Stammeskonflikte im Sudan

Repression und Tribalisierung

Im sudanesischen Bundesstaat Blue Nile starben bei bewaffneten Auseinandersetzungen mehr als 100 Menschen. Die Protestbewegung wirft dem Militärregime vor, die Konflikte geschürt zu haben.

In der Hauptstadt Khartoum geht die sudanesische Demokratiebewegung seit Monaten auf die Straße. Obwohl die Zahl der Todesopfer steigt, trotzt sie dem Militärregime weiter, während die Konflikte in der sudanesischen Peripherie eskalieren. Das Regime versucht, seine mangelnde Legitimität mit dem Verweis darauf zu kompensieren, dass es notwendig sei, nun für »Ruhe und Ordnung« zu sorgen.

Vor einigen Wochen war es im langjährigen Unruheherd Darfur zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Nomaden gekommen; vorvergangene Woche war es der Bundesstaat Blue Nile an der Grenze zum Südsudan, in dem bewaffnete Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen der Berta und der Hausa mindestens 105 Menschenleben kosteten. Die Forces for Freedom and Change (FFC), die ­Koalition der sudanesischen Protestbewegung, werfen dem Regime in einer Erklärung vor, diese neuen Ausbrüche tribaler Gewalt bewusst geschürt zu haben, um mit der Unsicherheit die eigene Repression rechtfertigen und ­ihren Machterhalt sichern zu können.

Die Vorwürfe sind nicht ganz unplausibel. Die Lage in Blue Nile ist allerdings kompliziert und die Geschichte des Konflikts lang. Die dort lebenden Berta waren eine der wichtigsten ­ethnischen Gruppen des historischen Funj-Sultanats, das im 16. Jahrhundert zum Islam konvertierte. Allerdings behielt es sehr viele vorislamische kul­turelle Elemente bei und seine Bevölkerung fand nie zu einem sehr ortho­doxen Schriftislam. Nach der Eroberung des Sudan durch das Osmanische Reich und der Arabisierung des Zentralsudan ließen sich an den Rändern des ehemaligen Sultanats nichtislamische Gruppen nieder, die in den dortigen Bergen Zuflucht vor arabischen Sklavenhändlern suchten. Sie gehören nun ­gemeinsam mit den Berta zu den marginalisierten Gruppen des Sudan.

Bei den Hausa handelt es sich um späte Zuwanderer aus Westafrika, die einen sehr viel orthodoxeren Islam mitbrachten und die bis ins 20. Jahrhundert hinein aus ihrer Sicht nur spärlich bekleidete lokale Bevölkerung vielfach als rückständig und zu wenig is­lamisch betrachtete. Zu einem handfesten Konflikt wurde das von jeher gespannte Verhältnis allerdings erst seit der Machtübernahme Omar al-Bashirs und seiner islamistischen Gefolgsleute 1989, die versuchten, die Hausa für das Regime einzuspannen und im regionalen Gefüge zu stärken.

Blue Nile blieb allerdings auch als Grenzregion zum Südsudan ein umkämpftes Gebiet. Als der Südsudan 2011 unabhängig wurde, blieb Blue Nile beim Sudan. Das damalige Friedens­abkommen sah eine Befragung der Bevölkerung des Bundesstaats über dessen Status vor, die jedoch bis heute nicht stattgefunden hat. Es ist der einzige Bundesstaat des Landes, in dem mit Malik Agar ein Kandidat der SPLM-Nord, also der ehemaligen Guerillabewegung des Südens, die Wahlen gewann; Agar wurde Gouverneur, aber gleich wieder vom Regime abgesetzt. Er führte daraufhin einen Guerillakrieg, der bis zur Revolution 2019 andauern sollte. Der Friedensprozess mit Agars Fraktion der SPLM-Nord steht seit dem erneuten Militärputsch im Oktober 2021 zur Disposition. Das neue Regime, das teilweise auf dem alten basiert, versucht nun aber möglicherweise, alte Netzwerke wieder zu mobilisieren.

Der gegenwärtige Konflikt begann jedenfalls damit, dass die Hausa der Region versuchten, ein eigenes »Emirat« zu gründen, das eine Art ethnische lokale Selbstverwaltung der Hausa darstellen sollte, sich mit dem Begriff des Emirats aber auch auf den Islam bezog. Auf das Territorium, das die Hausa für ihr Emirat forderten, erheben al­lerdings auch die Hamaj, eine Untergruppe der Berta, Anspruch. Deshalb lehnten die Berta und andere lokale Gruppen die Emiratspläne strikt ab, das Regime hingegen unterstützte sie zumindest stillschweigend. In den ­folgenden Kämpfen verloren mindestens 105 Menschen ihr Leben.

Was sich genau in der schwer erreichbaren Region abgespielt hat, dringt ­wegen der schwierigen Gesamtlage erst nach und nach an die Öffentlichkeit. Vieles deutet darauf hin, dass der Konflikt eine ethnisch-tribale, eine politische und vermutlich auch eine gewisse religiöse Komponente hatte. Es ist al­lerdings weniger ein Konflikt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen als einer zwischen verschiedenen Islamverständnissen, namentlich zwischen ­einem, das dem (post)islamistischen Islamverständnis des Regimes nahesteht, einerseits und dem lokalen Alltagsislam, der sich mit einer Reihe vorislamischer Traditionen mischt, andererseits.

Die Lage ist auch deshalb so gefährlich, weil das Land in einer politischen und ökonomischen Krise steckt. Das Regime versucht nun, den Konflikt propagandistisch zu nutzen: Ohne eine starke Hand werde der Sudan weiter an seinen Rändern zerfallen und in tribale Gewalt abgleiten. Doch nach Ansicht der demokratischen Opposition ist das Gegenteil der Fall. Demnach sät das Regime selbst die Gewalt, um sich dann mit Verweis auf diese zu legitimieren.

Immer deutlicher werden jedenfalls die fortschreitende Regionalisierung der Konflikte und die zunehmende Gewalttätigkeit der Auseinandersetzungen im Land. Während sich die Demokratiebewegung in den Städten trotz der starken Repression des Regimes immer noch als zivile Bewegung konsti­tuiert, drohen die Konflikte in der Peripherie immer mehr in multiple Bürgerkriege abzugleiten, derer ein durch nichts legitimiertes Regime auch durch rohe Gewalt nicht Herr wird.