Sich sein Essen vom Fahrradkurier bringen lassen, verstößt gegen die DIY-Moral des Zeichners

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Essen auf Rädern

Am Sonntag sitzen Julia und ich in der Bergmannstraße und zeichnen. Genauer gesagt sitzen wir auf einem Grünstreifen in der Mitte der Straße auf mitgebrachten Campingstühlen. Wir zeichnen beide aus der gleichen Perspektive die gegenüberliegende Kreuzung zur Schenkendorfstraße.

Auf der rechten Seite, etwas weiter oben in der Schenkendorfstraße 7,  wurde 1975 der CDU-Politiker Peter Lorenz in einem Keller zehn Tage lang von der »Bewegung 2. Juni« gefangen gehalten. Wir interessieren uns heute für die Ladenfront des ehemaligen Reisebüros an der Ecke, das schon vor einigen Jahren geschlossen wurde.

Pleite ging, vermute ich, denn wer braucht heute noch Reisebüros, wenn man seine Flüge auch selbst im Internet buchen kann. Als wir vor Jahren einmal die Hilfe dieses nun geschlossenen Reisebüros in Anspruch nahmen, wurden wir prompt übervorteilt. Abgezockt! Die gleichen Flüge fanden wir wenig später, als wir selbst im Internet suchten, für die Hälfte des Preises.

Wo kommen die ganzen Fahrradkuriere eigentlich plötzlich her? Waren die vorher schon da oder werden die von den Lieferdiensten extra eingeflogen?

Seit Jahren ist der Laden geschlossen. Mittlerweile ist die Fassade mit Plakaten und Graffiti übersät. Ich vermute, der Vermieter verlangt zu viel Miete. Die ansonsten sehr geschäftige Bergmannstraße bietet an dieser Stelle jedenfalls ein Bild des Verfalls. Ich habe bereits die Häuserzeilen links und rechts skizziert, als zwei Fahrradkuriere verschiedener Lieferdienste vor mir halten.

»Oh Mann, ausgerechnet jetzt!« sage ich mürrisch. »Da hast du doch dein Bild«, antwortet Julia. Und recht hat sie! Sofort halte ich die zwei plauschenden Männer zeichnerisch fest. Sinnbilder unserer hungrigen, aber gleichzeitig auch übersättigten und bequemen Zeit, in der immer weniger Leute selbst kochen und sich ihr Essen lieber nach Hause liefern lassen.

Wo kommen die ganzen Fahrradkuriere eigentlich plötzlich her? Waren die vorher schon da oder werden die von den Lieferdiensten extra eingeflogen? Immer wenn ich einen Lieferfahrer sehe, telefoniert der über seine Kopfhörer. Mit wem unterhalten die sich immer während der Fahrt? Reden die mit Kunden, der Zentrale oder mit Freunden?

Etwas weiter oben, auf der rechten Seite der Schenkendorfstraße, hat ein neuartiger Imbiss eröffnet, bei dem von außen nicht zu erkennen, dass es sich um einen Imbiss handelt. In der Auslage sind keine der üblichen Menü-Bilder zu sehen. Immer stehen Leute in einer Schlange vor dem Geschäft. Sogar jetzt schon, um elf Uhr vormittags. Sie bestellen im Internet und holen sich die offensichtlich sehr leckeren, aber nicht gerade gesunden Burger, Tacos und Chicken Wings dann im Laden ab.

Weil der Laden  nur wenige Sitzplätze hat, essen die Kunden in den umliegenden Hauseingängen, auf dem Kinderspielplatz um die Ecke oder direkt auf der Motorhaube ihrer SUVs. Überall im Umkreis liegen die Plastikverpackungen. Aber wen kümmert das schon, wenn das Essen so lecker ist? Nach einer Stunde haben wir unsere Skizzen beendet. Jetzt haben wir selbst Hunger. Wir packen zusammen, gehen nach Hause und kochen selbst.