Anarchistisches Gekicke

In Belgiens Fußballstadien macht jeder, was er will: Fans besetzen den Platz, die Provinz kickt ganz oben

In Belgiens Fußballstadien greift die Anarchie um sich. Schiedsrichter nutzen Erstligaspiele zu Kundgebungen in eigener Sache, Fans nutzen Erstligaspiele zu Kundgebungen in eigener Sache, und Clubs, deren Namen im Ausland noch nie jemand gehört hat, nutzen Erstligaspiele auch zu Kundgebungen in eigener Sache. Letzteres hat in Belgien eine andere Bedeutung als - sagen wir - eine vorübergehende Tabellenführung von Hertha BSC oder des VfL Bochum hierzulande. In der Türkei wird immer ein Istanbuler Club Meister, in den Niederlanden Amsterdam, Eindhoven oder Rotterdam, in Bulgarien ein Verein aus Sofia.

Das war in Belgien bisher auch so: Anderlecht, Brüssel, FC Brügge, Standard Lüttich, Antwerpen, zeitweilig der mittlerweile zweitklassige KV Mechelen - die Landesmeisterschaft war während der letzten zwanzig Jahre vorrangig eine interne Konkurrenz der Etablierten, der Rest der Liga halt Folklore aus den Vorstädten. Im letzten Jahr wurde mit dem Lierser SC dann völlig unerwartet die Mannschaft eines solchen Antwerpener Vororts Meister - eine Erschütterung des Systems, die eine tiefere Wirkung hatte als etwa der Farbtupfer, den Kaiserslautern vor sechs Jahren mit der Verbindung von Feldkamp, Kampf und pfälzischem Regionalchauvinismus mit der Meisterschaft in der Bundesliga setzte. Die Deutschen waren damals in Rom gerade Weltmeister geworden, der belgische Fußball hat weder auf Vereins- noch auf Verbandsebene international jüngere Erfolge vorzuweisen.

Während etwa Anderlecht in den achtziger Jahren mit seinem rationellen Angriffsfußball immer wieder in den Europapokalen renommierte und die belgische Nationalmannschaft von jedem Gegner ernstgenommen werden mußte, finden die entscheidenden Runden im internationalen Vereins- und Verbandsfußball der neunziger Jahre ziemlich regelmäßig ohne Beteiligung aus dem Königreich statt. Noch vor einigen Wochen wurde die belgische Nationalmannschaft in Rotterdam von den Niederlanden im WM-Qualifikationsspiel mit 3:0 abgefertigt. Insofern war die letztjährige Meisterschaft der Lierser Ausdruck einer sportlichen Regression, die sich in der laufenden Spielzeit fortzusetzen scheint. Ende September standen neben dem FC Brügge - so etwas wie der belgische VfB Stuttgart - mit Genk und Lommel zwei Mannschaften an der Tabellenspitze der 1. Division, die, ebenso wie Lierse, international jeden Vergleich scheuen müßten. Anderlecht - Belgiens Pendant zu Bayern München - liegt im Mittelfeld, Standard Lüttich - einst Stolz des einst ortsansässigen Kohle- und Stahlproletariats und damit so etwas wie Schalke 04 - ist nach jahrelanger Geldnot und viel Ärger mit den Finanzämtern unter dem Ex-Bremer Trainer Ad de Mos mit dem Aufbau einer jungen Mannschaft beschäftigt und Vierzehnter. Der FC Antwerpen - früher ziemlich regelmäßiger Uefa-Pokalteilnehmer (vgl. Bayer Leverkusen) - steht ohne Punkt am Tabellenende. Daß Provinzclubs nun um die Meisterschaft mitspielen, liegt nicht daran, daß sie neue Maßstäbe im fußballerischen Niveau: Vielmehr ist das Establishment auf das Niveau der Provinz herabgesunken. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, daß man in Belgien gerne auf verbilligte Spieler und Trainer zurückgreift, die nebenan, in der Bundesliga oder der niederländischen Ehrendivision, ausgemustert wurden.

Das Provinzielle färbt auf das sogenannte Umfeld ab: Neuerdings machen sich die belgischen Fans einen Spaß daraus, regelmäßig die Spielfelder zu besetzen. Mitte September mußten an einem einzigen Spieltag Begegnungen in Brüssel, St. Truiden und Westerlo unterbrochen werden, im letzteren Fall hielten Fans des FC Antwerpen eine spontane Protestkundgebung auf dem Rasen ab, nachdem ihr Verein das fünfte Gegentor beim Aufsteiger kassiert hatte. Auch die Schiedsrichter machen mit beim Anarchismus: Nachdem im Verlauf der Bestechungsaffäre um Anderlecht Informationen in Umlauf gebracht wurden, acht Erstliga-Schiedsrichter seien bestechlich, schlug die Zunft mit einer originellen Aktion zurück. Am 12. September, einem Freitagabend, pfiff Schiedsrichter Piraux in der 31. Minute die Begegnung Standard - Anderlecht ab und verschwand, begleitet von seinen Linienrichtern, ohne Erklärung in der Umkleidekabine. Fünf Minuten vergingen, Erste-Hilfe-Teams machten sich schon einsatzbereit, da erschien Piraux und pfiff das Spiel wieder an. "Diese Unterbrechung war ein Protest gegen die diffamierende Vorgehensweise der Presse gegen die Schiedsrichter." Das gleiche passierte am Tag danach in allen anderen Stadien.

Daß der belgische Verband zur Zeit die Arbeit von acht Schiedsrichtern überprüft, hat mit René Van Aeken zu tun. Der war einst Manager bei Anderlecht und hat kürzlich den Verbandsoberen ein Dossier geschickt, in dem jene Unparteiischen namentlich aufgelistet sind, die angeblich gegen Bares den Erfolgen der Brüsseler nachgeholfen haben. Aekens, der vom ehemaligen Anderlecht-Boß Constant Vanden Stock umgerechnet 500 000 Mark Schweigegeld erhalten haben soll, war es auch, der mit seinen Enthüllungen dazu beitrug, daß Anderlecht nach der nächsten Qualifikation nicht im Europapokal spielen darf. Als herauskam, daß der inzwischen verstorbene spanische Schiedsrichter im März 1984 für ein äußerst dubioses 3:0 der Anderlechter im Uefa-Cup-Halbfinale gegen Nottingham Forrest ein "zinsloses Darlehen" von 50 000 Mark erhalten hatte, sprach der europäische Verband eine einjährige Sperre gegen den Club aus. Die Strafe wurde "aus moralischen Gründen" verhängt, da die Tat, die Anderlecht nach einer 0:2-Hinspielniederlage ins Pokalfinale brachte, juristisch längst verjährt ist. Mit der Aktion rettete der schwedische Uefa-Präsident Lennart Johansson seinen Anspruch auf den Chefposten des Weltfußballverbandes Fifa. Ein dickes Paket mit Papieren zum Anderlecht-Fall befand sich nämlich bereits seit 1992 in Johanssons Behörde - allein der Chef wußte nichts davon. Nun diskutiert Fußball-Belgien über die Korruption, derweil der Vorsitzende der Untersuchungskommission im Falle des Kindermörders Dutroux zum beliebtesten Politiker des Landes avanciert ist. Da ist dann auch egal, wenn Lommel Meister wird.