Betreutes Sterben
Eine geschenkte Konzertkarte stimuliert eine mit den Jahren immer praller angeschwollene Nostalgiedrüse, die sogleich das Hirn mit wohligen Erinnerungsfragmenten aus düster umwölkter Jugendzeit flutet: The Sisters of Mercy – live in der ausverkauften Columbiahalle. Man weiß, dass man es nicht tun sollte, tut es dennoch und steht dann zwischen lauter anderen Schwarzgekleideten um die fünfzig, um dem einstigen Meister ironisch-pathetischen Weltschmerzes, Andrew Eldritch, leicht fußwippend dabei zuzuschauen, wie er sich mit brüchiger Stimme durch die alten Hits schleppt. Bis er plötzlich mitten im Song verschwindet, das Saallicht angeht, und ein unbekannter Herr verkündet, dass das Konzert wegen »medizinischer Probleme« abgebrochen werden müsse.
Klar, viel erwartet hatte man nicht, aber dieser überraschende Ausgang des Konzertabends schwemmt ein diffuses Gefühl von Verlust und Vergeblichkeit aus tiefsten Tiefen, das man gerne sofort in der nahegelegenen Bar »Ernst« mit ein paar Gläsern Whisky wieder runterspülen würde. Dummerweise jedoch bleibt, als man an der Marheineke-Markthalle um die Ecke biegt, der alte schwarze Mantel an einem dieser grässlichen E-Roller hängen. Der Roller fällt um und prompt beschwert sich eine aus der entgegenkommenden Gruppe junger buntbekrallter Frauen lautstark darüber, dass man das Ding nicht wieder aufrichtet. »Was stellen die Leute ihren Müll auch auf den Gehsteig«, ist darauf natürlich die falsche Antwort. »Das ist kein Müll! Das ist ein E-Roller, du Asi!«, kommt es zurück. Die seltsame Niedergeschlagenheit wird übermächtig. Lieber doch keinen Whisky mehr. Ab ins Bett.
Wer früher eine Zeitung brauchte, um halbwegs informiert zu sein oder sich am Frühstückstisch und in der Bahn die Zeit zu vertreiben, kann heute einfach aufs Handy starren.
Was diese Szene mit der gerade kulminierenden Printmedienkrise insbesondere im linken Bereich zu tun hat? Mit all den Abo-Rettungsaktionen und Spendenaufrufen für Titanic, Missy Magazine, Neues Deutschland, Katapult, Tagebuch und so weiter? Eigentlich alles. Denn hier wie dort geht es weniger um reale Werte als um eine sentimental grundierte Wertzuschreibung: Man wünscht sich für bestimmte mediale Produkte, dass sie auch weiterhin relevant seien – und dieser Wunsch muss über kurz oder lang enttäuscht werden.
Der Unterschied ist nur, dass sich Andrew Eldritch der geldwerten Fannostalgie einigermaßen sicher sein kann, solange er es nur irgendwie auf die Bühne schafft. Die genannten Blätter dagegen müssen ihre früheren Abonnenten mit aufwendigen Kampagnen zurückholen, bei denen sie sich selbst attestieren, immer noch relevant zu sein, und auf dieser Basis Solidarität einfordern. Ein letztlich hoffnungsloses Unterfangen, weil es – auch wenn es für den Moment funktioniert – auf lange Sicht keine Heilung bringt und somit eher an gegenseitige Sterbebegleitung erinnert. Denn auch die für solche Rettungsaktionen empfänglichen Nostalgiker werden mit den Jahren ja nicht mehr, sondern weniger.
Noch allerdings gibt es genug Leute, die sich erinnern können. Die beispielsweise die Titanic gerade mit Ein- oder Zweijahresabos in die Lage versetzten, auch künftig bei kargem Lohn Monat für Monat ein neues Magazin herauszubringen. Ein Magazin, das, wie man bald darauf feststellen kann, zuverlässig die alten Hits aus den Achtzigern abliefert (»Briefe an die Leser«, »Hans Mentz’ Humorkritik«, »Titanic-Telefonterror« etc.) und drumherum allerlei bebilderten Spott versammelt, der es teils, aber leider nicht durchgehend, mit dem aufnehmen kann, was das Internet täglich an lustigen Memes gratis serviert. Man blättert durch, schmunzelt hin und wieder und ahnt bereits, dass man nicht jedem der Hefte, die in den nächsten Monaten im Briefkasten landen werden, so viel Aufmerksamkeit schenken wird.
Und doch fühlt es sich richtig an, geholfen zu haben. Einfach deshalb, weil man glaubt, dass eine Welt ohne Titanic und all die anderen finanziell am Abgrund balancierenden Zeitungen und Zeitschriften eine schlechtere wäre. Sie sollen erhalten bleiben, weil die eine oder andere davon mal richtig wichtig für die eigene Entwicklung war und man daran gewöhnt ist, dass es diese Vielfalt an Blättern gibt. Die traurige Wahrheit aber ist, dass wir zuvor selbst für die finanziellen Probleme dieser Publikationen gesorgt haben, weil wir sie eigentlich schon seit Jahren nur noch am Rande wahrnehmen – zumeist online in Form von Einzelartikeln, die uns vermittels der sozialen Medien erreichen. Und das wiederum liegt gar nicht immer an mangelnder Relevanz, sondern sozusagen an der normativen Kraft des Faktischen.
Seit es das Internet gibt, gilt für nahezu alle Branchen: Transformation oder Disruption – komplette Umstellung des Geschäftsmodells oder Untergang. Und meist ist uns das völlig egal. Wo sind all die Reisebüros oder Plattenläden hin, die es früher an jeder zweiten Ecke gab? Wo sind die Kleinanzeigenblätter und Videotheken? Es braucht sie schlicht nicht mehr. Immer mehr Einzelhandelsflächen werden zu reinen Schaufenstergeschäften umgestaltet, weil der größte Teil des Verkaufs heutzutage online absolviert wird. Und wer früher eine Zeitung brauchte, um halbwegs informiert zu sein oder sich einfach am Frühstückstisch und in der Bahn die Zeit zu vertreiben, kann heute aufs Handy starren.
Man mag das alles für eine in vielfacher Hinsicht bedrohliche Fehlentwicklung halten, doch ein einfaches Zurück wird es nicht geben – schon gar nicht im journalistischen Bereich, der sich ganz offensichtlich perfekt für den Online-Konsum eignet. Die kontinuierlich sinkenden Verkaufszahlen sämtlicher Zeitungen und Magazine belegen das.
Auch wenn die Liste der momentan um ihr Überleben kämpfenden Publikationen das nahezulegen scheint, handelt es sich bei dieser Krise nicht um eine, die ausschließlich linke Medien beträfe. Auch am rechten Rand, bei der Jungen Freiheit oder Compact, wird um Spenden gebuhlt. Nur in der selbsternannten bürgerlichen Mitte, also bei den großen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazinen, vollzieht sich der Prozess langsamer. Sie haben den Vorteil, bei zahlungskräftigen Anzeigenkunden ebenso wenig ideologische Vorbehalte auszulösen, wie jene es umgekehrt bei ihnen tun. Und sie haben immer noch Spielräume, um Personal und Gehälter einzusparen – bei linken Zeitungen waren diese Spielräume schon in guten Zeiten kaum bis gar nicht vorhanden. Doch die verkaufte Auflage des Spiegels ist seit 1998 ebenfalls um 33,5 Prozent gesunken, Focus hat im selben Zeitraum ganze 69,7 Prozent eingebüßt und die Bild-Zeitung sogar 75,8 Prozent.
Man muss wahrlich kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass für nahezu alle Zeitungen und Magazine, gleich welcher politischen Ausrichtung, die einzige – ziemlich fragile – Hoffnung im Internet liegt. Das kann man deprimierend finden und sich mit Spenden- oder Abo-Aktionen noch einige Zeit dagegen wehren. Aber gerade für linke Blätter sollte klar sein, dass Nostalgie eine Form von Heimweh ist und es mithin ganz gewiss keine linke Vorgehensweise sein kann, sich davon abhängig zu machen. Was es vielmehr bräuchte, wären kluge Strategien, um online genug Geld zu verdienen, so dass man sowohl Redaktion als auch freie Autoren zumindest auf demselben niedrigen Niveau wie heute weiterbezahlen kann.
Bislang allerdings hat noch niemand einen Weg gefunden, wie das gehen könnte. Und das liegt vor allem an den Lesern, die zwar alles online konsumieren wollen, aber der analogen Welt dennoch weiterhin so stark verhaftet sind, dass sie digitalen Produkten nicht denselben Geldwert zuerkennen wie Waren, die physisch in ihren Besitz übergehen. Dass dieses Besitzverhältnis zwischen Briefkastenleerung und Entsorgung in der Altpapiertonne zumeist nur von kurzer Dauer ist, scheint dabei keine Rolle zu spielen.
Vielleicht gibt es keine Lösung für dieses Problem. Vielleicht wird das, was wir heute noch als Journalismus kennen, irgendwann vollständig durch konzerngesteuerte PR-Plattformen und Gratis-Blogs mehr oder weniger irrer Einzelkämpfer ersetzt, die sich mit knalligen fake news überbieten, um so Zugriffszahlen zu generieren, die sie für Anzeigenkunden ohne störende ethische Grundsätze interessant machen. Oder aber das GEZ-System wird nach dem erwartbaren Ende des linearen Fernsehens so umgestrickt, dass auch Zeitungsformate davon profitieren können, sofern sie sich denn brav in einem dem Staat genehmen Meinungskorridor bewegen.
Den eingangs erwähnten jungen Damen, die in auf Gehwegen herumstehendem Elektroschrott ein cooles Fortbewegungsmittel sehen und vielleicht nie erfahren werden, dass es mal eine Band namens Sisters of Mercy oder ein Satiremagazin namens Titanic gab, wird das womöglich völlig egal sein. Sie werden es vielleicht nicht einmal merken. Dem Nostalgiker im schwarzen Mantel hingegen bleibt nur zu hoffen, dass zumindest einigen dieser Publikationen doch noch eine Strategie einfällt, die zumindest einträglich genug ist, um seine bereits arg geschrumpfte Restlebenszeit zu überdauern. Und so legt er sich zu Hause eine alte Sisters-Scheibe auf, um mit aller an diesem trostlosen Abend noch aufzubietenden Restironie laut mitzusingen: »No time for tears / No time to run and hide / No time to be afraid of fear / I keep no time to cry … «