»Unfähig, Deutschland zu einen«

Nach dem Krenz-Urteil sinniert die Nation, was ihr das Verfahren gebracht hat

Einen "Sieg der Gerechtigkeit" sah CSU-Generalsekretär Bernhard Protzner, einen "in der Weltgeschichte einmaligen Vorgang von politischer und juristischer Vergeltung" 155 solidarische Menschen in einer ganzseitigen Anzeige in der jungen Welt. Große Worte allerorten nach dem Urteil gegen Egon Krenz, Günther Kleiber und Günter Schabowski. Kuriosum am Rande: Aus Verärgerung über das Urteil verhinderten in Moskau die kommunistischen Abgeordneten eine Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog vor dem russischen Parlament.

In Deutschland waren die Parteien von Union bis Bündnisgrünen voll des Lobes über die Justiz. Von einer "bemerkenswerten und honorigen Leistung des Gerichts" sprach Berlins Justizsenatorin Peschel-Gutzeit (SPD), von einem "wichtigen Markstein bei der Aufarbeitung von DDR-Unrecht" der Vorsitzende der bündnisgrünen Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt.

In der PDS herrscht dagegen weniger Einigkeit in der Bewertung des Urteilsspruchs. Der Bundesvorstand der Partei, die Krenz 1990 unehrenhaft aus ihren Reihen entließ, nannte das Gerichtsverfahren eine "Schmierenkomödie", schimpfte auf die "Siegerjustiz" und warnte vor bevorstehenden "weiteren Verfolgungsmaßnahmen größeren Umfangs". Der PDS-Bundestagsabgeordnete Manfred Müller hält diese Argumente dagegen für abenteuerlich. Mit dieser Erklärung habe der Bundesvorstand den Gründungskonsens der PDS verlassen. Er könne nur hoffen, daß es sich dabei um eine einmalige Entgleisung handele, so Müller weiter, andernfalls müsse er Konsequenzen ziehen.

Das Gericht selbst bemühte sich in seiner Urteilsbegründung, wie schon im ganzen Verfahren, die politische Dimension seines Schuldspruchs herunterzuspielen. Ein Prozeß könne historische oder politische Konflikte nicht lösen, sagte Richter Josef Hoch gleich zu Beginn. Krenz verurteilte er wegen Totschlags in vier Fällen zu sechseinhalb Jahren. Auch wenn er nicht am Aufbau des Grenzregimes beteiligt gewesen sei, habe Krenz wie seine Mitangeklagten an Beschlüssen des Politbüros mitgewirkt, die einem "ideologischen Schießbefehl" gleichkamen. Auch sei Krenz als Sekretär der Abteilung für Sicherheitsfragen über jeden Grenzzwischenfall im Detail informiert gewesen. Schabowski und Kleiber, die erst später ins Politbüro aufgerückt waren, legte das Gericht minder schweren Totschlag in drei Fällen zur Last. Je drei Jahre Haft lautete das Urteil. Im Gegensatz zu Krenz wurde ihnen ein "vermeidbarer Verbotsirrtum" und ihr günstiges "Nachtatverhalten" zugute gehalten.

Während der überraschend milde Urteilsspruch dem Publikum im Berliner Landgericht Tiergarten keinen rechten Anlaß für Empörung in die eine oder andere Richtung bot, sorgte die Verhaftung von Krenz im Gerichtssaal doch noch für bewegte Szenen. "Ich beuge mich nicht", rief der 60jährige aus, der freilich schon vorab von seiner bevorstehenden Verhaftung informiert war. Und so hatte er eine Erklärung vorbereitet, die sein Sohn nach dem Urteilsspruch verlas. Seine Verhaftung sei Ausdruck von Gesinnungsjustiz, heißt es darin, "die Antwort darauf, daß ich mich nicht gebeugt habe". Das Urteil gegen ihn führe fort, "was mit der Vertreibung vieler DDR-Bürger von ihrem Grund und Boden, dem Rentenstrafrecht und den Berufsverboten begann. "Es beweist, daß die Herrschenden unfähig sind, Deutschland zu einen."

Während Schabowski und Kleiber in Freiheit abwarten können, bis das Urteil gegen sie rechtskräftig wird, unterstellte das Gericht bei dem letzten DDR-Staatsoberhaupt Fluchtgefahr. Deshalb sitzt Krenz jetzt im Untersuchungsgefängnis in Berlin-Moabit ein - bis zum nächsten Gerichtstermin. Und der kommt bestimmt. Zunächst muß das Berliner Kammergericht über die Haftbeschwerde der Krenz-Verteidiger entscheiden. Und beim Bundesgerichtshof liegen die Revisionsanträge der Verteidigung, die weiter auf Freispruch plädiert, und der Staatsanwaltschaft, die höhere Strafen fordert. Anfang 1998 wird die Revisionsentscheidung erwartet. Ein neuer Anlaß für Reflexionen über Recht, Politik und Vergangenheitsbewältigung.