Donnerstag, 09.01.2020 / 20:19 Uhr

Libyen: Krieg um die wahre islamische Lehre

Von
Gastbeitrag von Manuel Störmer

In Libyen findet zwischen zwei wichtigen fundamentalistischen Gruppen ein bizarrer Konflikt um die wahre islamische Lehre statt, der jedoch kaum international Beachtung findet.

 

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(Libysche Milizionäre, Quelle: Wikipedia)

 

Am 7. Januar 2020 eroberte die Bürgerkriegspartei der „Libyschen Nationalen Armee“ unter dem Warlords Khalifa Haftar in seinem Krieg gegen die „Regierung der nationalen Übereinkunft“ von Fajez al-Sarraz überraschend die libysche Stadt Sirte. Diese liegt direkt zwischen den Städten Benghazi und Tripolis, den jeweiligen beiden Hauptquartieren der Bürgerkriegsparteien, mit Haftar im östlichen Benghazi und al-Sarraz in der westlichen Hauptstadt Tripolis. Was nach einem militärischen Sieg in einem Bürgerkrieg aussah, war in Wahrheit jedoch nur dem Fakt zu verdanken, dass eine dort stationierte Miliz urplötzlich die Seiten wechselte und damit innerhalb kürzester Zeit die Stadt Haftar übergab. Der an sich dröge Name der Miliz, Battallion 604, überdeckt dabei ihre extremistische Ausrichtung: Denn es handelt sich um eine salafistische Miliz, die einem radikalen saudischen Prediger namens Madkhali folgt und damit leider nur eine von vielen Milizen darstellt, die Madkhalis fundamentalistische Ansichten in die Tat umsetzen wollen und gegen „Abtrünnige“ und „Häretiker“ vorgehen, die sie in Libyen finden und zerstören wollen.

Muslimbrüder ...

Doch sie sind dabei nicht allein. Auch andere fundamentalistische Gruppierungen ringen im Bürgerkriegsland nach Macht und Einfluss, hierbei vor allem die islamistische Muslimbruderschaft, die vor allem in der Bürgerkriegspartei im Westen des Landes einen starken Einfluss besitzt und bewahren will. Sadiq al-Ghariani, der libysche Chefideologe der Gruppierung, wurde dabei einseitig zum „Großmufti Libyens“ ausgerufen, der mithilfe seines „Dar al-Ifta“ im Sinne der Bruderschaft Fatwas erlässt und dabei das Hauptvertretungsrecht Libyens und damit die politische Macht in Libyen beansprucht.

Dazu kommt der Einfluss der Jihadisten al-Qaidas und des IS, die in Libyen einen außerordentlich großen Einfluss besitzen und dessen IS-Zelle zwischenzeitlich weite Teile des Landes kontrollierte, gegen den jedoch beide Gruppierungen kämpfen.

... und Salafisten

Beide Gruppierungen bekämpfen sich aufs Blut und sprechen sich gegenseitig die Legitimation ab. Die Madkhalis beschimpfen die Muslimbruderschaft als „Abtrünnige und Häretiker“, die „Terroristen unterstützen“ würden, die Muslimbrüder wiederum beschimpfen die Madkhalis als Vertreter imperialen saudischen Einflusses und als Fanatiker. Beide Seiten haben gegen die andere Seite den Jihad ausgerufen und beide Seiten haben die Materialien der anderen Seite als gefährliche Häresie verbieten lassen.

 

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(Sadiq Ghariani, Qelle: Wikipedia)

 

Beide Prediger, Madkhali und al-Ghariani, erlassen Fatwas, in denen sie ihren Anhängern direkte politische und militärische Anweisungen geben und damit direkt auf den Bürgerkrieg Einfluss nehmen. Auch wenn die beiden Gruppen sich augenscheinlich aufs Messer bekämpfen, ähneln sie sich in der hohen Bedeutung, die sie dem Islam in Politik und Gesellschaft beimessen wollen. Beide sind hochgradig fundamentalistisch und extrem konservativ, beide geben religiösen Autoritäten einen starken politischen Anspruch.

Der Stein des Anstoßes

Doch warum bekämpfen sie sich eigentlich? Da sich beide Gruppen eigentlich in puncto ultrakonservativer und autoritärer Gesellschaftsordnung stark ähneln, ist diese Frage viel schwieriger zu beantworten als die Frage, warum sie es eigentlich nicht tun sollten. Die Gründe hier liegen in ideologischen Details sowie in vor allem politischen Fragen:

 

1. Das politische Modell, das die Madkhalis und das die Muslimbrüder anstreben, unterscheidet sich in wichtigen Details:

Die Muslimbruderschaft predigt eine Art „islamisch geleitete Volksherrschaft“, das auch Anleihen am Faschismus als „Volksgemeinschaft“ besitzt. Wahlen werden hier als Mittel zum Zweck einer islamisch geleiteten Parteidiktatur von Funktionären gesehen, die sich als authentische Repräsentanten des Volkes im Sinne Gottes sehen. Die Bruderschaft predigt eine völlige Einheit aller Muslime in einer allumfassenden, ideologisch reinen „islamischen Ummah“, das jedoch bedeutet auch, dass zumindest versucht wird, verschiedene islamische Gruppen zusammenzubringen und das Gemeinsame (nach außen!) zu betonen.

 

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(General Haftar, Quelle: Wikipedia)

Die Madkhalis hingegen predigen eine Art Quietismus, das heißt, anstatt einer ideologischen Einheit von Partei und Religion wird eine Trennung von Politik und Religion angestrebt. Das Vorbild hierbei ist Saudi-Arabien, wo die Predigerkaste enorm großen Einfluss über die Gesellschaftspolitik des Landes erhält, dafür aber im Gegenzug wie bei Paulus den jeweiligen politischen Herrscher absolut unkritisch und unbedingt unterstützt. Umgekehrt dafür ist die Gesellschaftspolitik der Madkhalis dafür noch radikaler als die der Muslimbruderschaft: Absolute Geschlechtertrennung, Ablehnung sämtlicher(!) Formen von Wahlen, Verfassungen, Demonstrationen oder Demokratie, massive Einschränkung der Frauenrechte, radikale Ablehnung sämtlicher „Häretiker“, darunter vor allem Sufis, Schiiten und andere muslimischer Gruppierungen.

Dadurch, da sie keine Mischung von Politik und Religion in der Art der Bruderschaft verlangen, sehen sie sich als authentischere Repräsentanten der Religion, die nicht durch die Politik korrumpiert werden könne.

De facto jedoch stellt Madkhali einen „Hofgelehrten“ dar, der de facto alles unterstützt, was die jeweilige Regierung tut und damit Kritik an den Madkhalis als „ausländische Agenten“ befeuert hat. So wurden die Madkhalis auch von Gaddafi dazu genutzt, Kritiker des Regimes sowie Aufständige als „Abtrünnige“ zu beschimpfen.

2. Die Muslimbrüder und die Salafisten unterscheiden sich auch einfach in einer Form: Sie werden von konkurrierenden Staaten und Gruppen unterstützt und sehen sich schlicht als Rivalen.

Während die Madkhalis von den Golfmonarchien unterstützt werden, die ein Interesse an politischer Stabilität nach innen haben, sehen diese Muslimbrüder wegen ihrer nominellen Unterstützung von Wahlen und gewisser Nähe zum Iran als Gefahr für das Überleben dieser Golfmonarchien. Die Golfmonarchien verfolgen seit einigen Jahren die Muslimbrüder und andere politische Islamisten als Konkurrenten, insbesondere Saudi-Arabien und die Emirate. Dieser Konflikt wird nun auch in Libyen ausgetragen, wo Haftar mit offener Unterstützung der Saudis und Emiratis als Handlanger der Golfmonarchien gegen die Bruderschaft eingesetzt wird.

Während die Muslimbruderschaft überwiegend eigene transnationale Interessen verfolgt, sind die Madkhalis leichter nutzbar, um die eigenen zu rechtfertigen. Dasselbe geschieht jetzt auch mit Haftar, der die Madkhalis gegen die Zivilgesellschaft und Kritiker einsetzt und Sicherheit, Ordnung und Ruhe gegen Terroristen verspricht. (Wichtig: Terroristen heißt hier auch „religiöse Abweichler“ bzw. politische Gegner) Ägypten tut dasselbe, um das al-Sisi-Regime zu stützen und unterstützt Haftar daher.

Haftar als Säkularer?

Khalifa Haftar, der sich im Ausland absurderweise als Säkularer in Szene setzt, hat höchstselbst einen „Jihad“ gegen die Türkei ausgerufen und spricht von seinen Kämpfern als „Mujaheddin“, ein Wort, das islamistische Terrorgruppen sonst immer nutzen. Damit hat er es Sadiq al-Ghariani, dem Großmufti der Bruderschaft, gleichgetan, der ebenfalls den Jihad gegen die Verbündeten Haftars ausrief.

Am Ende kämpfen hier zwei fundamentalistische ultrakonservative Gruppierungen gegeneinander um die wahre Lehre und religiöse Details, während deren Einfluss gegenüber liberaleren Gruppen immer stärker wächst.

Und das verheißt nichts Gutes für Frauenrechte, Minderheitenrechte oder demokratische Freiheiten.