Antiziganismus in Behörden

Antiziganismus von Amts wegen

Eine Studie der Leibniz-Universität Hannover legt antiziganistische Strukturen in der Verwaltung offen. Auch der erste Jahresbericht der Meldestelle Antiziganismus nennt deutsche Behörden als Orte, an denen Betroffene immer wieder Diskriminierung erfahren.

Antiziganismus gehört für Sinti und Roma in Deutschland zum Alltag. Das zeigt der Bericht für 2022, den die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (Mia) jüngst veröffentlicht hat. Wenig später berichtete die Hannoversche Allgemeine Zeitung von einer Studie der Leibniz-Universität Hannover. Ihr zufolge haben Mit­ar­bei­ter:in­nen der Stadtverwaltung, der Jobcenter und der Schulen über Jahre systematisch daran gearbeitet, Roma aus der Stadt zu vertreiben. Die Betroffenen seien gezielt in menschenunwürdigen Unterkünften untergebracht oder immer wieder willkürlich umquartiert worden, Jobcenter-Anträge seien verlorengegangen und Dolmetscher wurden verweigert, obwohl ein rechtlicher Anspruch auf sie besteht. Das Ziel all dessen sei es gewesen, für Roma das Leben in Hannover möglichst unbequem zu machen und keine Anreize für weitere Zuzüge zu liefern, so die Studie.

Insbesondere in Ämtern, Behörden und Verwaltungen sind Sinti und Roma immer wieder mit Diskriminierung konfrontiert. Das zeigt auch der Bericht von Mia. Mit ihm liegt zum ersten Mal eine bundesweite systematische Erfassung und Dokumentation antiziganistischer Vorfälle vor. Von den 621 Mia gemeldeten Vorfällen haben demnach 343 im institutionellen Kontext stattgefunden. Außerdem sticht der Antiziganismus gegenüber aus der Ukraine geflüchteten Roma ins Auge.

Viele Roma und Sinti hätten aufgrund ihrer negativen Erfahrungen »wenig oder kein Vertrauen in staatliche Stellen« wie Polizei und Justiz, heißt es im Bericht. Auf das Handeln staatlicher Institutionen könnten sich Betroffene nicht mehr verlassen. Die Expert:innen der Meldestelle gehen daher davon aus, dass die »geradezu lächerlich geringen Fallzahlen« antiziganistischen Vorfälle in der polizeilichen Statistik die Realität nicht wiedergeben. Die ­zivilgesellschaftliche Dokumentationsstelle soll daher eine Anlaufstelle für die Betroffenen zu schaffen und diese unterstützen. Erst im Oktober 2021 nahm die Mia unter der Trägerschaft des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma die Arbeit auf.

Der Antiziganismus erklärt immi­grierende Roma zur Gefahr für Sicherheit und Ordnung, schreibt ihnen Arbeitsscheu und die Unter­wanderung der Sozialsysteme zu.

Yücel Meheroğlu, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Mia, berichtet der Jungle World, dass es sich bei den der Dokumentationsstelle gemeldeten Vorfällen meist um rechtswidrige Ablehnungen von Anträgen oder unverhältnismäßige Auflagen handele, mit denen den Betroffenen der Zugang zu Leistungen erschwert wird. Als Beispiel nennt sie den Fall einer in Deutsch­land geborenen Romni, die von einer Sachbearbeiterin einer Ausländerbehörde aufgefordert worden sei, ein Formular für eine freiwillige Rückreise zu unterschreiben. Als die Frau die Unterschrift verweigert habe, sei die Sachbearbeiterin laut geworden und habe gedroht, ihre Duldung nur um wenige Tage zu verlängern, ihre Leistungen zu kürzen und sie aus der Wohnung werfen zu lassen.

Es zeigt sich eine selbsterfüllende Prophezeiung des Antiziganismus: Dem Bericht zufolge verwehren Ämter den Betroffenen Teilhabe, beispielsweise in Form von Leistungen oder einer passenden Vermittlung, beklagen jedoch gleichzeitig die ausbleibende Partizipation. Die Betroffenen werden demnach effektiv gezwungen, die antiziganistischen Ressentiments der Amtsmitarbeiter:innen zu bestätigen. Wem beispielsweise der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt wird, der bleibt ohne legale Arbeit; wem Sozialleistungen verweigert werden, der verarmt.

Als eine Grundlage solcher Praktiken nennt der Bericht die von der Bundesagentur für Arbeit herausgegebene interne Arbeitshilfe »Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit«. Seit 2018 schreibt das 30seitige Papier vor, Leistungsanträge von Menschen aus dem EU-Ausland besonders streng zu prüfen, um dem Missbrauch von Sozialleistungen vorzubeugen. Darin sind verschiedene »Tatmuster« vermeintlicher »Banden« angeführt, anhand derer Betrug aufgedeckt werden soll. Das Papier stelle migrierte Roma unter Generalverdacht, organisierten Leistungsmissbrauch zu begehen, so Meheroğlu.

Zwar wird in einer überarbeiteten Fassung dieser Arbeitshilfe von Januar 2022 nicht mehr explizit auf »rumänische und bulgarische Staatsangehörige« verwiesen, doch bleibt weiterhin der diffuse und unter anderem antiziganistisch konnotierte Begriff der »kriminellen Banden« bestehen. Am Ende steht die Überzeugung, dass Roma aus Ost- und Südosteuropa nach Deutschland immigrierten, um die Großzügigkeiten des deutschen Wohlfahrtsstaates auszunutzen.

Was aus diesem Generalverdacht resultiert, kennt auch Milena Ademo­vić zu Genüge. Als Sozialarbeiterin bei dem Berliner Verein »Kulturen im Kiez« berät sie täglich Roma, die Probleme mit Ämtern haben. Der Jungle World berichtet sie von dem Fall einer bulgarischen Romni, die als alleinerziehende Mutter einen Antrag auf Unterhaltsvorschuss gestellt hatte. Das Jobcenter legte ihr wiederholt einen Fragenkatalog über den Kindsvater vor und befragte sie nach Zeug:innen, die ihre Situation belegen könnten. Offensichtlich verdächtigte die Behörde die Familie, unrechtmäßig Leistungen beziehen zu wollen. Oft führe erst die Begleitung durch eine Sozialarbeiterin zu einem gerechteren Umgang mit ihren Klient:innen, so Ademović.

Die selbsterfüllende Prophezeiung betrifft auch jene Roma, die aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind. Mia berichtet von zahlreichen Meldungen über die Zustände in Flüchtlingsunterkünften, in denen ukrainische Roma oft wochen- und monatelang ausharren mussten. Auf dem Münchner Messegelände beispielsweise wurden 2 000 Menschen aus der ­Ukraine untergebracht. Aufgrund der desolaten Zustände war in Politik und Medien von einem »sozialen Brennpunkt« die Rede – immer wieder mit dem Hinweis darauf, dass viele Roma in der Unterkunft lebten. Diese würden die Zusammenarbeit mit ­Behörden erschweren und die kostenlosen Hilfsangebote derart ausnutzen, dass sie gar nicht daran dächten, die Unterkünfte baldmöglichst wieder zu verlassen.

Anstatt die Zustände als Konsequenz eines Verwaltungsversagens und Symp­tom der Unterbringung vieler Menschen auf engsten Raum zu begreifen, wurden Dreck, Müll und Lärm auf vermeintliche Charaktereigenschaften der untergebrachten Roma zurückgeführt. Der Antiziganismus erklärt immigrierende Roma zur Gefahr für Sicherheit und Ordnung, schreibt ihnen Arbeitsscheu und die Unterwanderung der Sozialsysteme zu.

Mit der Einrichtung der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus ist ein wichtiger Schritt getan, um Antiziganismus in Deutschland zu begegnen und auf diesen hinzuweisen. Die vom Innenministerium berufene Unabhängige Kommission Antiziganismus forderte in ihrem Abschlussbericht 2021 die Einrichtung einer Wahrheitskommission, die die Kriminalisierung und Benachteiligung von Sinti und Roma durch staatliche Institutionen in Deutschland seit 1945 untersuchen und aufarbeiten soll. Mehmet Daimagüler, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus, kündigte Anfang Oktober an, dass diese Kommission voraussichtlich Anfang 2024 ihre Arbeit aufnehmen werde.