Der Film »Alle reden übers Wetter« erzählt vom Kampf der Frauen um akademische Anerkennung

Ohrfeigen und Doktorwürde

In ihrem sehenswerten Debütfilm »Alle reden übers Wetter« fragt die Regisseurin Annika Pinske nach dem Preis, den Frauen für eine akademische Karriere zahlen. Und sie begibt sich auf die Suche nach weiblichen Vorbildern.

»Alle reden übers Wetter« ist der erste Spielfilm der jungen Regisseurin und Drehbuchautorin Annika Pinske, die darin auch die Geschichte ihres eigenen Bildungsaufstiegs erzählt und über die Kämpfe von Frauen in männerdominierten Berufsmilieus reflektiert. Berlin-Kreuzberg: Clara (Anne Schäfer), Doktorandin der Philosophie, lebt in einer schicken, betont progressiven Berufstätigen-WG und versteht sich als unabhängige Frau, die sich von der Beschränktheit ihres Herkunftsmilieus emanzipiert hat. Zwischen Seminaralltag, Hegel-Dissertation und Partys unter Kollegen führt sie eine verzwickte Beziehung mit einem ihrer Studenten (Marcel Kohler). Außerdem arbeitet sie für ihre Doktormutter Margot (Judith Hofmann), die Claras wissenschaftliche Karriere fördert, aber auch viel von ihr verlangt.

Der Film macht unübersehbar deutlich, dass dieses Leben für Clara keine Selbstverständlichkeit ist. Die 39jährige kommt aus dem Osten, entstammt keinem Akademikerhaushalt und ist Mutter einer pubertierenden Tochter, die beim Vater lebt. Zum 60. Geburtstag ihrer Mutter Inge (Anne-Kathrin Gummich) fährt Clara gemeinsam mit der Tochter in die Uckermark, wo sie der provinzielle postsozialistische Normalzustand erwartet: Schnittchen, Wodka, Böhse Onkelz. Schnell fühlt Clara sich als Fremde in der eigenen Familie.

Dass sich die Regisseurin stark an Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« orientiert, ist offensichtlich. Wie bei einem Spießrutenlauf sind in der Handlung typische Situationen aneinandergereiht.

Während der erste Teil des Films im urbanen Akademikermilieu der Hauptstadt spielt, zeigt der zweite den Besuch in der Provinz. Dabei wirft Pinske einen besonderen Blick auf Verhaltensweisen, die einen bestimmten Klassencharakter offenbaren. Dass sich die Regisseurin stark an Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« orientiert, ist offensichtlich. Wie bei einem Spießrutenlauf sind in der Handlung typische Situationen aneinandergereiht. Clara gibt sich bei ihrem Aufenthalt in der alten Heimat zurückhaltend, eckt aber trotzdem an. Unaufgeregt, aber bisweilen auch holzschnittartig deutet der Film die Unterschiede zwischen der ostdeutschen Provinz und dem Berliner Intellektuellenmilieu an.

Eingehend setzt sich die Geschichte mit der Komplexität des Mutter-Tochter-Verhältnisses auseinander. Daneben wird auch die ­Beziehung zur Doktormutter thematisiert, die stets uneindeutig bleibt. Das Arbeitsverhältnis zwischen Clara und Margot erscheint auf den ersten Blick freundschaftlich. Margot, eine alleinstehende Professorin im mittleren Alter, die weder Kinder noch Katzen hat, behandelt Clara mal wie eine Tochter, mal wie eine Studentin. Sie hat eine beachtliche Karriere hinter sich und ist dennoch zutiefst unzufrieden. Gegenüber Clara deu­tet sie an einer Stelle an, Selbstmord begehen zu wollen. Den ganzen Frust der Professorin bekommt Clara zu spüren, als Margot damit droht, Schummeleien in Claras Lebenslauf auffliegen zu lassen. Um ihre westdeutschen Professoren in einer Diskussion zu beeindrucken, hatte ­Clara sich einen Diplomatenvater erfunden.

Als Vorbild für Clara taugt die Professorin letztlich ebenso wenig wie ihre Mutter Inge. Auch Inge lebt allein. In Claras Augen scheint sie sich lediglich für den Abschluss der Dissertation zu interessieren, nicht aber für deren Inhalt: Hegels Begriff der Freiheit. Wenn Clara nach den Wünschen ihrer Mutter fragt, antwortet Inge nur mit wortkarger Geschäftigkeit. Dass bestimmte Fragen schon längst an Inge nagen, kann man sich vielleicht denken. Was bedeutet es aber, die Sorgen auf die erwachsene Tochter abzuladen? Clara möchte Dinge klären, Inge weicht aus. In dieser Situation fällt dann auch der Satz, auf den sich der Titel des Films bezieht: »Ich will mich nicht immer nur übers Wetter unterhalten!« bricht es aus Clara heraus.

Eine Situation spitzt den Unterschied zwischen den Milieus zu. Als eine Mutter ihr zwischen den Geburtstagsgästen herumtanzendes Kind ohrfeigt, ist Clara die Einzige, die dagegen protestiert, während alle anderen schweigen. Doch geht es dabei um Erziehung als bürgerliche Privatangelegenheit oder um die fortschreitende Verrohung?

Die Eigenheiten »des Ostens« zu erklären, wie es häufig getan wird, wenn Reaktionäre irgendwo zwischen Chemnitz und Rostock in der Provinz aufmarschieren, erspart sich der Film. Angetrunken auf einer Bierbank sitzend, fragt einer der bösen Onkels provokativ-doppeldeutig in Cla­ras Richtung, was wohl passiere, wenn »die Hütte mal brennt«. Leicht dahergelallt verschafft sich der ganze Irrwitz des ostdeutschen Ressentiments darin Luft – die klebrige Melange aus Pogromstimmung und Abstiegsangst. Seltsamerweise hat Clara darauf nicht viel zu sagen, Hegel scheint auf einmal sehr weit weg.

Wenig später sitzt sie in der Kneipe, wo sie ihrer alten Liebe Marcel (Max Riemelt) lange in die Augen schaut und die vergangene Zeit Revue passieren lässt. Auch wenn Clara und Marcel, der die Provinz nie verlassen hat, verschiedene Wege eingeschlagen haben, teilen sie einen ähnlichen Blick auf die Welt. Während Clara davon spricht, dass die Philosophie ihre Heimat geworden sei, erzählt Marcel von seiner Familie und dem eigenen Haus, aber auch er fragt sich, was in der Zukunft in seinem Leben noch passieren soll. Prost, »auf die Heimat!« – Zähneknirschen statt Abschiedskuss.

Es mangelt dem Film bisweilen an Originalität. Die Themen – Herkunft, Familie, Heimat, Beruf, Generationenkonflikte – werden der Reihe nach abgearbeitet; aber bevor sich für ein Problem eine Lösung ergeben könnte, geht es auch schon wieder um den nächsten Konflikt. Ganz so wie Clara an ihrer Mutter herumkritisiert, es würde niemand richtig kommunizieren, bleibt auch sonst das meiste unausgesprochen.

Der Film, der mittlerweile um die deutsche Oscar-Einsendung konkurriert, eifert gelegentlich der Komödie »Toni Erdmann« der Regisseurin und Drehbuchautorin Maren Ade nach, bei der Pinske assistiert hat. Im Vergleich mit Ades diffuser Inszenierung verkorkster Persönlichkeiten scheinen Pinskes Figuren allerdings seltsam vertraut. Wer ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie die Prot­ago­nistin Clara, dem wird es kaum schwerfallen, sich mit ihr zu identifizieren. Der Film schlägt so in dieselbe Kerbe wie die literarischen Autosoziobiographien, die sich in letzter Zeit einer wachsenden Beliebtheit erfreuen. Wegen seiner Zerrissenheit und seinen hellsichtigen Momenten ist »Alle reden übers Wetter« gleichwohl ein sehenswerter Film.

»Alle reden übers Wetter« (D 2022). Buch und Regie: Annika Pinske, Darsteller: Anne Schäfer, Anne-Kathrin Gummich, Judith Hofmann, Marcel Kohler, Max Riemelt, Emma Frieda Brüggler, Sandra Hüller, Christine Schorn, Ronald Zehrfeld, Alireza Bayram. Kinostart: 15. September