde, und nicht zuletzt soll es solidarisches Verhalten fördern. Durch Zwang soll also Gutes entstehen.

Ganz abwegig ist der Gedanke nicht. Es ist keinesfalls auszuschließen, dass eine Dienstpflicht, so paradox es wegen ihres Zwangscharakters zunächst klingen mag, emanzipatorische Effekte zeitigen würde. Sie könnte beispielswei­se Männer dazu bringen, sich auch einmal mit Care-Tätigkeiten zu beschäftigen, die bei freiwilligem Engagement vorwiegend Frauen erledigen, denen das in ihrer Sozialisation viel eher nahegelegt wird. Der Frauenanteil beim Freiwilligen Sozialen Jahr lag seit 2011 stets bei rund 64 Prozent.

Der Frauenanteil beim Frei­willigen Sozialen Jahr lag seit 2011 stets bei rund 64 Prozent.

Überhaupt sind Gesetze nicht grundsätzlich als Mittel untauglich, um kollektive Verhaltensveränderungen zum Besseren zu bewirken. Regelungen wie das Rauchverbot haben die nicht rauchenden Bevölkerungsgruppen gesundheitlich entlastet und ein gesetzlich eingeführter »Veggie Day« würde den zerstörerischen Fleischkonsum merklich eindämmen. Trotzdem ist die soziale Dienstpflicht aus emanzipatorischer Sicht abzulehnen. Und zwar im Wesentlichen aus drei Gründen.

Erstens gehört es zur Ideologie des bürgerlichen Staats, dass mit Rechten stets Pflichten einhergehen müssen. Diese Ansicht wird bis weit ins liberale und linke Lager von Theoretikern wie Jürgen Habermas und Wolfgang Streeck geteilt, die in diesem Sinne nicht nur die Steuer-, sondern auch die Wehrpflicht als Pendant zu staatsbürgerlichen Rechten interpretiert haben. Diese Tauschlogik ist fragwürdig, denn Grundrechte stehen allen zu, auch ohne Gegenleistung.

Nicht nur erscheint in dieser Konzeption das verbriefte Recht als Belohnung für eine Pflichterfüllung; es wird darüber hinaus unterstellt, der Pflicht nachzukommen, veredele die Praxis und bringe den besseren, nämlich den gemeinwohlorientiert und solidarisch handelnden Menschen hervor. Das ist aber keineswegs erwiesen. Ein solcher Nachweis wäre allerdings zu fordern, um einen pauschalen staatlichen Eingriff in Biographien der Bürgerinnen und Bürger zu rechtfertigen. Eine soziale Dienstpflicht geht schließlich viel weiter als Rauchverbot oder »Veggie Day« und greift in kollektive und individuelle Lebensplanungen ein.

Sich für andere einzusetzen und sein Verhalten am Wohl aller auszurichten, gelingt eher, wenn die Voraussetzungen dafür gut sind. Die kulturellen, sozialen und auch ökonomischen Möglichkeiten dafür zu fördern, wäre sinnvoller als eine Zwangsmaßnahme.

Der zweite Grund, die Dienstpflicht abzulehnen, knüpft an den ersten an. Soziales Engagement ist nämlich nicht allen gleichermaßen möglich. Die Ansicht, dass nach der Schule und vor dem Studium ein bisschen staatlich verordnete Orientierung am Gemeinwohl nicht schaden könne, basiert ja auf einer sehr selektiven Wahrnehmung des Sozialen. Es gibt Bevölkerungsgruppen, Frauen beispielsweise, die mit Sorge- und Pflegearbeit ohnehin allerhand zu tun haben. Und es gibt Milieus, in denen jede Zeit fürs Geldverdienen gebraucht wird. Die Klassenspaltung würde durch die Dienstpflicht nicht ausgeglichen, wie bei der Schulpflicht zumindest dem Prinzip nach, sondern vertieft. Eine für alle Menschen einer Alterskohorte gleichermaßen geltende Pflicht würde folglich die ohnehin Benachteiligten weiter diskriminieren.

Mit der Einführung einer Dienstpflicht würde, drittens, der Pflegenotstand kaschiert und das strukturelle Problem der nicht rentablen Reproduktionsarbeit verstetigt. Solidarisches Handeln sollte nicht auf eine Frage der Moral reduziert und schon gar nicht durch Verpflichtung erzwungen werden. Um Gutes tun zu können, bedarf es institutioneller Rahmenbedingungen, die es begünstigen. Anders gesagt: Damit es in einer Gesellschaft zumindest graduell gemeinwohlorientierter und solidarischer zugeht, braucht es keine Dienstpflicht, sondern besser (oder überhaupt) bezahlte und allgemein wertgeschätzte Pflege-, Care- und Reproduktionsarbeit. Mit diesem Argument lehnt schließlich auch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi den Pflichtdienst ab.

 

Sich sorgen

Die reflexhafte Abwehr des Vorschlags eines verpflichtenden Dienstjahres im sozialen Bereich zeigt, wie sehr neoliberale
Prinzipien bereits verinnerlicht sind. Sorgearbeit kann nicht rein staatlich und kommerziell organisiert werden, denn es geht
bei ihr um das Zusammenleben.

Von Frédéric Valin

An einer gesetzlich vorgeschriebenen Dienstpflicht für junge Menschen gibt es, grob gesprochen, drei Arten von Kritik. Die eine zielt auf die Umsetzung und stellt folgende Fragen: Werden die Diensttuenden ausreichend finanziell ausgestattet, damit jene, die keine elterliche Unterstützung bekommen, ihr Pflichtjahr nicht in Armut verbringen müssen? Warum zielt man nur auf junge Menschen, warum kann man nicht, wie in Frankreich, die Möglichkeit schaffen, für die letzten beiden Jahre vor dem Renteneintritt in eine soziale Einrichtung zu wechseln, um dort zu arbeiten? Wie wird verhindert, dass ein verpflichtendes sogenanntes Soziales Jahr da­zu führt, ungelernten Kräften die Fachpflege aufzubürden? All das sind wichtige Fragen.

Die zweite Art von Kritik beklagt grundsätzlicher, »junge Leute müssten ein Jahr lang dem Staat dienen, und zwar nach dessen Regeln« (Sascha Lobo bei Spiegel Online). An dem Satz ist jede Prämisse falsch: Der Staat gibt nicht die Regeln vor, er sorgt für Rahmenbedingungen. Es wird auch nicht dem Staat zugearbeitet, sondern der Gesellschaft. Unklar ist auch, woher diese Polemik gegen die »Dienerschaft« kommt (wahlweise auch Knechtschaft, Leibeigenschaft, Reichsarbeitsdienst). Vielen ist gerade die Möglichkeit, zwischen der Schulpflicht und den sie erwartenden noch härteren Verpflichtungen auf dem Arbeitsmarkt ein Jahr innezuhalten und zu schauen, wie es weitergeht, hochwillkommen.

Die Professionalisierung hat auch zu einer Rationalisierung geführt: Das Nötigste wird gemacht. So sind die Kennzahlen der Pflege erfüllt, nicht aber die Bedürfnisse der Betroffenen.

Es scheint, als hätten sich die neoliberalen Vorstellungen von Sorgearbeit vollständig in den Köpfen festgesetzt. Dafür spricht die Kritik der dritten Sorte, die vorgeblich für die Pflege Partei ergreift und teilweise auch von Pflegenden selbst vorgebracht wird: Es müsse doch eher das Ziel sein, heißt es, die Pflege finanziell derart auszustatten, dass alle Sorgeaufgaben von professionellen Kräften erledigt werden können. Überhaupt haben Kranke, Alte und Menschen mit Behinderung nur das Beste verdient, und das heiße Pflegende mit Ausbildung, die wissen, was sie tun. Oder anhand von Kriterienkatalogen abhaken können, was sie getan haben; darauf nämlich läuft Professionalisierung oft hinaus.

Schon die Forderung, soziale Arbeit und Pflege ausschließlich in die Hände von spezialisierten Arbeitern zu geben, ist fragwürdig. Es schließt die Vorstellung einer Gesellschaft mit ein, in der jede Sorge für andere Menschen entlohnte Arbeit ist, anstatt eine Grundlage des gesellschaftlichen Lebens darzustellen, die sich nicht vollständig auslagern lässt. Die voranschreitende Professionalisierung der Pflege hat auch zu einer Rationalisierung geführt: Das Nötigste wird gemacht. Für mehr ist weder Zeit noch Personal da. So werden die Kennzahlen der Pflege erfüllt, nicht aber die Bedürfnisse der Betroffenen.

In einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegebenen Studie heißt es: »Im Sommer 2020 lag der Anteil einsamer Menschen im ­Alter von 46 bis 90 Jahren bei knapp 14 Prozent und damit 1,5mal höher als in den Befragungsjahren 2014 und 2017.« Bei über 80jährigen sind es 20 Prozent. Diese Einsamkeit wird sich in einer alternden Gesellschaft verschlimmern, die Unterversorgung auch.

Wen juckt’s? Wenn überhaupt, dann die Angehörigen der Pflegebedürftigen: Mütter, Töchter, Eheleute. Sie sind es, die die soziale Isolation verhindern. In Deutschland sind das je nach Schätzung zwischen 2,5 und 4,7 Millionen Menschen, von denen wiederum 70 Prozent sagen, sie seien stark belastet. Ihnen etwas Sorge abzunehmen, müsste eines der Hauptziele jeder Sozialpolitik sein.

Pflege und Sorgearbeit werden derzeit zu einer rein staatlichen Aufgabe erklärt. Aber Teilhabe an der Gesellschaft ist nichts, was man als Dienstleistung zum Basispaket Überleben beim unternehmerischen Staat dazubucht; es geht um menschlichen ­Kontakt und Umgang, für den man Freiräume und Gelegenheiten schaffen muss. Ein soziales Pflichtjahr könnte solche Freiräume schaffen, zumindest wäre es ein Anfang.