Das Unbehagen an Ausbeutung und Entfremdung muss sich mit der Idee einer befreiten ­Gesellschaft verbinden

Keine einsamen Rebellinnen

Wenn diffuses Unbehagen an den Lebens- und Arbeitsbedingungen auf linke Ideen trifft, können revolutionäre Momente entstehen. Alternative Subkulturen haben dabei in der Vergangenheit Verbindungen hergestellt.
Disko Von

Am 10. Juni 1968 filmten Studierende der Pariser Filmhochschule IDHEC Arbeiterinnen der Fabrik Wonder, die nach drei Wochen Streik die Arbeit wiederaufnehmen sollten. Mehrheitlich hatten die Arbeiter für die Rückkehr zur Arbeit gestimmt, aber nicht alle waren damit einverstanden. Der Film zeigt die Verzweiflung einer Frau, die sich nicht davon überzeugen lassen will, dass mehr Urlaub und ein höheres Gehalt die Qualen und die Entfremdung der Fabrikarbeit aufwiegen.

Während der revolutionären Tage im Mai 1968 in Paris war die Möglichkeit eines anderen Lebens aufgeschienen, insbesondere durch die Massenstreiks und Betriebsbesetzungen, die zeigten, dass keineswegs nur Studierende rebellierten. Diese Filmsequenz zeigt den Moment der Erkenntnis, dass der Kampf vergeblich, die Chance vertan war und der Kapitalismus ein weiteres Mal gesiegt hatte. Und damit auch der Arbeitszwang, denn die Arbeiterinnen, die nichts besitzen und ihre Arbeitskraft veräußern müssen, um zu überleben, können nicht einfach damit aufhören, weil sie die Kritik am System der Lohnarbeit entdeckt haben.

Marlon Brando fährt als »lonely rider« seinem weiblichen »love interest« davon, um nicht in die Falle der Häuslichkeit und der damit verbundenen Verpflichtungen zu geraten.

Lenin hatte behauptet, dass die Arbeiterklasse höchstens zur Entwicklung eines trade-unionistischen Bewusstsein in der Lage sei, also maximal die unmittelbaren Interessen von Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung im Sinn hätte, weshalb es der zentralistischen Partei bedürfe, die das richtige Bewusstsein der Arbeiterschaft hervorbringe und die revolutionäre Führung übernehme. Nun hatte sich gezeigt: Die Politik der Kommunistischen Partei Frankreichs und der von ihr kontrollierten Gewerkschaft CGT war trade-unionistisch, sie hatten den Arbeiterinnenaufstand, der sich direkt vor ihren Augen abspielte, zu mäßigen versucht und dann in reformistisch-korporatistische Bahnen gelenkt. Dagegen fanden viele junge Arbeiterinnen Gefallen an den umstürzlerischen Ideen der Studierenden, die nicht nur die Eigentumsverhältnisse ändern wollten, sondern alle Lebensbereiche.

Die Protestwelle 1968 war auch in Frankreich größtenteils eine Revolte der Jugend gewesen, die die Aussicht das Leben in der Fabrik verbringen zu müssen oder in langweiligen Bürojobs ­gefangen zu sein, auf die Straße trieb.

Doch auch wenn viele damalige Zeitgenossen von der Wucht und Radikalität des Ausbruchs überrascht waren, hatte sich der Unmut der Jugend bei genauerer Betrachtung schon seit Mitte der fünfziger Jahre sehr deutlich gezeigt. Im Rock ’n’ Roll drückte sich der Widerwille gegen die Lohnarbeit und das damit einhergehende normierte Leben von Familie, Häuslichkeit und organisierter Freizeit erstmals aus. Junge, zumeist männliche Arbeiter und Auszubildende lungerten auf städtischen Plätzen und an Straßenecken herum und begannen, scheinbar unmotiviert in der Stadt zu randalieren. Prototyp der als »Halbstarke« diffamierten Jugendlichen und gleichzeitig deren Vorbild war der junge Marlon Brando, der als Johnny in dem Film »The Wild One« mit einer Motorradgang eine biedere amerikanische Kleinstadt aufmischte. Wenn die Figur Brandos im Film auf die Frage, wogegen er denn rebelliere, mit »Whaddya got?« antwortete, grölte das jugendliche Publikum. Ebenso wie für Johnny trug für sie das biedere bürgerliche Leben nicht anders als die proletarische Welt kein Versprechen mehr in sich.

Die Rock-Rebellion, die den kulturellen Hintergrund des weltweiten Aufstands von 1968 bildete, hatte jedoch einen Geburtsfehler: Sie war nicht nur männlich dominiert, sondern auch ihrem Wesen nach männlich.

Ihr Rebell floh vor einer als weiblich empfundenen Konformität. Auch Brandos Johnny fährt als lonely rider seinem weiblichen love interest davon, um nicht in die Falle der Häuslichkeit und der damit verbundenen Verpflichtungen zu geraten. Der Wunsch der weib­lichen Hauptfigur, gespielt von Mary Murphy, der öden Kleinstadtmonotonie durch die Liebe eines Mannes zu entkommen, der sie mitnimmt, bleibt unerhört. Frauen kamen im Rock-Universum nur am Rande vor, als Groupies oder als Dienstleisterinnen für Reproduktionsaufgaben. Denn eigentlich musste der männliche Rebell sich von ihnen fernhalten, um nicht doch noch von ihnen »eingefangen« zu werden. Enge Beziehungen der Protagonisten bestanden primär zu anderen Männern, mit denen das nächste Band-Projekt oder auch nur die gemeinsame Freizeitgestaltung verwirklicht wurde. Gefühle und emotionale Abhängigkeiten störten dabei nur. Nur wenige Frauen konnten sich hier überhaupt etablieren, und das auch nur, wenn sie sich dieser männ­lichen Gruppenstruktur anpassten.

Trotz ihres offen sexistischen Charakters bot die popkulturelle Gegenkultur, die seit den fünfziger Jahren fester Bestandteil jugendlicher Sozialisation war, auch Mädchen eine Möglichkeit des Ausbruchs, und viele ließen sich begeistert von der Idee der Befreiung anstecken. Meist wurden sie noch mehr als Jungs von ihren Eltern reglementiert und mussten oft heimlich zu Konzerten fahren und Partys gehen. Mit dem aktiven Begehren eines Rock- und Popstars lösten die Mädchen sich aus der passiven Rolle der An­gebeteten und fanden in der Fan-Gemeinschaft die Verbindung zu anderen Mädchen. Wenn dieses Verhalten auch vielfach belächelt und die weiblichen ­Elvis- oder Beatles-Fans als hysterisch verlacht wurden, so war dies doch für viele Mädchen der erste Schritt zur Subjektwerdung.

Die Rebellion durch die Subkultur, so prägend sie für die meisten Menschen der Nachkriegszeit war, blieb mehrheitlich auf die Jugend beschränkt. Da es sich vornehmlich um einen individualis­tischen Ausbruch handelte, der höchstens noch mit der Peer Group geteilt wurde, blieb er ohne verallgemeinerbares Ziel und bot keine ­gesamtgesellschaftliche Perspektive.

Erst als 1968 die Idee des gesellschaftlichen Umsturzes und die Denkmöglichkeit einer befreiten Gesellschaft zu der subkulturellen Verweigerung hinzukam, konnte etwas qualitativ Neues entstehen, das eine ganz eigene Kraft entwickelte. Ebenso wie der Rock ’n’ Roll hatte auch ’68 ein Sexismusproblem. Die Protagonisten, wie die Männer der Kommune 1, inszenierten sich als Rockstars, und die Frauen hatten einen dazu passenden schweren Stand. Schließlich ermutigte sie das aber, in Abgrenzung dazu die Frauenbewegung zu initiieren.

Für die meisten linken Bewegungen nach ’68, für die Spontis, für die Alternativbewegung und die Autonomen sowie die Postautonomen und die Anarchisten, war die Verweigerung der gesellschaftlichen Konformität und der Hass auf die Lohnarbeit konstitutiv. Kulturindustriell geprägte Subkulturen wie Punk oder Hardcore blieben ein großes Rekrutierungsfeld für linke Gruppen, denn indem sich Jugendliche mit großer Geste der Gesellschaft verweigerten, konnten sie sich für revolutionäre Ideen und Gedanken öffnen, wenn sie in linken Jugendzentren damit in Kontakt kamen.

Linke Gruppen waren meist genau dann attraktiv für subkulturell geprägte Jugendliche, wenn hier ein alterna­tiver Lebensstil gepflegt wurde. Sich nicht in einen Vollzeitjob reinpressen zu lassen und keine Kinder zu bekommen, gilt bis heute in linken Szenen häufig als notwendig, um sich nicht vom »System« korrumpieren zu lassen. Kein Wunder, dass viele spätestens mit 30 hier ­wieder ausstiegen. Denn wenn das Versprechen auf die befreite Gesellschaft sich nicht erfüllt und kollektive Ansätze einer gemeinsamen Reproduktion sich nur selten realisieren, muss jede und jeder individuell gucken, wie er oder sie an die finanziellen Mittel zum Lebensunterhalt kommt und verbind­liche Beziehungen herstellen kann. So werden linke Gruppen so lange eine männlich geprägte Jugendsubkultur bleiben, wie sie den Zwang zur Lohn­arbeit nicht hinterfragen und das Bedürfnis nach verbindlichen Bezieh­ungen und das Aufziehen von Kindern der individuellen Verantwortung überlassen, statt im Kollektiv zu organisieren.

Derzeit wird der Wunsch nach einem Lebensmodell jenseits von Lohnarbeit und Familie wieder von einer Vielzahl junger Leute artikuliert. Zurzeit sind es vor allem junge Frauen, die merken, dass unter den herrschenden Arbeitsverhältnissen das Privatleben, Beziehungen und die physische und psychische Gesundheit leiden. Oder auch junge Mütter, die sich zwischen Job und Kindererziehung aufreiben. Diese Frauen haben nichts von dem einsamen Rebellen Johnny, sie stellen vielmehr die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt.

In den USA hat der Hashtag »I don’t dream of labor« einige Aufmerksamkeit generieren können und das Phänomen der »Great Resignation« – mehr als 40 Millionen US-Amerikaner kündigten 2021 binnen eines Jahres ihr ­Arbeitsverhältnis – war vielen Zeitungen eine Schlagzeile wert. Die Pandemie hat die Sicht auf Arbeit verändert und einige scheinen erkannt zu haben, dass sie nicht mehr ihr ganzes Leben der Arbeit unterordnen wollen. Sie suchen nach alternativen Möglichkeiten, zu arbeiten und zu leben. Dies ist eine sehr individualistische Bewegung, die jedoch in den Chefetagen der Unternehmen schon Beunruhigung auslöst. Der Kapitalismus schafft es in der Regel, solche Bewegungen zu integrieren, und in einigen Firmen wird schon über job sharing oder radikale Arbeitszeitverkürzung nachgedacht. Bereits jetzt ist klar, dass dies nicht für alle möglich sein wird. Weiterhin werden die meisten Menschen ihr Leben verpassen, weil sie sich für die Lohn­arbeit aufopfern.

Aber wer weiß, ob es nicht doch wieder einmal möglich sein könnte, dieses Unbehagen an Ausbeutung und Entfremdung mit Ideen von einer befreiten Gesellschaft zu verbinden, weil erkannt wird, dass das gute Leben für alle im Kapitalismus nicht möglich ist.