Annekathrin Kohout macht ­einen Streifzug durch die Geschichte des Nerds

Aus dem Keller an die Konzernspitze

Spießer und Streber, Konservativer und Karrierist: Annekathrin Kohout zeigt in ihrer Popkulturgeschichte den Wandel des Nerds von der Randfigur zum Idol. Und kündet seine baldiges Verschwinden an.

Der Keller ist sein Zuhause, der Bildschirm das Fenster zur Welt. Fertigpizza und Cola nähren ihn, mit Holzfällerhemd und Hornbrille fühlt er sich gut gekleidet. Mit Frauen kann er nicht gut, dafür flirtet er mit Mathe- und Physikbüchern, wenn er nicht gerade programmiert. Gefragt, was einen Nerd ausmacht, haben die meisten Menschen eine ziemlich klare Vorstellung und denken an Daniel Düsentrieb, Milhouse, Harry Potter oder die Typen aus der Serie »The IT Crowd«. Doch schaut man genauer hin, wird der Nerd weniger greifbar. War er wirklich immer der nette Kauz von nebenan, der schrullige, aber sympathische Underdog mit Technikaffinität und Urzeitkrebsen, der nach den Leiden seiner Jugend die Erwachsenenwelt mit Erfindergeist meistert?

Nein, zeigt Annekathrin Kohout in ihrem Buch, das schlicht »Nerds« heißt. Vor allem mit Verweisen auf die Filmgeschichte zeichnet die Medientheoretikerin nach, wie der Nerd vor 70 Jahren als konformistischer Charakter aufkam, sich seine Inszenierungen seither veränderten, bis er schließlich zum Karrierevorbild wurde. Und sie spekuliert über sein baldiges Ende. Denn Figuren wie Elon Musk und Jeff Bezos haben den noch von Bill Gates und seiner Generation verkörperten Typus als Idole verdrängt. Virile Bully-Typen stehen hoch im Kurs, die nicht mehr staunend und fasziniert forschen, was Maschinen alles vermögen, sondern sich Materialschlachten liefern, um nach den Sternen greifen.

Allmählich wurde der Nerd zu einer Art Vorbild, sich seinen Neigungen hinzugeben und sie erfolgreich zu vermarkten. Er verkörpert das kapitalistische Versprechen: Lebe deinen Spleen, es wird sich schon auszahlen.

Einst wurde der Nerd verlacht, heutzutage nennt sich jeder so, der einem Hobby nachgeht, beobachtet Kohout. Der Begriff umfasst weit mehr als den ungeselligen Computerfreak, Nerds gibt es nun in alle mög­lichen Bereichen, sogar selbsterklärte Sport-Nerds gibt es – was einst ausgeschlossen war. »Die Nerds übernehmen gerade die Weltherrschaft«, hieß es 1996 im Magazin Stern. Das war noch als Warnung vor unattraktiven Büromenschen und phantasielosen Zahlenspielern gemeint.

Es gibt kein deutschsprachiges Pendant zum Nerd, der irgendwo zwischen Sonderling, Brillenschlange, Fachidiot und Eierkopf anzusiedeln ist. Lange verkörperte er das Außenseitertum. Die abwertende Bezeichnung erfuhr allmählich eine Umdeutung ins Positive, ein Trend, der in den USA seinen Ausgang nahm und in den nuller Jahren in Deutschland ankam. Der Nerd-Boom war eine Nachwirkung der Dotcom-Blase, die, obgleich sie platzte, den Glauben an den Siegeszug digitaler Technik als Basis der Lebenswelt nachhaltig prägte. Die Piratenpartei erlebte ihre Hochphase und Serien wie »The Big Bang Theory« prägten das neue Image des IT-Experten, dem die Welt zu Füßen liegt. Aus dem beargwöhnten »Computer-Freak« wurde der bewunderte Nerd.

Der Nerd wurzelt in der Figur des square. Diese Bezeichnung für spießige, konventionelle, überangepasste Typen kam in den fünfziger Jahren auf. Die Beatniks benutzen den Begriff, um sich davon als experimentierfreudig und weltgewandt abzugrenzen, so wie der Nerd später als Gegenbild zu Frauenaufreißern und Muskelmännern diente. In zahlreichen Filmen taucht er als Antiheld und reiner Loser auf und lässt den eigentlichen Helden umso attraktiver erscheinen. Der Nerd erscheint als verrückter Professor oder als Genie, das aber an Sozialkontakten und ­allem Zwischenmenschlichen heillos scheitert.

In Highschool- und College-Filmen, aber auch in Fernsehserien wie »Happy Days« (1974–1984) kommt der Nerd dann zu sich selbst und auch namentlich häufiger vor. Hier wird er zur Gegenfigur zum erfolgreichen Sportler, was in unzähligen filmischen Varianten durchgespielt wird. In den späten Achtzigern vollzieht sich der Wandel, den Kohout nach einem Filmtitel »Die Rache des Nerds« nennt. Zwar bleibt er zunächst ein uncooler Jugendlicher und Zielscheibe für Demütigungen, wird aber nach Schule und Studium zum Überflieger. Als Programmierer, Hacker oder Entwickler bekommt er später das Geld, die Frauen und den Status, die ihm zuvor verweigert worden waren – so lautet die Moral der neuen Nerd-Inszenierung.

Für ihre Popkulturgeschichte bedient sich Kohout besonders an Filmen und Serien. Streckenweise wirkt das ermüdend, weil sie die Handlung oft zu ausführlich wiedergibt. Es ist nicht nötig, alle Beziehungskon­stellationen zu kennen, um eine Ahnung vom Nerd-Charakter zu bekommen. Mitunter wird auch die Kontur des Nerds unscharf, wenn die Autorin von Film zu Film springt. Aber sie bezieht ihre eingehenden Filmbeschreibungen immer wieder auf die Alltagskultur und gesellschaftliche Diskussionen. So entwickelt sie die Kritik an der Nerd-Figur: Kohout feiert sie und die neue Beliebtheit eines bestimmten Typus von Underdogs keinesfalls ab, sondern sieht dar­in ein Symptom gesellschaftlicher Veränderung. Natürlich hat die »Rache des Nerds« mit dem Siegeszug der Digitalwirtschaft zu tun, für die die Nerds des Silicon Valley wie der Microsoft-Mitgründer Bill Gates oder der von Apple, Steve Jobs, exemplarisch stehen.

So taugt der Nerd zur Welterklärung. Zwar wird der technisch-ökonomische Komplex ab den fünfziger Jahren immer wichtiger, Stichwort Kybernetik, er bleibt aber Expertenangelegenheit. Die in Netzwerke und künstliche Intelligenz gesetzten Hoffnungen sind damals noch Science-Fiction und werden in der Popkultur zu versponnenen Tagträumen verrückter Ingenieure erklärt.

Als der Computer tatsächlich in Büros und Haushalte Einzug hält, überfordert er die meisten Menschen. Der Nerd wird zu einem Vermittler. Die neue Technik kann nur verstehen, wer nicht ganz normal ist; was stillschweigend auch den Antiintellektualismus bedient. Zugleich wirkt das Bild mystifizierend: Der Nerd brennt halt für sein Hobby, der kommerziel­le Erfolg seiner Unternehmung wird zum Zufall. Ein solcher Geniekult macht blind für wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge – der Aufstieg von Microsoft etwa wäre ohne die Aufträge des Büromaschinenkonzerns IBM undenkbar gewesen.

Allmählich wurde der Nerd zu ­einer Art Vorbild, sich seinen Neigungen hinzugeben und sie erfolgreich zu vermarkten. Er verkörpert das kapitalistische Versprechen: Lebe deinen Spleen, es wird sich schon auszahlen. Der Nerd war nie Rebell, wie Kohout ausführt. Nur weil jemand am gesellschaftlichen Rand steht, ist er nicht gleich ein guter Mensch, wie sie beispielhaft am Sexismus der Se­rie »The Big Bang Theory« nachweist. Der Nerd zählt zu den typischen Rollenbildern weißer heterosexueller Männer, weshalb weibliche oder nichtweiße Protagonisten mit Nerd-Zügen Ausnahme bleiben müssen. »Weder als biederer Square noch als junger Erwachsener oder Computergenie hat er konservative Werte je abgelegt.« An dieser Grundstruktur ändern auch nerdige Helden wie Ellie Chu aus dem Film »The Half of It« (2020) wenig. Die romantische Komödie über eine gemobbte Einserschülerin spielt motivisch und beim Aussehen der Protagonistin mit der Nerd-Figur, reicht aber darüber hinaus, weil Chu an der Kleinstadtordnung rüttelt.

Dass viele sich heutzutage selbst als Nerd beschreiben, ist für Kohout ein Hinweis, dass der Begriff beliebig wird und kein genaues Rollenmodell mehr beinhaltet. Der Nerd verschwindet, wenn andere Marktteilnehmer die Bestenliste anführen: Kapitalisten vom Typus Schulhof-Bully, die wie der Amazon-Tycoon Jeff Bezos disruptives Marktgebaren zur Norm erheben, oder wie Elon Musk einen auf Macker machen. Vielleicht ist es die letzte Rache des Nerds, wie solche zweifelhaften neuen Vorbilder heute den einst durch ihn verkörperten naiven Technikoptimismus repräsentieren.

Annekathrin Kohout: Nerds. Eine Popkulturgeschichte. C. H. Beck, München 2022. 272 Seiten, 16,95 Euro