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Montag, 08.06.2020 / 16:15 Uhr

Warum Trauern schwer ist

Von
Murat Yörük

 

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Die gelöste Heiterkeit, und zwar sich an den Trauerkundgebungen anlässlich des grausamen Todes von George Floyd abzuarbeiten, offenbart in mehrfacher Hinsicht die Unfähigkeit so mancher zu trauern: Entweder wird stark rationalisierend auf Coronamaßnahmen verwiesen, die Kundgebung als solche angegriffen und ausgeblendet, dass Trauer, Verlust und Angst zusammengehören, mit und ohne Corona; sodann wird Hautfarbenrassismus verharmlost, zur lediglichen statistischen Größe minimiert, relativiert, beschönigt oder sogar verleugnet; oder es findet ersatzweise - ebenso rationalisierend eine grundsätzliche Kritik an BLM statt, als ob es keine anderen Anlässe gäbe, sich an dieser fragwürdigen Bewegung abzuarbeiten.

Die Brutalität und die Grausamkeit des bestialischen Todes von Floyd wiederholt sich sodann im reaktiven Charakter, der zu Mitgefühl und Trauer offensichtlich nicht in der Lage ist. Während einige Weiße aus bewußter Schuld - weshalb auch immer - auf die Knie gehen, und um Absolution bitten, reagieren andere Weiße im Verharren auf ihrer unbewußten Schuld mit dreister Schuldabwehr, obwohl es keinen Grund dazu gäbe, sich ausgerechnet als ein doch schuldfreier Weißer für die Tat eines Einzelnen schuldig zu fühlen.

Beide Charakterformen sind jedoch Formen menschlicher Destruktivität, denn zum Verständnis solcher Phänomene wie Grausamkeit und Verlust - insbesondere durch Polizeigewalt - wird der reaktive Charakter nicht führen. Deshalb kulminiert das Abarbeiten am kritikwürdigen Antirassismus in diesen Tagen zur Präventivparanoia: Man könnte vom Antirassisten oder BLM-Aktivisten als Rassist entlarvt oder bezichtigt werden. So wird aus Angst vor einem Rassismusvorwurf auf das Nachdenken über Erfahrungen von Rassismus, die Schwarze machen verzichtet; stattdessen wird dreist zur angriffslustigen Ironie und Polemik übergegangen. Antirassismus ist gaga, BLM ist gaga, ich darf ja wohl noch Neger sagen...

Der Schatten eines toten Schwarzen fällt jedoch auf das Ich des Weißen, der panikartig entweder in die Knie geht oder erregt sich verteidigend in Stellung bringt. Damit wird aber Trauer und Mitgefühl verunmöglicht, denn das Changieren zwischen der Identifizierung mit einem toten Schwarzen und die Ent-Identifzierung mit ihm sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Schließlich haftet dem Verlustgefühl, der Trauer über das verlorene Objekt ein "Vorgeschmack des Todes an, denn es ist die libidinöse Reaktion auf die Sogwirkung des Todes", wie Adrian Stokes einmal schrieb. Deshalb ist Trauern wohl auch so schwer, so schmerzhaft.

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Dienstag, 18.02.2020 / 09:12 Uhr

Türkei: Die Wächter kommen

Von
Murat Yörük

Die türkische Opposition warnt vor der Schaffung einer Parallelpolizei, mit der Erdogan einmal mehr an eine Tradition aus dem Osmanischen Reich anschließt.

 

EGM'den flaş 2019 bekçi alımı açıklaması!

(Die neuen Wächter, Bildquelle: Twitter)

 

Der türkische Sicherheitsapparat ist neben der türkischen Religionsbehörde DIYANET einer der größten und umkämpftesten Arbeitgeber des Landes. Wer dort unterkommt hat nicht nur gute Kontakte, sondern auch die notwendige Disziplin und immer öfter das richtige Parteibuch: nämlich das der AKP.

Gerade in Zeiten wie diesen, mit aktuell steigender Arbeitslosigkeit (15,4 Prozent) und einer eklatant hohen Jugendarbeitslosigkeit – aktuell bei 25 Prozent – ist ein Unterkommen im Staatsdienst für nicht wenige der letzte Ausweg vor der existenziell bedrohlichen Armut. Für Viele – auch Hochschulabsolventen – ist eine Beschäftigung im Sicherheitsapparat sogar erste Wahl. Gerade eine solche Beschäftigung verschafft im islamisch-nationalistischen Milieu und sogar noch weit mehr im nationalistisch-faschistischen Milieu mit seinem Hang zu autoritärem Bewusstsein großes Ansehen im Familien- und Freundeskreis.

Der Stolz auf Soldatentum, aber auch der Wunsch, als bezahlter Soldat oder eben Polizist für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einzustehen – und wenn es sein muss, für Volk und Vaterland zu sterben, ist weit verbreitet und in der türkischen Gesellschaft hoch angesehen.

Die türkischen Sittenwächter kommen

Neuerdings beschäftigt der türkische Sicherheitsapparat neben Bediensteten in der Gendarmerie (200.000), Polizei (280.000) und der türkischen Armee (500.000) auch sogenannte Bekçi (Wächter). Bis Ende dieses Jahres soll deren Anzahl von derzeit etwa 21.000 auf 30.000 steigen.

Ab den 1980er Jahren verschwanden die Bekçi schleichend aus dem Stadtbild auch der Großstädte.

Auch wenn ihre Zahl vergleichsweise gering ist – tendenziell wie gesagt aber wächst –, werden die Wächter zukünftig umfassende neue Eingriffsmöglichkeiten erhalten. Am 2. Januar äußerte sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan erstmals diesbezüglich auf einem Symposium zum Thema „Sicherheit in der Stadt“ im Präsidentenpalast wie folgt:

„Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir die äußere Sicherheit unserer Städte nicht länger mit Festungsmauern und Gräben schützen und die innere Ordnung nicht allein durch Strafverfolgung sicherstellen können“.

Ende Januar folgten den Wersten dann erste Taten. Gemäß dem Gesetzentwurf – ähnlich dem Notstandsdekret Nummer 690 vom April 2017, das unter dem Titel „Hilfeleistung für die allgemeinen Sicherheitskräfte“ bekannt ist –, der dem Parlament zwischenzeitlich vorgelegt wurde, sollen die Wächter die Befugnis erhalten, bei Protesten einzuschreiten und nach Ausweisen zu fragen. Laut dem Entwurf dürfen die Wächter Handschellen und Schlagstöcke einsetzen und dürfen sogar Schusswaffen tragen. Bis zum Eintreffen der Polizei sollen sie zudem Ausschreitungen verhindern und potenzielle Straftäter festhalten. Auch körperliche Durchsuchungen sin ihnen erlaubt.

Fragwürdige Tradition

Die Bekçi galten bis noch in die 1970er Jahre als traditionelle Sittenwächter. Sie waren im Osmanischen Reich eine feste Institution, um auf den Straßen die islamische Moral durchzusetzen und zu kontrollieren. In der Republik patrouillierten sie nach 1923 insbesondere nachts in den Stadtvierteln und sorgten nicht nur für die Einhaltung der Nachtruhe. Sie hatten insbesondere nach 1950 im Zuge erster Reislamisierungstendenzen unter dem Ministerpräsidenten Adnan Menderes wieder die Aufgabe, die öffentlichen Sitten zu kontrollieren und bei Verstößen dagegen vorzugehen.

Entsprechend wurde in einigen alten Filmen, die sich einem kulturkritischen Impetus verpflichtet fühlten, dieser sittenstrenge Gestus der Bekçi kritisiert wie parodiert.

Legendär sind die Filme des türkischen Schauspielers Kemal Sunal. In der Komödie „Bekçiler Kralı“ (König der Wächter) von 1979 parodiert er das Sittenbild eines Bekçi, der dieses Mal – ähnlich streng wie der traditionelle Bekçi – im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten als linksautoritärer Bekçi gegen die kleinen Ausbeuter im Stadtviertel agiert. Statt wie traditionell islamische Ehre und Moral zu kontrollieren, wird bei Sunal den Kioskbesitzern, Bäckern, Metzgern und Kleinhändlern im Stadtviertel auf die Pelle gerückt, wenn sie etwa beim Abwiegen von Fleisch, Gemüse und Obst mit der Waage täuschen, dem Kleinverdiener zu deutlich überteuerten Preisen ihre Waren anbieten, ihre Waren gar zurückhalten, um mit der nächsten steigenden Inflationsrate höhere Preise zu erhoffen oder abgelaufene Produkte als Frischware deklarieren.

Die öffentlichen Ausschreibungen für dieses Jahr laufen noch, bis zu 10.000 neue Wächter will die AKP in diesem Jahr einstellen und bietet mit einem Einstiegsgehalt von 4500 türkischen Lira sogar das Doppelte des Mindestlohns an.

Ab den 1980er Jahren verschwanden die Bekçi schleichend aus dem Stadtbild auch der Großstädte. Allmählich war ihre Rolle als Sittenwächter überflüssig geworden. Mit der nach 1980 staatlich verordneten Reislamisierung von oben wurde ihre Rolle durch die allgemein herrschende Moral, die sich zunehmend islamisch verstand ersetzt. Nun kontrollierten Nachbarn – gerade in traditionelleren Vierteln – einander untereinander – und so gingen die Bekçi überwiegend in der Polizei und der Gendarmerie auf.

Opposition kritisiert

Erst nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 tauchten die Bekçi wieder im Straßenbild auf. Nach der Entlassung von ca. 34.000 Polizisten aus dem Polizeidienst wegen Verdacht auf Gülenismus, remobilisierte der türkische Innenminister Süleyman Soylu im Zuge zunehmender Sicherheitsbedenken die fast schon aus dem Gedächtnis verschwundenen Bekçi und holte sie in die türkische Gegenwart. Seitdem patrouillieren wieder Bekçi als Wächter auf den Straßen. Seit 2016 ist ihre Zahl von anfangs 8000 auf aktuell 21.000 Wächter gestiegen.

Nun will die AKP ihre Zahl erneut erhöhen und spekuliert damit, insbesondere junge Männer aus den parteieigenen Jugendorganisationen zu gewinnen. Die öffentlichen Ausschreibungen für dieses Jahr laufen noch, bis zu 10.000 neue Wächter will die AKP in diesem Jahr einstellen und bietet mit einem Einstiegsgehalt von 4500 türkischen Lira sogar das Doppelte des Mindestlohns an.

Die wichtigste türkische Oppositionspartei CHP kritisiert den Gesetzentwurf. Sie warnt vor einer Parallelpolizei und befürchtet, dass die Bekçi zunehmend zur Sittenpolizei werden könnten. Stellvertretend für die CHP erklärte der Abgeordnete Ali Öztunç, seine Partei habe sich zwar nicht grundsätzlich gegen die Gesetzesvorlage ausgesprochen, allerdings kritisiere sie die Übertragung von Polizeibefugnissen auf die Wächter. Abschließend fragte es:

„Die Gesetzesvorlage gibt den Wächtern die Befugnis, körperliche Durchsuchungen durchzuführen. Wird ein Wächter etwa eine Studentin körperlich durchsuchen, wenn er sie nachts sieht und sie gar sexuell belästigen?“

Frauenorganisationen sind beunruhigt

In einem Interview für die linke Tageszeitung BirGün erläutert die Rechtsanwältin und Gründerin der Frauenorganisation SEBUKA, Aslı Karataş, wie naheliegend Öztunç‘ Befürchtungen sind, indem sie auf den Umstand hinweist, dass lediglich 70 der aktuell 21.000 Wächter Frauen seien.

Gerade in der patriarchal geprägten türkischen Gesellschaft respektierten nicht wenige Männer auch im Staatsdienst die Grenzen von Frauen nicht und es käme nicht selten zu sexuellen Belästigungen. So sei zu befürchten, dass männliche Wächter trotz klar geregeltem Verbot körperliche Durchsuchungen an Frauen durchführen könnten; oder mittels der Befugnis, Ausweiskontrollen durchzuführen, gezielt beabsichtigen könnten, an persönliche Daten von Frauen zu kommen, um diesen Frauen dann in sozialen Netzwerken nachzustellen und sie zu belästigen.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Dienstag, 21.01.2020 / 16:30 Uhr

Warum die Türkei in Libyen mit Söldnern militärisch interveniert

Von
Murat Yörük

Nachdem sich Syrien für die Türkei als eine Sackgasse herausgestellt hat, beginnt Ankara neue Abenteuer in Libyen.

 

Erdogan und der Ministerpräsident der libyschen Nationalen Einheitsregierung Fajes al-Sarradsch
Erdogan und der Ministerpräsident der libyschen Nationalen Einheitsregierung Fajes al-Sarradsch (© Imago Images / Xinhua)

 

In Libyen könnte, wie in Syrien geschehen ist, ein Stellvertreterkrieg ausbrechen.Dabei sticht hervor, dass die vertrauten Akteure aus Syrien – Russland und die Türkei – auch kräftig in Libyen mitmischen.

Obwohl beide Hauptakteure zunächst verschiedene Seiten unterstützen – Russland ist auf der Seite der Libyschen Nationalarmee (LNA) um den General Chalifa Haftar, die Türkei unterstützt die Nationale Einheitssregierung (GNA) um Fajes al-Sarradsch –, wird abseits der Front an einem Waffenstillstandsabkommen getüftelt.

Schon jetzt zeichnet sich ab, was zumindest die Türkei bezweckt: Es scheint weniger um den allseits beschworenen neo-osmanischen Eroberungsdrang zu gehen, als vielmehr um den Versuch, aus der eigen verschuldeten außenpolitischen Sackgasse herauszufinden und durch die Intervention in Libyen die eigene Position im Konflikt mit den Anrainerstaaten des Mittelmeers zu stärken.

Die GNA um Sarradsch ist ein unbeliebter Partner, auf den neben Katar eben auch die Türkei setzt. Ende November 2019 trat sie offiziell als Akteur in den libyschen Bürgerkrieg ein. Das Abkommen zur „Sicherheit, militärischen Zusammenarbeit und Abgrenzung der Einflussbereiche auf See“ wurde im Dezember 2019 von einem Militärabkommen flankiert. Auf die Bitte von Sarradsch, türkische Soldaten nach Libyen zu entsenden, hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan reagiert und am 2. Januar hierfür vom türkischen Parlament ein Ermächtigungsgesetz erhalten.

Eine schwache Armee

Die türkischen Streitkräfte sind zu einer umfangreichen und zugleich erfolgversprechenden Operation bloß beschränkt fähig. Die Erwartungen der GNA dürften hoch gesetzt sein. So wird nicht nur erwartet, dass die Türkei den Vormarsch Haftars auf die libysche Hauptstadt Tripolis stoppt. Es wird auch gewünscht, dass Marinepatrouillen vor der libyschen Küste eingesetzt, eine Flugverbotszone im libyschen Luftraum errichtet und mit Russland ein Dialog, ähnlich dem Astana-Prozess für Syrien initiiert wird.

Zweifel sind angebracht, ob die türkischen Streitkräfte diese Wünsche vollumfänglich erfüllen können. So ist, anders als Syrien, Libyen kein Nachbarland. Dadurch wird der Nachschubweg problematisch. Libyen ist von der türkischen Küste knapp 2000 km entfernt. Metin Gürcan, ein türkischer Militärexperte und ein Ex-Offizier hat für Al-Monitor die Probleme, vor der die türkischen Streitkräfte stehen, deutlich benannt.

So habe die Türkei in Nordafrika keinen eigenen Stützpunkt. Nach Gürcans Einschätzung dürfte die Marine ohne ausreichende Luftraumüberwachung durch das luftgestützte Frühwarnsystem (AWACS) sehr leicht Angriffen ausgesetzt sein. Sie müsse mit einer Fregatte, 2-3 Kanonenbooten und 1-2 U-Booten vor Ort sein. Es fehle ihr zudem ein Flugzeugträger, der sich noch im Bau befände und nicht vor Ende 2020 fertig werden würde. Die Luftwaffe selbst – nach Gürcan der türkische Schwachpunkt – müsse mit 50 F16 Kampfjets im Einsatz sein, um dauerhaft Präsenz im libyschen Luftraum zu zeigen. Nach den Massenentlassungen der vergangenen Jahre klagten insbesondere die türkischen Luftstreitkräfte über fehlendes Personal. Es gebe mehr Kampfjets als Piloten. Ohne einen geeigneten Luftstützpunkt in Libyen könne die Luftwaffe nicht optimal operieren. Um eine dauerhafte Flugverbotszone einzurichten, seien deshalb Luftbetankungen notwendig. Denn der nächstgelegene türkische Stützpunkt sei im türkisch besetzten Nordzypern.

Keine Unterstützung durch Tunesien

Darum sind am 25. Dezember 2019 Recep Tayyip Erdoğan, Verteidigungsminister Hulusi Akar, Geheimdienstchef Hakan Fidan und einige Generäle unangekündigt nach Tunesien aufgebrochen. Vermutlich erhoffte man sich vom neu gewählten tunesischen Präsidenten Kais Saied Unterstützung. Denn ohne eine tunesische Unterstützung wird die Intervention in Libyen für die Türkei schwierig.

Man braucht nicht nur den Zugang zum tunesischen Luftraum, sondern auch zu einem Luftwaffenstützpunkt vor Ort, um zum Beispiel die türkischen Jets betanken zu können. Saied ließ sich allerdings in die türkischen Pläne nicht einbinden und erklärte, dass er unparteiisch bleiben wolle.

Türkische Söldner im Einsatz

Seitdem beschränkt sich die türkische Seite auf die Operationsplanung am Boden. Nach Gürcan müsse die türkische Armee mit einer kampferprobten Einheit in Brigadegröße – 3000 Soldaten – präsent sein. Gürcan bezweifelt jedoch, dass die türkische Armee selbst – in diesem Umfang wie von der GNA erhofft – in Libyen eingreifen werde. Bislang konzentriere sich die Militärpräsenz darum auf die Einrichtung eines Operationszentrums, um die Bodenpräsenz vorzubereiten. Spannend sei deshalb, so Gürcan, ob und wenn ja in welchem Maße der türkische Präsident den Konflikt mit seinen Generälen wagen würde, die sich des Einsatzrisikos in Libyen bewusst seien. Deshalb überrasche nicht, dass inzwischen Söldner aus Syrien nach Libyen eingeflogen werden würden, um sie an der Front einzusetzen.

In einem Fernsehinterview vom 5. Januar pochte Erdoğan auf den Einsatz von solchen „nichtmilitärischen“ Kräften in Libyen. Nach einer Meldung der syrischen Nachrichtenseite Zaman al-Wasl hätte sich bereits am 22. Dezember 2019 der türkische Geheimdienst mit Führern der Syrian National Army getroffen, um Vereinbarungen zwecks Rekrutierungen zu treffen. So soll die türkische Seite Monatsgehälter von 2000 – 3000 Dollar für diejenigen versprochen haben, die für mindestens drei Monate nach Libyen gehen wollen. Bislang sollen Hunderte der Faylaq al-Sham, Suqour al-Sham, der Sultan-Murad-Division und der Mutassim-Brigade das türkische Angebot angenommen haben. Dies deckt sich mit einem Bericht der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, wonach über 1000 Söldner, bezahlt von der Türkei in Libyen seien. Etwa 1700 Rekruten würden derzeit in Lagern in der Türkei ausgebildet werden.

Hinter solchen Maßnahmen steckt die Angst vor toten türkischen Soldaten. Das türkische Regime müsste sich, wenn eigene Soldaten fallen, vor der Öffentlichkeit rechtfertigen, die den Einsatz in Libyen, anders als vom Regime erhofft, nicht besonders begrüßt. Laut einer jüngsten Umfrage befürworten nur 34 Prozent der türkischen Bevölkerung einen Militäreinsatz in Libyen. Fraglich ist darum, ob Erdoğan das politisch riskante Unterfangen in Libyen zur Gänze in Kauf nehmen will. Unter seinen eigenen Wählern liegt die Unterstützung für den Militäreinsatz bei 56 Prozent.

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Sonntag, 22.12.2019 / 14:59 Uhr

Die Türkei nach der Spaltung der AKP

Von
Murat Yörük

Mit der Spaltung der AKP bröckelt Erdoğans Macht. Doch die Abtrünnigen sind alte Parteikader der islamischen Bewegung. Die künftige Entwicklung der Türkei ist ungewiss.  

 

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(Istanbul, Bilder: Thomas v. der Osten-Sacken)

 

Auf die Spaltung der AKP reagiert die türkische Opposition in diesen Tagen ganz ungehalten mit offener Schadenfreude. Dabei gibt es im Türkischen für dieses Gefühl kein eigenes Wort. Es lässt sich umständlich mit „Başkasının zararına sevinme“ übersetzen, was ins Deutsche wiederum übersetzt wortwörtlich so viel wie „Sich über den Schaden Anderer freuen“ bedeutet. Dabei ist die Schadenfreude nicht wirklich die rühmlichste Freude.

Und dennoch: Was könnte es heute wohl Schöneres geben als dabei zuzusehen, wie sich die AKP selbst zerlegt? Was könnte es auch Schöneres geben als Zeuge zu werden, wie ausgerechnet diejenigen, die für so viel Unrecht stehen sich nun untereinander zerfleischen und sich spalten?

Schadenfreude liegt darum nicht fern, sollte aber auch nicht die letzte Freude sein, die einem noch übrig bleibt. Denn noch immer ist ungeklärt, wie man die AKP und Erdoğan loswird. Entsprechend zeugen die höhnischen Reaktionen auf die Spaltung der AKP zunächst von der eigenen Ohnmacht und Passivität der Opposition. Man hat keine wirkliche Lösung und weiß auch nicht wirklich, wie man den politischen Gegner bezwingen soll.

Dennoch gibt es einen Grund zu leiser Hoffnung. Mit der Spaltung der AKP hätte man vor einigen Jahren nicht gerechnet. Gerade die Parteigänger der AKP leben davon, dass sie sich der höheren Sache verpflichtet fühlen, und ihr ganzes Tun – im Jargon der Islamisten gesprochen – der Dava (Sache) unterordnen, auch wenn sie untereinander zerstritten sind. Die Dava schweißt schließlich die Bande zusammen. Es wird entsprechend zusammengehalten und für die Dava gekämpft. Der Austritt aus der Partei wird folglich mit dem Verrat an der Sache gleichstellt. Im Regelfall tritt die Partei darum nach außen geschlossen auf und demonstriert machtvoll, wie ernst ihr die Dava ist. Wer der Dava sich nicht mehr verpflichtet fühlt, soll besser schweigen als zu gehen. Das käme dann der Spaltung der Umma gleich.

Skepsis ist angebracht

Es gibt darum allen Grund dazu, Skepsis zu bewahren und der Spaltung der AKP misstrauisch zu begegnen. Die prominenten Abtrünnigen sind schließlich keine unbekannten Namen, sondern altgediente Führungskader der AKP. Sowohl der ehemalige Außenminister und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, als auch der ehemalige Außen- und Wirtschaftsminister Ali Babacan und der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül sind jahrelang Recep Tayyip Erdoğans treueste Weggefährten gewesen. Sie tragen folglich eine Mitschuld am Unrecht der vergangenen Jahre. Es wäre daher zu einfach, einzig Erdoğan an den Pranger zu stellen, und so zu tun, als ginge alles auf das Schuldkonto des Reis (Führers).

Es fällt schließlich auf die islamistische Bewegung zurück, wenn Erdoğans Misere zur Misere der Bewegung wird.

Entsprechend unterschlagen die Abtrünnigen in ihren bisherigen Statements die eigenen Verstrickungen in die desolate Lage von heute. Selbstkritik steht nicht hoch im Kurs. Daran wird sich sehr wahrscheinlich in den kommenden Monaten auch nicht viel ändern. Im Jargon der türkischen Islamisten gesprochen, praktizieren sie bislang das, was man im Türkischen „ayıpları  örtmek“ bezeichnet. Zu Deutsch: Die Schandtaten verschleiern.

 

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Hoffnung macht darum allein die Tatsache, dass die islamistische Bewegung mit noch offenem Ausgang sich spaltet und dies dazu führen wird, dass Erdoğans Herrschaft eher bröckelt. Die Spaltung der AKP hat darum auch den Vorteil, dass die Islamisten vom Blockdenken Abstand nehmen müssen. Wer an Fronten operiert, schweißt gerne das Volk zusammen. Fällt der Führer, und finden die Massen nicht zusammen, sondern spalten sich in verschiedene Parteien, müssen sie koalieren und Kompromisse eingehen.

Anfang…

Dabei fing alles so gut an. Erdoğan und seine Weggefährten betraten die politische Bühne im August 2001 nach der Spaltung der Millî-Görüş-Bewegung mit der Gründung der AKP und einten die türkische Rechte. Konservative und Nationalisten gingen mit den Islamisten um Erdoğan in der neugegründeten AKP auf. Die AKP konnte sich in den Folgejahren – wohlgemerkt für türkische Verhältnisse – als eine Mitte-Rechts-Partei etablieren. Jahrelang gewann die AKP Wahlen auch allein aus dem Umstand, dass sie keine politische Konkurrenz befürchten musste.

…und Ende der AKP  

Inzwischen läuft es aber nicht mehr so, wie die AKP sich gerne sieht. Die Wirklichkeit ist längst ein Hohn auf den Parteinamen: Von Gerechtigkeit und Aufschwung ist nichts zu erkennen. Längst ist aus der AKP eine Ein-Mann-Partei geworden und an die Stelle der säkularen Republik ist Erdoğans Angstrepublik getreten. Inzwischen ziehen sich auch Erdoğans treueste Gewährmänner verbittert zurück und beklagen, dass die AKP ihrem eigenen Gründungsmanifest nicht mehr gerecht werde.  

Wenn aus der AKP nun zwei neue Parteien hervorgehen, so hat das allerdings auch damit zu tun, dass die Altkader die Niederlage der Dava befürchten. Es fällt schließlich auf die islamistische Bewegung zurück, wenn Erdoğans Misere zur Misere der Bewegung wird. Das will man wohl mit ganzer Kraft verhindern und Haltung bewahren. Die Probleme des Landes sind schließlich ungelöst und täglich kommen neue dazu. Erdoğans Offiziere und Matrosen verlassen allmählich das sinkende Schiff.

 

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Die AKP hat für die drängenden Probleme des Landes keine Lösungen mehr im Angebot und der Wähler spürt dies und äußert seine Unzufriedenheit inzwischen auch in Wahlen. Die Spaltung der AKP hatte sich darum bereits im Frühjahr dieses Jahres abgezeichnet, als die AKP viele Großstädte und Kommunen an die Opposition verlor. Insbesondere die verlorene Oberbürgermeisterwahl in Istanbul vom Juni 2019 muss der letzte ausschlaggebende Schlag gewesen sein, sodass nun die einstige Führungsetage der AKP sich auf eine Post-AKP-Ära vorbereitet.

Eine Post-Erdoğan-Ära wird immer wahrscheinlicher. Die Frage ist bloß: Wird sie eine Ära der Revisionen oder der Restaurationen sein?

Am stärksten spürt die andauernde Wirtschaftskrise das Stammklientel der AKP, das von Wahlgeschenken lebt und nun feststellen muss, dass die Spenden der AKP für das einfache Volk ausbleiben. Die islamisch-konservative Mittelschicht fühlt sich ökonomisch wie politisch in Stich gelassen, in Glaubensfragen nicht mehr vertreten und erkennt keinen Ausweg mehr aus der persönlichen Misere. Arbeitslosigkeit, Privatverschuldung und Konsumeinbußen beklagt diese Mittelschicht, und ist dennoch nicht bereit, zur säkularen Opposition zu wechseln. Das trifft auch auf die konservativen Kurden zu, die der AKP den Rücken kehren, und dennoch weder die CHP (Republikanische Volkspartei) noch die HDP (Demokratische Partei der Völker) wählen würden. Diese enttäuschten AKP-Wähler wollen die neuen Parteien nun einsammeln.

Doch die Wirtschaftskrise ist längst um die Staats- und Verfassungskrise erweitert. Der gescheiterte Putschversuch vom Juli 2016 und dann das Verfassungsreferendum vom April 2017 läuteten eine neue Erdoğan-Ära ein. Die Transformation der Republik in ein auf Erdoğan maßgeschneidertes autoritäres Präsidialsystem hat die AKP wie alle anderen Parteien im Parlament überflüssig gemacht. Die einstige Regierungspartei ist auf dem Weg zur Staatspartei inzwischen zu einem vollständigen Anhängsel von Erdoğan geworden. Schon deshalb reagieren Erdoğans einstige Weggefährten so verschnupft. Sie werden als Altgediente schlicht nicht mehr gebraucht.

Die Zukunft der Post-Erdogan Türkei

Nachdem die AKP spätestens 2014 zu einer Ein-Mann-Partei wurde, stellte innerhalb der AKP niemand die Machtfrage, obwohl sich der Niedergang abzeichnete. Erdoğan scheint zunehmend in seiner mystischen Rolle als Märtyrer für die eigene Sache aufzugehen. Vermutlich warteten Ahmet Davutoğlu, Ali Babacan und Abdullah Gül nur darauf, dass Erdoğans Durchmarsch in einer politischen Sackgasse endet.

Darum sind folgende Fragen in naher Zukunft dringend zu klären: Wie wird man so jemanden wie Recep Tayyip Erdoğan los? Was wird von ihm bleiben, wenn man ihn loswird? Das sind Fragen, die sich in der Türkei noch keiner öffentlich zu fragen traut. Spätestens seit den Gezi-Protesten im Sommer 2013 taucht aber immer wieder der Topos einer „AKP ohne Erdoğan“ auf.

Jetzt dürfte auch für die Abtrünnigen diese Zeit gekommen sein. Die AKP spaltet sich nun. Aber werden die einstigen Weggefährten von Erdoğan dessen Erbe antreten oder abtreten? Die Antwort auf diese Frage dürfte wohl die Zukunft der Türkei entscheidend bestimmen. Eine Post-Erdoğan-Ära wird immer wahrscheinlicher. Die Frage ist bloß: Wird sie eine Ära der Revisionen oder der Restaurationen sein?

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Mittwoch, 04.12.2019 / 11:27 Uhr

„Ich habe mit dem türkischen Staat nichts zu tun“. Zum Fall Emrah Erken

Von
Murat Yörük

 

Der Schweizer Rechtsanwalt Emrah Erken inszeniert sich als Vorkämpfer gegen Erdogan und Islamisten. Es bleiben ein paar Fragen zu seinem Engagement. Etwa die: Wieso empfiehlt das türkische Handelsministerium seine Dienste?

 

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(Ruhsar Pekcan, Handelsministerin der Türkei; Quelle: Republic of Turkey)


Ein kleiner Einspruch von vergangener Woche hat der islamkritischen Szene auf Facebook etwas liegengelassenen Sand in die Augen kommen lassen. Die Szene ist aufgewirbelt und aufgeschreckt.

An allen Fronten wurden Hilfs-Türken herbei gekarrt, die klären sollten, was es mit dem Türkischen nun auf sich hat. Denn irgendwie scheint in dieser Szene keiner wirklich türkisch zu können, obwohl gefühlt täglich der Kritiker seinem Lieblingshobby nachgeht und den Islam kritisiert. Offenbar verfügt man nicht einmal über ein Grundwortschatz Türkisch, um den Elementarkurs A1 „Türkisch für angehende Islamkritiker“ zu bestehen. Dabei leben seit über sechs Jahrzehnten Türken hierzulande und der Kritiker weiß nicht einmal, was Islamist – das Lieblingswort – auf Türkisch heißt!

Schande für das Türkentum

Auch die herbeigeeilten Türken konnten wie Emrah Erken höchstens nur rudimentär türkisch und fielen eher durch Ratlosigkeit auf. Wenigstens hat Erken allerdings, um sogleich zum Angriff überzugehen, sein sehr türkischen Rotstift – bestimmt ein Geschenk des türkischen Bildungsministeriums – aus seinem lange zurückliegenden Türkischunterricht ausgepackt und erkannt, dass in drei Fällen falsche Suffixe verwendet wurden. Was eine Schande auf das Türkentum!

Allerdings kann die Adelung als "funktionaler Analphabet", wie das Urteil von Erken lautet, gut verkraftet werden. Türkisch ist nicht unbedingt eine Sprache, die man beherrschen muss. Wer lesen kann, ist darum im Vorteil: Türkisch muss man nicht wirklich können, stand im Beitrag von vergangener Woche. Wer behauptet, es zu können, sollte es können. Das stand auch im Beitrag.

Emrah Erken fühlt sich allerdings angegriffen und will unbedingt türkisch können. Einem Türken zu unterstellen, er könne kein türkisch, ist für die Generation Erken fast wie eine Ehrverletzung. Jüngere kommen damit besser zurecht, ist die deutsche Sprache zumeist ihre Erstsprache und Türkisch nur die schillernde Sprache der Elterngeneration, die oft nur noch befremdet.

Wer will schon türkisch können?

Wer aber will ernsthaft eine Sprache beherrschen, müsste sich der Kritiker schon eher fragen, die durchsetzt ist von vulgären Ausdrücken, rassifizierten Redewendungen und durchtürkisierten Vokabeln? Wer will schon eine Sprache können, die Floskeln besitzt wie „gavurun kızı“ („Die Tochter des Ungläubigen“), um „ehrenlose“ Töchter zu beleidigen?

Je eher dem Kritiker das imaginierte und reale Bild der Muslimin auseinanderfällt, desto affektiver darum seine Wut.

Wer will schon eine Sprache können, die auf die Buchstaben x und w verzichtet, allein weil sie im Kurdischen verwendet werden? Wer will schon die Sprache eines Landes können, das Tausende kurdische, armenische und assyrische Dörfernamen, Vornamen und Wörter aus dem Sprachschatz getilgt hat? Wer will schon eine Sprache können, die auf der nationalistischen Lüge aufbaut, die menschliche Ursprache zu sein, so wie es die Propagandisten der Sonnensprachentheorie behaupten?

Alles Islamisten außer ...

Aber Leute wie Erken, die im Türkischen bereits keinen Begriff vom Islamisten haben, weil sie noch nie „İslamcı“ gehört haben, und gerade deswegen frei flottierend alles als mindestens Islamist abstempeln, desavouieren ihre Islamkritik, wenn sie Nuancen nicht mehr erkennen, sondern nur noch dem Dogma aus dem letzten Scharia-Lehrgang huldigen.

Islamist, schließlich verwässert und zu einem allseits einsetzbaren Potpourri geworden, wird so zu einem Label, mit dem wie auf einem Bazar frei gehandelt und mit dem irgendwie alles gelabelt werden kann, was einem nicht gefällt.

Lieblingsfeind Sawsan Chebli

In so einem Umfeld verschwimmen die Unterschiede etwa zwischen Sawsan Chebli, Nora Illi oder Fatima Najjar und alles wird nur noch zu einem anwidernden identischen Antlitz, das dem Kritiker auch noch frech ins Gesicht grinst.

Leute wie Erken benötigen jedoch Leute wie Chebli, gerade weil Chebli nicht dem Bild der Muslimin entspricht, die Islamkritiker wie Erken haben.

Von Sawsan Chebli lässt sich Emrah Erken daher des Öfteren angrinsen. Er ist geradezu besessen von ihr. Fast zeitgleich, als Sawsan Chebli Montagmorgen auf Twitter offen legt, dass sie Morddrohungen erhielt, fällt Erken auf Facebook, dem Umschlagplatz islamkritischer Meinungen, nichts besseres ein, als seiner Gemeinde mitzuteilen, was er von den Chebli hält.


"Sawsan Cheblis Vater wurde dreimal abgeschoben, weil er keine Asylgründe vorweisen konnte und dreimal ist er zurückgekehrt und hat dem deutschen Staat seinen Aufenthalt aufgenötigt...
Heute ist die Tochter des illegalen Einwanderers das islamistische Gewissen der Berliner SPD...".

 

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Beruf: Islamkritiker

Solche Sätze gehören zu Erkens Grundausstattung als Islamkritiker. Beruf Islamkritiker bedeutet für Leute wie ihn nämlich so etwas wie Lebenssinnerfüllung. Gerade das Ausschlachten peinlicher Auftritte von Chebli beflügelt unter solchen Kritikern die frivole Teilzeitbeschäftigung, wenn etwa höhnisch Cheblis Verlegenheit auf Pressekonferenzen kommentiert wird, ihre Rolex-Uhr beneidet wird oder insbesondere das „stilsichere Auftreten im figurbetontem Hosenanzug und High Heels“ in den Fokus gerät.

Hieße Sawsan nicht Sawsan, sondern Susanne – ihr käme wohl kaum jene Aufmerksamkeit und jener Promistatus zu, an dem ihre Kritiker selbst den größten Anteil haben. Sie wäre eine Politikerin wie jede andere, weder mit einer besonderen Bescheidenheit noch einem bewundernswerten Redetalent. Chebli wäre so wie irgendeine Staatssekretärin, und keine Krähe krächzte nach ihr.

Leute wie Erken benötigen jedoch Leute wie Chebli, gerade weil Chebli nicht dem Bild der Muslimin entspricht, die Islamkritiker wie Erken haben. Eine Muslimin, so denkt es im Kritiker, trägt ein Kopftuch, sucht nicht die Öffentlichkeit und übt keinen Beruf aus. Das hat man so im islamkritischen Milieu auswendig gelernt. Weil aber gerade Chebli diesem stereotypen Bild nicht entspricht, kein Kopftuch trägt und sich trotzdem als Muslimin bezeichnet, zieht sie Achtung und Verachtung auf sich.

Denn je unauffälliger eine Muslimin, so der Kritiker, desto verdächtiger ist sie. Das Stichwort lautet: Taqiyya. Je eher dem Kritiker das imaginierte und reale Bild der Muslimin auseinanderfällt, desto affektiver darum seine Wut.

Gehasstes Objekt der Begierde

Das Milieu, in dem sich Erken bewegt, erschafft sich deshalb, weil es sonst trist wäre als Kritiker, das gehasste Objekt der Begierde selbst. Chebli ist größtenteils das Produkt ihrer Kritiker und sie genießt jede Aufmerksamkeit, die sie bekommt, und bietet auch jede Gelegenheit, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Chebli hat verstanden, wie das Spiel mit ihren Kritikern funktioniert. Es ist die obskure Begierde des Kritikers, die von ihm nicht verstanden wird, aber gerade darum umso mehr das Faszinosum verspricht, an dem sich berauscht werden kann, bis Chebli endgültig vom Sichtfeld verschwindet.

Deshalb bricht der Hass aus Erken ungehemmter auf den Vater Chebli aus - wäre er doch einst abgeschoben worden, so die paranoide Logik, der Fall Chebli wäre asylrechtlich geklärt worden und der Kritiker wäre Sawsan Chebli los. Der Kritiker müsste nicht weiter damit ringen, dass das imaginierte und reale Bild der Muslimin auseinanderfällt.

 

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(Islamistisches Gewissen der SPD? Sawsan Chebli mit dem US-Botschafter; Quelle: Wikipedia)

 

Dabei stört Erken Cheblis Verhalten nicht wirklich. Sie ist ihm in Wahrheit gleichgültig; so beliebig ist sie ihm, dass er ihr andichtet, sie sei das "islamistische Gewissen der Berliner SPD". Abgesehen davon, dass ein "islamistisches Gewissen" ein Unsinnswort ist wie „nationalsozialistisches Gewissen“, und es viel Sprachunbewußtsein benötigt, um ein nationalsozialistisches oder islamistisches Gewissen zu behaupten, ist Chebli schon allein deshalb uninteressant, weil sie so gut in die SPD passt.

Nicht etwa, weil die SPD ein "islamistisches Gewissen" benötigte, sondern weil die Parteigenossen ein Gefallen daran finden, Cheblis Talentfreiheit mit Posten zu belohnen; und zwar deshalb, weil sie gut ins Image der Berliner Republik als weltoffen und bunt passt. Das macht aus Chebli allerdings nicht gleich eine Islamistin. Auch dann nicht, wenn sie den Skandal suchend behauptet, Scharia und Demokratie wären vereinbar.

Erst auf Nachfrage, die Provokation ist ihr ja bereits gelungen, erläutert sie in einem Interview für die Zeit, wie sie das meint: „Scharia beinhaltet rituelle Vorschriften für das Gebet und das Verhalten gläubiger Menschen, darunter die Verpflichtung zu Almosen. Das alles fällt unter die Religionsfreiheit. Andere Vorschriften der Scharia widersprechen ganz klar dem Grundgesetz und haben in einem demokratischen Staat nichts zu suchen.“ Hätte sie gleich gesagt, die islamischen Ritualpflichten wären mit der Demokratie vereinbar, alle anderen „Sachgebiete“ des islamischen Rechts nicht, hätte sie nicht die Aufmerksamkeit von Leuten wie Erken bekommen. So klug ist auch Chebli, die eben weiß, wie das mit der medialen Inszenierung läuft.

Eine obskure Liste

Und dann ist da diese Liste des türkischen Handelsministeriums, auf der 14 türkischsprachige Rechtsanwälte mit teilweise Bürositz in der Schweiz für Geschäftsleute in der Schweiz empfohlen werden.

 

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Einer von ihnen ist ausgerechnet Emrah Erken. Ein wenig verblüfft schon, dass das AKP-geführte Ministerium von Ruhsar Pekcan  – eine AKP-Frau ohne Kopftuch – unter der Regierung Erdogans einen Anwalt empfiehlt, der sich derart als Gegner dieser Regierung geriert.

Wieso ausgerechnet er?

Sicher, irgendwie kann ohne sein Wissen Erkens Name auf diese Liste geraten sein, wie er behauptet. Nur, wieso ausgerechnet er? Denn „praktisch alle“ türkischsprachigen Anwälte der Schweiz, wie er ebenfalls behauptet, befinden sich ganz sicher nicht auf ihr.

 

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Ein Blick auf die Mitglieder etwa des kurdischen Anwaltsverein der Schweiz reicht aus, um zu wissen, dass Erken hier nicht die Wahrheit sagt. Ganz im Gegenteil gibt es allein in der Schweizer Anwaltsvereinigung 49 türkischsprachige Anwälte.Und dort taucht noch nicht einmal Erkens Name auf. Auffällig ist jedenfalls, dass sich unter den Aufgeführten im Handelsministerium keine kurdischen oder alevitischen Namen finden. 

Sicher weiß er dagegen seit einigen Monaten, dass seine Dienste von der türkischen Regierung empfohlen werden.

Hat das türkische Regime also ernsthaft ohne vorherige Prüfung Erkens Name auf diese Liste gesetzt? Kommt man ohne gute Beziehungen zur Entourage auf diese Liste? Landet man wirklich unwissentlich auf dieser ihr? Sind Kemalisten wie Erken wirklich keine guten Kooperationspartner des Handelsministeriums, das gerade für europäische Geschäftsbeziehungen auf Anwälte setzen muss, die halbwegs vertrauchlich wirken? 

Aber Erken mag das alles nicht wissen. Sicher weiß er dagegen seit einigen Monaten, dass seine Dienste von der türkischen Regierung empfohlen werden. Offenbar hat ihn das nicht weiter gestört, sonst hätte er einfach erklären können, er versuche, dass sein Name gelöscht werde, da er nichts mit dieser Regierung zu tun haben wolle.

So aber hat er nicht reagiert. Er hätte z. B. auch erklären können, dass ihm dies ein Herzensanliegen sei, gerade auch aus Solidarität mit in der Türkei inhaftierten Anwaltskolleginnen und Kollegen. Nichts dergleichen ist geschehen.

Und das wirft eben einige Fragen auf, die nicht zu stellen wären, handelte es sich um einen weniger prominenten Anwalt, der sich außerdem nicht als unerbittlicher Regierungsgegner inszeniert.

Vielleicht hört sich Erken aber auch einfach einmal im Kollegium in der Schweiz um, vielleicht auch bei einem kurdischsprachigen Anwalt, der auf Nachfrage, wieso er nicht auf der Liste des türkischen Handelsministeriums steht, kurz und bündig mitteilte: „Ich habe mit dem türkischen Staat nichts zu tun.“

Erken könnte sich daran ein Vorbild nehmen. Und bis dahin am nächsten Eintrag in seiner Facebook-Gruppe „before sharia spoiled everything“, einer Gruppe für Nostalgiker arbeiten und sich fragen, wie es sein kann, dass ausgerechnet in der „islamisierten Präsidialdiktatur“ eine junge Frau aus der Islamisten-Hochburg Konya zur beliebtesten Popsängerin der letzten Jahre aufgestiegen ist.

 

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(Aleynia Tilki; Quelle: Facebook)

 

Es ist die Rede von Aleyna Tilki, 19 Jahre. Ihr Lied „Sen olsan bari“, das zwischenzeitlich 420 Millionen Mal angehört wurde, kann man sich auf ohne Türkischkenntnisse mit englischem Untertitel anhören. Wie gesagt: Türkisch muss keiner können. Wenn man dann noch Lust hat ein zweites Lied von ihr anzuhören, in der sie fragt, ob der Schwarm in der Liebe wild oder romantisch sei, entspricht solche Musik, die von der Generation AKP mit und ohne Kopftuch gehört wird, trotz 17 Jahren AKP nicht wirklich der propagierten „islamischen Sexualmoral“. Seltsam, Herr Erkan. Finden Sie nicht?

Dank an Thomas von der Osten-Sacken für seine Hilfe

 

Freitag, 29.11.2019 / 21:36 Uhr

Spaltet eine Palastintrige in Ankara die türkische Opposition?

Von
Murat Yörük

Die kemalistische Oppositionspartei CHP wird von Flügelkämpfen erschütttert. Das möchte Präsident Erdoğan für seine Zwecke ausnutzen.

 

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(Präsidentenpalast in Ankara; Quelle: Wikipedia)

 

Innenpolitisch steht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit geraumer Zeit stark unter Druck. Sowohl die Wirtschafts- als auch die Flüchtlingskrise sind immer noch nicht gelöst. Spätestens seit der verlorenen Oberbürgermeisterwahl in İstanbul zeigt sich zudem, dass die sonst zerstrittene türkische Opposition durchaus in der Lage ist, zusammenzuarbeiten und Wahlen zu gewinnen.

Diese Kooperation steht allerdings inhaltlich auf einem sehr brüchigen Boden, und findet nur schwer zu einem gemeinsamen Nenner. Tragende Säule der Opposition ist daher lediglich die Gegnerschaft zu Erdoğan. Darüber hinaus eint die türkische Opposition aus Kemalisten, Kurden, Nationalisten und Islamisten kaum etwas. Die ideologischen wie politischen Differenzen sind immens. Entsprechend hat Erdoğan ein leichtes Spiel, um die Einigkeit der Opposition zu testen und herauszufordern.

Forderung nach Neuwahlen

So erfolgte der jüngste Einmarsch in Nordsyrien auch im Interesse daran, die Opposition zu spalten. Außer der HDP hat sich keine der Oppositionsparteien gegen den Einmarsch gestellt. Bis kürzlich überlegte sie daher – auch aus Protest gegen die zahlreichen Bürgermeisterabsetzungen im Südosten der Türkei – den Rückzug aus dem Parlament, entschied sich jedoch vorerst allein für die Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen.

Jüngste Umfragen deuten zwar auf einen kurzfristigen Stimmenzuwachs für Erdoğan. Dieser reicht allerdings nicht, um die gebotene absolute Mehrheit von mindestens 50,1% zu erreichen. So viel Stimmenanteil braucht nämlich ein Präsidentschaftskandidat, um im neuen Präsidialsystem bereits im ersten Wahldurchgang gewählt zu werden. Erdoğan ist darum auf der Hut und sich sehr im Klaren darüber, dass für seine Wiederwahl ausreicht, die Opposition erstens zu schwächen und zweitens daran zu hindern, einen gemeinsamen Kandidaten zur Wahl zu stellen.

Bei einer geschwächten Opposition würde er zwar nicht im ersten, aber im zweiten Wahlgang, bei dem eine einfache Mehrheit ausreicht, einen Sieg erringen können. Eine Opposition, die nicht kooperiert, sondern gegeneinander agiert, wäre ein Segen für Erdoğan, auch wenn er nur mit 30 oder 40 Prozent siegt.

Doch der Einmarsch in Nordsyrien war – anders als erhofft – von kurzer Dauer, und längst stehen wieder andere Themen auf der Tagesordnung. Die mehrmonatige Propagandakampagne und die militärische Vorbereitung legen nahe, dass eine längere Intervention geplant war. Es kam allerdings ganz anders.

So kann Erdoğan zwar die nationalistische Stimmung seit dem Einmarsch und die Kriegszustimmung von über 75% für sich nutzen. Tragend und von langer Dauer wird diese Stimmung – bedingt durch den eher bescheidenen Erfolg in Nordostsyrien – allerdings nicht sein, und so geht Erdoğan zum direkten Angriff gegen die Opposition über, wobei er neue Register zieht.

Wer war im Palast?

Möglicherweise gehört ein Vorfall, der erst vergangene Woche öffentlich wurde, zu diesem neuen Schachzug. Alles deutet jedenfalls darauf hin, dass eine Palastintrige mehr als wahrscheinlich ist.

Der jüngste Skandal beginnt damit, dass der bekannte Journalist Rahmi Turan, der als Kolumnist für die auflagenstärkste türkische Tageszeitung Sözcü schreibt, am 20.11.2019 darüber berichtet, dass am 9. November ein hochrangiger Politiker der Oppositionspartei CHP unter strenger Geheimhaltung im Präsidentenpalast gewesen soll. Dort soll sich zwischen Erdoğan und diesem zunächst namentlich nicht näher genannten Politiker folgendes Gespräch zugetragen haben: Erdoğan habe im Falle einer Zusammenarbeit angeboten, „zum Wohle des Landes“ alles dafür zu tun, dass sein Gesprächspartner zum nächsten Vorsitzenden der CHP werden würde. Seiner Quelle traue Turan zu einhundert Prozent, Namen wolle er aber vorerst keine nennen.

Allein diese kurze Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Zunächst dementierte der Kommunikationsdirektor des türkischen Präsidenten Fahrettin Altun am 21.11, dass dieses Treffen stattgefunden habe. Es sei „völlig unrealistisch“, sagte er.

Wenige Stunden später erklärte der Parteivorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, dass ein solches Treffen ihn „nicht überrascht“ habe, und die Behauptung „wahr sein könnte“. Erdoğan versuche seit einiger Zeit, seine Partei unter Kontrolle zu bringen. So stehe auf dem kommenden Parteikongress im Frühjahr 2020 die Wahl des Parteivorsitzenden auf dem Programm, und Erdoğan käme es sehr gelegen, wenn die CHP intern aufgemischt und gespalten werde.

Der nationalistisch-kemalistische Flügel setzt auf die nationale Mobilmachung und steht einer kurdischen Öffnung eher ablehnend gegenüber.

Am 22.11 legte Turan nach. Ihm zufolge soll Muharrem Ince, der Präsidentschaftskandidat der CHP im Juni 2018 am 9. November im Präsidentenpalast zu Gast gewesen sein. Diese Information habe er von dem Journalisten Talat Attila, der wiederum selbst am 23.11 mitteilte, dass er die Information über dieses Treffen aus Führungskreisen der CHP erhalten habe. Muharrem Ince indes wies die Behauptungen zurück: Die Intrige gelte ihm; die CHP wolle parteiinterne Konkurrenten aus dem Weg räumen. Sollten sich die Berichte über das Treffen allerdings bewahrheiten und es Beweise gegen ihn gäbe, würde er sich auf dem İstanbuler Taksim-Platz selbst in Brand stecken.

Flügelkämpfe in der CHP

Seit Tagen wird nun darüber spekuliert, wer der unbekannte Gast im Palast gewesen sein soll. Es wird auch darüber gerätselt, wem die Intrige überhaupt gilt.

Diese Spekulationen treffen die Republikanische Volkspartei CHP zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Die Partei ist gegenwärtig in mindestens zwei Flügel geteilt und wird derzeit unter erschwerten Bedingungen vom Parteivorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu zusammengehalten. Der nationalistisch-kemalistische Flügel setzt auf die nationale Mobilmachung und steht einer kurdischen Öffnung eher ablehnend gegenüber. Entsprechend genießt unter diesen Kemalisten die HDP eine Geringschätzung und sie wird, wenn überhaupt, nur als ein Paria geduldet.

Aussichtsreichster Kandidat dieses Flügels ist der Physik-Lehrer Muharrem Ince, der zwar aktuell kein Parteiamt inne hat, jedoch seit seinem durchaus ansehnlichen Erfolg bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen 2018 mit über 30% die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Er hat dennoch keine Aussicht, zum neuen Parteivorsitzenden der CHP zu werden. Denn innerhalb der Partei dominieren gegenwärtig jene, die sich eine Zusammenarbeit mit der HDP, und darüber hinaus mit anderen kleineren Parteien, auch weiterhin vorstellen können. Dieser linke bis linkskemalistische Flügel steht geeint hinter dem aktuellen Vorsitzenden Kılıçdaroğlu.

Ince selbst hingegen tritt seit Monaten in Eigeninitiative und ohne eine Legitimation seiner Partei erhalten zu haben öffentlich auf – und erklärt sich des Öfteren eigenmächtig zum nächsten Präsidentschaftskandidaten der CHP. Zur Verärgerung seiner Partei tut er dies seit einiger Zeit auch noch in regierungsnahen Fernsehkanälen wie CNN Türk auf, die ihn gerne hofieren.

Ein lachender Dritter: Die AKP

Es würde darum kaum überraschen, dass der Palast diese jüngsten Entwicklungen innerhalb der CHP genau beobachtet und nun die Gelegenheit nutzt, um zum Frontalangriff überzugehen. Nahezu geschlossen springt die Regime-Presse auf die Seite von Ince und vermutet eine Verschwörung gegen ihn, koordiniert von einer Bande innerhalb der CHP, die Ince durch Klatsch und Verleumdungen loswerden wolle.

Dabei könnte sich die mangelnde Fähigkeit der CHP, den außer Kontrolle geratenen Ince zur Parteidisziplin aufzurufen, zu ihrem Nachteil entwickeln. Ob Kılıçdaroğlu – der sich bislang bedeckt hält, um noch größeren Parteischaden abzuwenden – sich, wie Ince wünscht, mit ihm vor der Presse zeigt, um Geschlossenheit zu demonstrieren, wird wohl über die nähere Zukunft der Oppositionspartei CHP entscheiden. Eine Spaltung kann sie sich nämlich nicht leisten.

Solch eine Spaltung wäre jedoch zum größten Nutzen der AKP, deren Sprecher Ömer Çelik die Situation so einschätzt:

„Die CHP ist eine selbstzerstörerische Partei. Wir haben mit diesem parteiinternen Komplott nicht das Geringste zu tun. Wir können uns auch keinen besseren politischen Konkurrenten wünschen als diese CHP-Führung. Sie steckt mit dem Kopf vollständig im Sumpf. (…) Sie schadet mit ihren Lügen der politischen Kultur dieses Landes. (…) Heute offenbart sich ihr autoritärer Geist.“

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Montag, 25.11.2019 / 17:52 Uhr

Islamkritik mit Zahnfäule

Von
Murat Yörük

Antideutsche Islamkritik ist inzwischen wie ein verfaulter Zahn. Der Träger scheut den Gang zum Zahnarzt, obwohl er spürt, dass mit dem Zahn etwas nicht stimmt. Dabei bleibt ein übler Mundgeruch, mit dem sich arrangiert wird.

Heute das Duo Felix Perrefort und Thomas Maul auf der "Achse der Guten": Als berufene Islamkritiker müssen sie nämlich kein türkisch, persisch oder arabisch können. Wer braucht heute auch sowas? Yallah und Mashallah reicht für das Zertifikat, um als Kritiker durchzugehen. Im Text noch Scharia und Djihad streuen - schon ist man Meister im Fach.

Wer braucht auch Sprachkenntnisse, wer paukt freiwillig Grammatiktabellen, wer will schon wissen, welche Suffixe es im Türkischen gibt und wann sie gebraucht werden?

Die Zuarbeit erledigen darum die Hilfsimame, hilfsweise auch Hilfs-Linguisten, die immer dann hinzugezogen werden, sobald es für den Berufenen eng wird. Entsprechend kommt so etwas heraus:

"Bezeichnend ist, dass in der türkischen Sprache eine äquivalente Konstruktion zu „Islamist“ nicht existiert, obwohl die Grammatik sie zuließe. Verwendet wird stattdessen das Wort „şeriatçı“. Die Endungen -çı und -ci werden als Berufsbezeichnung verwendet („Elektriker“ übersetzt sich z.B. als „elektrikçi“).*"

Abgesehen davon, dass "Islamist" im Türkischen wahlweise "islamcı", "takunyalı", "refahçı" oder "dinci" bedeutet, ein "islamcı" äquivalent zu "Islamist" sehr wohl existiert und ein "islamcı" vom "şeriatçı" sich unterscheiden lässt - nicht jeder Islamist will die Scharia einführen -, lässt sich zum linguistischen Desaster dieses Artikels folgendes noch sagen:

Die Suffixe bei Substantiven ci, -cı, -cu, -cü, -çi -çı, -çu, -çü werden im Türkischen in drei Fällen benutzt.

1. Bei Tätigkeiten, Handlungen und Substantivierungen, ohne gleich ein Beruf zu bezeichnen

Beispiele:
öğren-ci = Schüler
iş-çi = Arbeiter
birin-ci = Erster

yalan-cı = Lügner
acele-ci = Eiliger
inat-cı = Sturer
kavga-cı = Schläger

2. Vertreter einer Weltanschauung oder Ideologie

cumhuriyet-ci = Republikaner
milliyet-çi = Nationalist
devrim-ci = Revolutionär
devlet-çi = Etatist
Erdoğan-çı = Erdoganist

şeriatçı = Scharia-Anhänger.

3. Berufe, sofern kein Eigenname existiert.

A) Viele Berufe haben Eigennamen:

avukat = Rechtsanwalt
doktor = Arzt
öğretmen = Lehrer
...

Die Suffixbildung avukat-cı wäre zum Beispiel grammatikalisch falsch.

B) Viele Berufsbezeichnungen lassen sich nicht durch Suffixe bilden.

Z.B.:
a)
bil-mek = wissen
bil-im = Wissenschaft
bil-gi = Wissen
bil-en = Wissender

bil-gi-ci und bil-en-ci wären grammatikalisch falsch.

b)
dik-mek = nähen
dik-iş = Naht, Näharbeit
terzi = Näher, Schneider

Dikiş-ci wäre grammatikalisch falsch.

"* Wir bedanken uns bei Emrah Erken für die wertvollen linguistischen Hinweise."

Es bleibt die Frage: Kann Islamkritiker Emrah Erken, obwohl er unter anderem auch vom türkischen Handelsministerium, also dem Erdogan-Regime als Anwalt empfohlen wird, türkisch? Offenbar nicht.

Muss man türkisch können? Nein. 

Emrah Erken scheint einiges zu können, Dummschwätzen zum Beispiel. Türkisch kann er nicht. Man muss es auch nicht. Und wenn man vorgibt, es zu können, sollte man es können. Sonst bedanken sich Berufene noch für "wertvolle Hinweise", die in Wahrheit wertlos sind.

Nur online
Russisch-türkische Liaison

In Putins Hand

Der türkische Wind weht dieser Tage nicht wie traditionell gegen den historischen Feind Russland, sondern gegen die USA. Doch Erdogans antiamerikanische Liasion mit dem Kreml wird wohl nicht von Dauer sein. Von mehr...
Donnerstag, 24.10.2019 / 21:22 Uhr

Russisch-türkische Freundschaft: In Putins Hand

Von
Murat Yörük

Türkische Politik ist dieser Tage vor allem antiamerikanisch. Gegenüber Russland schlägt man ganz andere Töne ein. Das weiß auch der eurasischer Chedideologe Alexander Dugin. Auf Dauer scheint sie aber kaum angelegt zu sein.

 

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(Bildquelle: Kremlin.ru)

Der türkische Wind weht dieser Tage nicht wie traditionell gegen den historischen Feind Russland, sondern gegen die USA. Anders als vergangene Woche, als das den USA abgerungene Abkommen in der türkischen Presse als ein großer Triumph gefeiert wurde, wird das nun mit Putin vereinbarte Abkommen in Soschi lediglich als ein Sieg der türkischen Diplomatie gewürdigt. Entsprechend übt sich die türkische Presse in Zurückhaltung und bricht weniger im Siegesrausch aus, sondern gibt sich überraschend gefasst.

In Putins Hand

Man möchte wohl noch nicht wahrhaben, was geschehen ist und wie sehr man in Putins Hand geraten ist. Entsprechend jubelt die Presse auf ihre Art, nichtsahnend, wohin die türkisch-russische Freundschaft noch hinführen wird. Die Tageszeitung Hürriyet, die nach ihrem Besitzwechsel 2018 zur regime-nahen Demirören Holding Auflageneinbußen von bis zu 30% Prozent verzeichnet, gibt dennoch schrill den Ton an: "Bütün sınır temizleniyor". Zu deutsch: „Die ganze Grenze wird gesäubert.“
Andere Blätter wagen den emotionalen Durchbruch noch nicht. Die auflagenstärkste Tageszeitung Sözcü gibt sich daher ungewohnt verhalten: „Auch Putin ist geklärt.“ Die Zeitung Aksam, laut eigenem Motto „die Zeitung der Türkei“ gibt sich etwas kämpferischer als die Konkurrenz: „Auch Russland wird die Terroristen zurückziehen“.

 

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Die linksnationalistisch-eurasianische Tageszeitung Aydinlik steht im Zenit ihres außenpolitischen Erfolgs. Für sie läuft alles nach Plan: „Ein tödlicher Putsch gegen den US-Separatismus. Türkei-Russland-Syrien. Ein Friedensabkommen.“ Die Zeitung Günes wird ihrem Motto, „die mutige Zeitung des Volkes“ zu sein, gerecht: „Ein diplomatischer Sieg in Soschi. Die letzten 150 Stunden der PKK“. Die Zeitung Star, nach eigenem Bekunden „die Stimme der nationalen Souveränität“ beweist historisches Bewusstsein: „In der Sicherheitszone – ein geschichtsträchtiges Abkommen“. Und die Cumhuriyet konstatiert: „Seite an Seite mit Assad“ und wagt damit, den neuen Weg der Türkei bereits jetzt zu bezeichnen und fragt wohlwollend: „Erdogan und Assad – bald wieder beste Freunde?“

Dugins großer Auftritt

Da sitzt man vorm Bildschirm und will sich eine Talkshow bei Habertürk ansehen. Bei Didem Arslan Yilmaz geht es verleichsweise moderat zu. Doch gleich zu Beginn kündigt sie an, dass in Kürze ein Spezialgast per Skype verbunden wird: Kein anderer als Alexander Dugin, der, wie die Moderatorin verkündet, Putins rechte Hand sein soll und Erdogan &C o. vor dem Putsch 2016 ein Tag zuvor gewarnt habe.

 

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Irgendwann nach zwei Stunden, die Sendung dauert knapp vier Stunden schaltet sich endlich Dugin dazu. Im Kern verkündet er, was die Türken hören wollen: Hinter der YPG stecken die USA und Israel. Der türkische Einmarsch war notwendig. Die USA sind endlich weg. Dugin geht rasch ins Referieren über. Er scheint sich sehr darüber zu freuen, als Putins rechte Hand vorgestellt zu werden. Deswegen scheint er wohl mehr mitzuteilen, als ihm lieb ist. Dugin führt aus. Die Russen griffen nun ein, um Syriens Integrität zu wahren. Die Kurden gefährden die türkische Souveränität, Russland will jetzt die türkische Staatssicherheit ohne US-Hegemonie unterstützen. Irgendwann schaltet sich die Moderatorin ein, und beendet das Monologisieren und fragt: Wer kommt für die Russen zuerst? Assad? Die Kurden? Oder die Türkei? Dugin, etwas überfordert: Wir wollen eine neue Ordnung. Die US-Hegemonie stürzt, zieht sich aus dem Nahen Osten zurück und sobald die YPG entwaffnet wird, blühen gute Zeiten.

PKK ein Agent des Westens

Ganz besonders interessiert die Talkshowgäste die Beziehung zwischen Assad und der YPG, ganz so, als fürchtete man Assads Rache. Dugin beruhigt aber: Die Russen wollen noch nähere Beziehungen – und zwar zu allen. Alle sollen dabei sein. Syrien, Türkei, Iran und auch die Kurden. Abdullah Öcalan vertrete aber nicht die PKK. Er bekomme nichts mehr mit. Es sei daher absolut unrealistisch, dass ein Kurdenstaat entstehe. Das wollten die Kurden selbst nicht. Trump habe allerdings im Nahen Osten andere Visionen. Darum müsse kurdische Politik vom neuen Hegemon Russland neu gestaltet werden. Ohne kurdischen Terrorismus. Ohne USA. Ohne Israel. Mit neuen Lösungen.

Alexander Dugin: Hinter der YPG stecken die USA und Israel. Der türkische Einmarsch war notwendig. Die USA sind endlich weg.

Das provoziert die Gäste. „Kurdischer Terrorismus“ sei das doch nicht, was die PKK mache. Es kämpften schließlich auch Kurden in den türkischen Streitkräften gegen die PKK, die PKK vertrete nicht die Kurden, das seien Terroristen. Dugin ist überrascht, fühlt sich missverstanden, aber will die Stimmung nicht vermiesen. Er holt noch einmal aus. Die PKK sei die Marionette des Westens im Nahen Osten. Man dürfe darum nicht von den Provokationen des Westens sich herausfordern lassen. Denn der Westen nutze die Kurden nur aus. Jetzt habe der Westen aber mit Trumps Abzug die Kurden verraten und die Glaubwürdigkeit des Westens bei den Kurden verspielt. Jetzt sei die Zeit darum gekommen, für die Stabilisierung Syriens zu sorgen und gemeinsam mit den Kurden eine Lösung zu suchen.

Damit gibt sich der türkische Talkshowgast nicht zufrieden. Er hakt also nach. Was wäre denn mit der PKK-Vertretung in Russland. Sowieso sei die PKK in Russland nicht einmal verboten.

Dugin übt sich in russisch-türkischer Freundschaft: „Ich bin türkophil. Die Pkk wird vom Westen benutzt. Sie hat mit den Kurden nichts zu tun. Wir müssen darum neue Position einnehmen und ihre Vertretungen schließen. Mit den Kurden etwas Neues wagen“.

Russisch-türkische Freundschaft: Eine Anhängigkeitsbeziehung

So klingt also russisch-türkische Freundschaft. So wie jede Abhängigkeitsbeziehung keine Wonnen allerdings verspricht, und nicht von Dauer sein kann, weil sich die Abhängigen im Kern verschieden sind, wird die russisch-türkische Liaison jedoch sehr wahrscheinlich nicht von langer Dauer sein.

Anders als der putinsche Racket-Staat ist Erdogan nämlich ein Getriebener, der sich ökonomisch wie politisch treiben lässt und so lange sich treiben lassen wird, bis die US-amerikanischen Sanktionen kommen. Dann werden weder türkische Exporttomaten an Russland noch russische Touristen für die türkische Riviera die desolate Pump-Ökonomie der Türken retten. Aktuell betragen die türkischen Auslandsschulden 480 Milliarden Dollar und da wird auch kein russisches Petrogeld etwas bewirken. Putin kann darum weder die Rolle der USA einnehmen, und die Türkei vor dem ökonomischen Niedergang retten, noch den Außenhandel mit der EU ersetzen.

Spätestens dann, wenn die US-Sanktionen zu mehr werden als Drohkulisse, wird Erdogan sich umsehen müssen - und seinem geliebten Land den IWF zumuten. Insgeheim weiß Erdogan nämlich: Hinter Trumps Drohung, die türkische Ökonomie zu zerstören, steht die Frage, ob und wenn ja wie intensiv der IWF in die türkische Wirtschaft eingreifen wird.