Über den Protest der Gruppe "Letzte Generation"

Barbarei, Kartoffelbrei

Während gemalte Sonnenblumen im klimatisierten Museum geschützt werden, verdorren Nutzpflanzen auf den Feldern. Warum die Kultur nie unschuldig ist und es sich dennoch lohnt, über die Widersprüche zu diskutieren.
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Manchmal kommt man mit Worten nicht weiter. Das wusste schon Nikel Pallat, der Manager von Ton Steine Scherben, als er 1971 in einer Talkshow den Studiotisch mit einer Axt zertrümmerte. Das Fernsehen sei »ein Unterdrückungsinstrument in dieser Massengesellschaft«, so seine Begründung. Der niederländische Klimaaktivist Jelle de Graaf hat der Geschichte des unkonventionellen Umgangs mit Talkshow-Tischen kürzlich ein neues Kapitel hinzugefügt. Eingeladen, um über angemessene Formen des Protests zu diskutieren, kletterte er kurzerhand auf den Tisch und klebte sich fest. Der Sender ließ das Möbelstück samt Graaf aus dem Studio tragen.

Für Aufsehen sorgen in Deutschland derzeit Klebeaktionen der Gruppe »Letzte Generation«, die neuerdings auch auf Kunstwerke abzielen: Auf Aktionen in Galerien in Dresden, Frankfurt am Main und Berlin folgte eine Attacke im Potsdamer Museum Barberini. Aktivisten bewarfen Claude Monets Gemälde »Getreideschober« mit Kartoffelbrei und klebten sich an der Wand fest. Obwohl das Bild dank einer Glasscheibe unbeschädigt blieb, war die Aufregung groß. Politik und Medien waren sich in der Verurteilung der Tat weitestgehend einig.

Tatsächlich gibt es gute Gründe, die »Letzte Generation« kritisch zu sehen: Die Selbstinszenierung der Gruppe erinnert an das Untergangspathos von »Extinction Rebellion«. Die Gründe für die wütenden Reaktionen der Öffentlichkeit liegen jedoch woanders: Die jüngsten Aktionen der »Letzten Generation« richten sich gegen Orte bürgerlicher Selbstvergewisserung. Im ­Museum möchte man die brillanten künstlerischen Erzeugnisse der bürgerlichen Gesellschaft bestaunen und nicht mit deren Widersprüchen konfrontiert werden. Die Reaktionen auf den Aktivismus der »Letzten Generation« sind dementsprechend nicht arm an empörten Vergleichen – von der RAF über die Taliban bis zu den Nazis.

Der Potsdamer Oberbürgermeister Mike Schubert sagte: »Das ist Kulturbarbarei und keine politische Meinungsäußerung.« Dem Sozialdemokraten war vermutlich nicht klar, dass er mit seiner Wortschöpfung einen Gedanken aus Walter Benjamins Essay »Über den Begriff der Geschichte« aufgriff. In der siebten These heißt es dort: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« Dieser Satz erinnert an das verworrene Verhältnis von Fortschritt und Gewalt. Es ist ein und dieselbe Gesellschaft, die schützenswerte Kunstwerke hervorbringt und die Umwelt zerstört. Impressionismus und Industrialisierung gehören derselben Epoche an: Monet malte seinen »Getreideschober« im Jahr 1890, acht ­Jahre nachdem das weltweit erste Kohlekraftwerk in Betrieb gegangen war.

Wenn Aktivisten Kunstwerke attackieren, erinnern sie an eine schmerzhafte Frage, die sich spätestens seit der Epoche der Aufklärung stellt: Wieso ist die Menschheit in der Lage, unermessliche kulturelle und materielle Werte hervorzubringen, ohne zugleich das menschliche Leid zu mindern? Oder auf die heutige Situation bezogen: Wieso gelingt es der Gesellschaft, gemalte Sonnenblumen in klimatisierten Museumsräumen zu schützen, während Nutzpflanzen auf den Feldern verdorren? Man kann diesen Fragen ausweichen, indem man sich zum Verteidiger einer unschuldigen Kultur aufschwingt, die vor ihren bar­barischen Gegnern geschützt werden muss. Oder man nimmt die Aktionen der »Letzten Generation« zum Anlass, um über das Verhältnis von Kultur, Barbarei und Natur zu diskutieren. Vielleicht ließe sich ja sogar zeigen, dass man mit Worten manchmal doch weiterkommt.