Zeichnen statt Feiern

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Hamburger Steifheit auf schwedischer Party

Wir sind immer noch im Herräng Dance Camp in Schweden. Eine weitere Party hat im German house stattgefunden. Jede Woche lädt Thomas, der das Haus für die Wochen des Camps angemietet hat, Leute ein, die nach den mehrstündigen Trainingsstunden und neben dem abendlichen Tanz auf drei Dancefloors noch Lust auf Feiern mit hartem Alkohol haben.

Alkohol, der sonst im Camp und in Herräng nicht verkauft wird. Die nächste Flasche Wein oder Whiskey gibt es erst in der nächstgelegenen Kleinstadt Halstavik, im Fachhandel für Alkoholika, dem sogenannten Systembolaget.

Das Partyangebot in unserem Haus richtet sich hauptsächlich an Tänzer:innen, die ihre Zeit im Camp nicht mit Weiterbildung verbringen und nicht am nächsten Morgen Unterricht haben. Es sind Tanzlehrer:innen und Volunteers, die ihren Job am nächsten Tag auch verkatert noch irgendwie hinbekommen. Die Coolen.

Ich fühle mich zu alt. Alle Partygäste sind im Durchschnitt 20 Jahre jünger als ich. Ich verstehe ihren Humor nicht.

Ich feiere nicht mit. Alkohol vertrage ich nicht mehr und harter Alkohol war überhaupt noch nie mein Ding. Ich schaffe es nicht mehr, so zu tun, als wäre ich so betrunken wie alle anderen, eine Strategie, die früher gut funktionierte. Small Talk beherrsche ich auch nicht mehr. Dabei ist gegen diese Partys nicht das Geringste einzuwenden.

Thomas lädt alle auf seine Kosten ein und ist im Camp der ungekrönte, denkbar beste deutsche Botschafter, den alle kennen und mögen. Julia und ich laden selbst regelmäßig zu Partys bei uns zu Hause ein und feiern ausgiebig und laut mit vielen Leuten.

Warum kann ich hier nicht mitfeiern? Ich fühle mich zu alt. Alle Partygäste sind im Durchschnitt 20 Jahre jünger als ich. Ich verstehe ihren Humor nicht. Sie erzählen sich oft gar keine pointierten Anekdoten. Es scheint, dass es reicht, zu lachen und zu signalisieren, dass man das Gleiche fühlt.

Weil ich es nicht schaffe mitzufeiern, entschließe ich mich dazu, die Partygäste zu zeichnen. Am Anfang sitze ich in der Küche noch auf einem Stuhl. Als plötzlich ein Schwall Leute hereingespült wird, setze ich mich auf die Arbeitsfläche neben dem Herd – und verharre dort zwei Stunden lang. Zunächst zusammen mit den übrigen Bewohnern des Hauses, die versuchen mitzufeiern. Später allein.

Ich werde immer mehr zum Möbel, grimmig kritzelnd. Es sind jetzt bestimmt 100 Leute im Haus. Sie schreien, so als wäre es ihnen ein tiefes Bedürfnis, endlich mal schreien zu können. So als wären sie zum Schreien gekommen.

Als die Leute im Wohnzimmer anfangen zu tanzen, verlasse ich meinen Spot in der Küche und zeichne im Stehen direkt neben der Eingangstür, begrüße gleichzeitig die Neuankömmlinge. Dann setzte ich mich auf einen Sessel und skizziere die Tanzenden. Gelegentlich spricht mich jemand an und wirft einen Blick in mein Skizzenbuch und fragt zum Beispiel: »Ist das Maria?« »Keine Ahnung. Ich kenne die Namen der Leute nicht«, antworte ich. Klar, die kennen sich natürlich alle.

Immer wieder kommen neue Partygäste, andere gehen. Ich bin im flow, wenn auch einem sehr angespannten. Ich vibriere. Meine Anspannung findet sich immer mehr in meinen Zeichnungen wieder. Am Schluss, nach vier Stunden, werden es 50 Seiten sein.

Am nächsten Tag reisen wir ab. Nach einer Odyssee – eine Stunde warten wir im Flugzeug darauf, dass das Personal die Treppe zum Aussteigen bringt, fast zwei Stunden, bis unser Gepäck auf dem Band liegt – kommen wir nach zehn Stunden um zwei Uhr morgens zu Hause an. Und gehen gleich am selben Abend noch zum Tanzen aufs Tempelhofer Feld, auch um gleich wieder urban sketching zu betreiben.

Ich spreche den Gezeichneten an, er heiße José, ist ein Spanier, der auch erst vor ein paar Stunden aus Herräng gekommen ist. Er hat noch überhaupt nicht geschlafen.

Es ist eine Herausforderung, die mir besonders Freude macht, die Tänzer:in­nen während des Tanzens, in der Bewegung und im Halbdunkel zu zeichnen. Das festzuhalten, ist eigentlich fast unmöglich. Die gezeichneten Figuren setzen sich oft aus verschiedenen Menschen zusammen. Ich finde eine Hand, einen Arm, dann ist die Person auch schon woanders, ich warte, bis sie sich wieder ungefähr an der alten Stelle befindet, zeichne den Hals und den Kopf, setze schnell die andere tanzende Person aus dem Gedächtnis zusammen, halte noch fest, wie die Hose fällt, und beende die Skizze aus der Erinnerung und mit meinem bereits gezeichneten Repertoire.

Während ich dies mache, denke ich: Den Mann mit dieser Frisur habe ich doch auf der Party in Herräng schon gezeichnet. Mehrfach. Ich spreche den Gezeichneten an, er heiße José, ist ein Spanier, der auch erst vor ein paar Stunden aus Herräng gekommen ist. Er hat noch überhaupt nicht geschlafen. Er ist sehr nett.

Ich zeige ihm meine Skizze, entschuldige den karikierenden Stil. Er sagt, er hätte mich auf der Party gesehen, habe mich aber nicht angesprochen, weil ich so konzentriert wirkte.

Ich denke: Abweisend und böse wäre treffender. Ich erinnere mich plötzlich dunkel, ihn sogar schon beim Hereinkommen gesehen zu haben. Als er mich mit interessiertem Blick angeguckt hatte, habe ich ihm ein eisiges »Welcome to the Party« entgegnet.

Ich schäme mich für meine Unfreundlichkeit und Arroganz. Für meine Hamburger Steifheit. José freut sich sehr darüber, uns zu sehen, und zeigt uns direkt sein Skizzenbuch. Er hat Porträts von den Leuten angefertigt, die er kennen gelernt hat. Wir haben uns verpasst, wir hätten in Herräng zusammen sketchen können. Wir beschließen, dass wir im nächsten Jahr gleich eine Gruppe starten.