Vogts‘ vertonter Alptraum

Eine tiefenhermeneutische Untersuchung des neuen WM-Liedes ergibt: Da wurden Fehler gemacht

Schneller als Bild ist nichts und niemand. Bereits am 3. September druckte das Hochgeschwindigkeitsblatt erste Auszüge aus dem neuen WM-Song der bundesdeutschen Fußballnationalmannschaft. Zwar zeigt man sich vor allen anderen Nationen wieder einmal frühzeitig mental alarmgerüstet und auf höchster Ballhöhe; doch hat der DFB heuer zugeschlagen, ohne den traditionell volksliedgutlichen Charakter des leistungsfördernden Hymnus zu wahren, und dem verenglischten Titel "Running With A Dream" irrigerweise den Zuschlag erteilt. Hallo, Otto-Fleck-Schneise, what's up, you biggest and mightiest Sportverband of the world? Welcher Gaul ist da schiefgelaufen?

Jahrzehntelang wurden Gesangswunder wie der Tastentroll Udo Jürgens verpflichtet; diesmal gehen Anna Maria Kaufmann und die aufgefönte Quietschentöle Joey Tempest, Ex-Lead-Singer der schwedischen Fanta-Rocker Europe, an den Start, Komponist ist der Engländer Mike Batt. Gott sei Dank verantwortet wenigstens die inhaltlich substantielle Grundidee der Komposition kein anderer als Hans-Hubert Vogts, die Butter läßt sich der alte Fuchs, wenn schon die gesamte Führungsspitze pennt, nicht vom Brot nehmen.

"Mit diesem Song sollen sich alle unsere Fans identifizieren", fordert der Bundestrainer laut Bild. "Er ist gleichzeitig Ansporn für unsere Jugend, weil er von einem Traum erzählt, der Wahrheit wird - wenn man für den Erfolg hart arbeitet."

Bei allem Respekt: Geht das denn? Kann ein Stück Musik infolge gleichzeitiger Identifikation seiner Hörer mit sich selbst weiter eines Trauminhaltes gewahr werden, welcher als Wahrheit Gestalt annimmt, sobald die Hörer für ihn, den Traum, der praktisch unbewußt, unwillentlich über sie hereinbricht, bei vollem Bewußtsein zur Schaufel greifen?

Wir meinen: Jein! Und doch ja!

Warum?

"Wir spielen für einen Traum, / der tief in uns brennt", lautet der Anfang, "laßt euch von niemandem unterkriegen, / laßt euch diese Chance nicht entgehn!" Klar, diese stringent konsistente Appellation an Sportsgeist und Siegeswillen unserer Auserwählten dürfte bezüglich ihrer Unmißverständlichkeit kaum zu überbieten sein. Kaum! Denn schon die nächsten fünf Zeilen ergänzen den furiosen Einstieg, die flammende Introduction, um nichts Geringeres als eine offenherzig argumentierende reflektierende Explikation und nicht zuletzt eine das heute ja zumal bei Fußballern oft schwächelnde Gedächtnis stützende Rekapitulation des Vorherigen: "Wir spielen für einen Traum." - bon - "Nur wir können zeigen, wie weit / dieser Weg führt", nicht bis an den Ural, nicht übern Brenner nach Bozen und Boston, nicht in die Wüsten des afrikanischen Kontinents, "dieser Weg führt / und was es bedeutet, / für einen Traum zu spielen". Voll roger! Keine Einwände.

Nun aber folgt der eher prosaische, der dezidiert moritatenhaft-balladeske Teil, ein Part von ausgemachter Bert Brechtscher Lakonie im Gestus der Selbstbefragung und -vergewisserung des modernen Profis als eines Wesens, das mit dem Druck des Siegenmüssens, dem Neid der Nächsten, den Medien und dem ganzen Kram tagein, tagaus auch zu kämpfen und sein Scherflein zu tragen hat: "Manchmal scheint es, als stehst du ganz oben, / dann will jeder etwas abhaben vom Erfolg" - mjamm, mjamm - "manchmal stehst du mit dem Rücken zur Wand, / doch davon will dann keiner was hören."

Haben Sie's gehört? Davon will keiner "was" hören! Nicht keiner "etwas", sondern: keiner "was". Wow!

Leider verliert sich im weiteren Verlauf ein wenig die anfänglich sehr kraftvolle, komprimierte und überzeugend konsequenzlogische Immanenz des Stückes. "Wir haben hart trainiert, sind weit gekommen, / wir geben nie auf", triumphiert unser Textdichter noch, macht den chancenlos angereisten Konkurrenten auch gleich klar, auf welcher Seite gefälligst die Tore fallen: "die Welt wird uns sehen, wie wir sehen", aber ohne Wenn und Aber -; aber dann, dann doch der Satz: "doch wir spielen für einen Traum, / der tief in uns brennt". Liegen wir richtig, wenn wir behaupten, es schleiche sich hier plötzlich eine Spur von Verzagtheit, Versagerangst, ja von Feigheit ein, vorausschauend und vorbauend dem bloß erträumten und gar nicht wirklich statthabenden Titelgewinn, dergestalt das zu erwartende frühe Ausscheiden noch ummünzend in einen dann eher stillen Triumph des Willens? Als Triumph des Traumes?

Soll sich aber mit sowas die Jugend anstecken? Ansporn finden (oder haben? oder empfinden?) für einen seiner Realisierung entgegenstrebenden Traum, dessen Wahrheit die Niederlage ist? Arbeiten für Nüsse? Um hinterher mit einem ollen Ladenhüter von Loser-Lied dazustehen?

Herr Vogts, retour! Herr Braun, ein neuer Kampf-Choral muß her!