Die Hamburger Tafel bittet nun auch Privathaushalte um Lebensmittelspenden

Weniger für mehr

Rund 45 000 Menschen sind mittlerweile auf die Leistungen der Hamburger Tafel angewiesen. Doch das Spendenaufkommen schrumpft. Mit großangelegten Kampagne in verschiedenen Hamburger Einkaufszentren macht die Organisation nun auf die Misere aufmerksam.

»Wir haben Hamburg noch lange nicht satt« – mit diesem Spruch werben seit geraumer Zeit Prominente wie Udo Lindenberg und Ina Müller für Spenden an die gemeinnützige Hamburger Tafel. Die Anzahl der Bedürftigen steigt von Jahr zu Jahr, derzeit sind allein in Hamburg rund 45 000 Menschen auf Lebensmittelspenden angewiesen. Die meisten der rund 30 Ausgabestellen der Tafel in der Metropolregion haben seit dem Frühjahr einen Aufnahmestopp verhängt. Nur bereits Registrierte dürfen noch Spenden abholen.

»Nach jeder Krise denken wir immer: Jetzt ist der Peak überschritten, nun sinken die Zahlen der Bedürftigen bestimmt«, sagt Julia Bauer, Vorstandsmitglied bei der Hamburger Tafel, der Jungle World. Doch leider bewahrheitet sich diese Hoffnung nicht. Da Krise auf Krise folgt, ist derzeit erst recht nicht zu erwarten, dass die Zahl der Bedürftigen sinkt. Hinzu kommt, dass das Spendenaufkommen schrumpft. Mit einer großangelegten Kampagne ruft die Hamburger Tafel deshalb nun jeden letzten Donnerstag im Monat auch Privathaushalte dazu auf, abgepackte Lebensmittel und Hygieneartikel abzugeben. Am Donnerstag vergangener Woche sammelten die ehrenamtlichen Helfer in drei großen Hamburger ­Einkaufszentren jeweils von zwölf bis 18 Uhr.

Da Krise auf Krise folgt, ist derzeit nicht zu erwarten, dass die Zahl der Bedürftigen sinkt.

Hans Werner Specht ist Rentner und engagiert sich seit 14 Jahren bei der Tafel. In dieser Zeit hat sich dort einiges verändert. »Mittlerweile haben wir 16 Kühlsprinter, die die Spenden verteilen. Der große Zuwachs an bedürftigen Menschen kam 2015, und danach stieg die Zahl kontinuierlich weiter«, sagt der 72jährige im Gespräch mit der Jungle World. Und noch etwas hat sich verändert im Lauf der Jahre: Während die Zahl der Bedürftigen stieg, sank parallel das Spendenaufkommen. »Viele Supermärkte verkaufen abends ihre Sachen selbst und der Handel hat die Logistik verbessert, so dass weniger Lebensmittel schlecht zu werden drohen«, so Specht.

Die sinkende Menge von Spenden hatte die Tafel dazu bewogen, in einer großen Werbekampagne auf die Situation aufmerksam zu machen. »Diese Kampagne hat uns keinen Cent gekostet. Weder für die prominenten Gesichter noch für die Werbeflächen mussten wir zahlen«, sagt Julia Bauer, die sich seit etwa 16 Jahren für die Tafel engagiert und derzeit für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Etwas nachdenklich stimme sie das ständige Wachstum der Tafel. Während zu Beginn ein kleiner Lagerraum reichte, stehen im Hamburger Stadtteil Jenfeld mittlerweile 800 Quadratmeter Lagerfläche zur Verfügung. Auf drei Ebenen werden in Regalen die Spenden gesammelt und von dort an die Ausgabestellen verteilt. In ihren vielen Jahren als Ehrenamtliche hat Bauer erlebt, wie sich der Kreis der Bedürftigen ­geändert hat. »Das ist mittlerweile ein Querschnitt durch die Gesellschaft«, erzählt sie.

Während der Hochphase der Covid-19-Pandemie standen plötzlich auch viele Kleinselbständige an den Ausgaben an. »Wir brauchen nur Hilfe für einige Monate«, sagten sie Bauer zufolge damals. Nach dem Ende der meisten pandemiebedingten Einschränkungen blieben sie wirklich fern, dafür kamen durch die Inflation und insbesondere die hohen Energiepreise neue Bedürftige hinzu. Mittlerweile unterstützen rund 140 ehrenamtliche Helfer die Hamburger Tafel und ihre Arbeit. Dabei sieht Bauer hier eigentlich den Staat in der Pflicht. Entmutigt wirkt sie aber keineswegs, sie sieht die Arbeit der Tafel vielmehr optimistisch. »Wir haben wenig Bürokratie und erleben, dass die Gesellschaft hier zusammensteht«, sagt sie.

Bei dem ersten Sammeltermin in einem Einkaufszentrum wird dieser Optimismus verständlich. Bereits vor zwölf Uhr stehen die ersten Spenderinnen und Spender an. Bauer berichtet, dass ihr sogar schon auf der Fahrt zum Einkaufszentrum wegen ihrer Jacke mit der Aufschrift »Hamburger Tafel« in der U-Bahn Spenden angeboten worden seien. Am Nachmittag sind so allein an einem Sammelort schätzungsweise vier Tonnen an Spenden zusammengekommen – ein Erfolg, der hoffentlich länger anhält. »Die Konkurrenz durch im Supermarkt erhältliche ›Rettertüten‹ (in denen ansonsten zu entsorgendes Obst und Gemüse günstig verkauft werden; Anm. d. Red.) ist deutlich spürbar. Und so sehr wir die Kampagne gegen Lebensmittelverschwendung begrüßen – sie lässt die Spenden für uns schrumpfen«, so Bauer. Auf Spenden im Wert von rund 750 000 Euro jährlich sei die Tafel mittlerweile allein für den »allgemeinen Betrieb« angewiesen. Diese werden unter anderem auch durch Fördermitgliedschaften oder Geldspenden gedeckt. Der Rentner Specht fährt einmal wöchentlich die Sach- und Lebensmittelspenden aus. »Die jungen Leute dürfen mit ihrem PKW-Führerschein ja keinen 7,5-Tonnen-LKW mehr fahren«, sagt er.

Zu den jungen Leuten an diesem Sammeltag, der in allen großen Hamburger Medien beworben wurde, ­zählen Lukas Weißenfels und Niklas Schulz. Die beiden studieren an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg Bildungs- und Erziehungswissenschaften. Im Rahmen des Studiums sind Praktika vorgesehen, deshalb arbeiten die beiden nun für sechs Wochen bei der Tafel mit. »Mich hat es schockiert, wie viele ›normale‹ Rentner bei der Ausgabe anstehen«, sagt der 23jährige Weißenfels. Sein 29jähriger Kommilitone Schulz sagt: »Ich habe lange in Berlin gelebt und dort auch viel Armut gesehen.« Beide sind an diesem Tag begeistert davon, wie viele im Einkaufszentrum spendeten und wie viele positive Rückmeldungen es gebe. Niemand reagiere negativ auf die Sammelaktion.

Die beiden Studenten wollen auch nach Beendigung ihrer Praktika gern weiter ehrenamtlich für die Tafel arbeiten – auch wenn der direkte Eindruck von der Armut ein Schock gewesen sei, wie Weißenfels betont. Weitere Spendensammeltermine in Hamburg sind für den 27. Oktober und den 24. November angesetzt.