»Denn sie wissen nicht, was sie unterzeichnen«

Frankreichs Intellektuelle rufen zum zivilen Ungehorsam auf - gegen das neue Ausländergesetz von Innenminister Chevènement

Kontinuität ist Trumpf - auf beiden Seiten der Barrikade. Die Autoren der Petitionen, die im Februar 1997 zum zivilen Ungehorsam gegen das vom konservativen Innenminister Jean-Louis Debré vorgelegte - und kurz darauf leicht verändert verabschiedete - repressive Ausländergesetz aufriefen, haben sich am 1. Oktober erneut zu Wort gemeldet - diesmal gegen die Pläne der neuen Linksregierung. Erster Grund dafür ist die Weigerung der regierenden Linksparteien, die restriktiven Gesetzestexte der Ära Debré sowie die seines Vorgängers Charles Pasqua aus dem Jahr 1993 abzuschaffen - ganz im Gegensatz zum Wahlprogramm der Sozialistischen Partei vom Mai 1997, das ausdrücklich die "Abschaffung der Pasqua- und Debré-Gesetze" forderte.

Der Entwurf aus dem Hause des neuen Innenministers Jean-Pierre Chevènement zur Neugestaltung der Immigrationspolitik basiert auf der Gesetzgebung der konservativen Ära 1993 bis 1997 und wird durch eine Reihe neuer Maßnahmen ergänzt. Deren Quintessenz faßte Patrick Weil, Vorsitzender einer Untersuchungskommission, die Vorschläge für die neue Immigrationspolitik ausarbeitete, in einem Interview mit Le Monde schon Anfang September zusammen: "Ja, ich schlage vor, daß wir diese politische, intellektuelle und wirtschaftliche Elite (der frankophonen Länder) ausbilden, daß wir (...) ihr erlauben, zwischen Frankreich und ihren Herkunftsländern zu verkehren."

Bereits am 16. September legten die Kritiker die erste Fassung eines Appells vor. Unter dem Titel "Die Versprechen einhalten" zielte dieser auf den Widerspruch zwischen Wahlaussagen und Nichtabschaffung der Pasqua- und Debré-Gesetze ab. Auf Initiative der Filmemacher, die im Februar als erste zum zivilen Ungehorsam gegen Debré aufgerufen hatten, wurde auf einer Sitzung der Erstunterzeichner eine leicht veränderte Stoßrichtung beschlossen. Der am 3. Oktober in Le Monde veröffentlichte Aufruf konzentriert sich nun in erster Linie auf die Probleme der Sans-papiers, der Immigranten ohne gültige Aufenthaltspapiere. Am 10. Juni hatte ihnen die neue Linksregierung die Legalisierung versprochen, die freilich, wie ein Rundschreiben des Innenministers an die Präfekten zwei Wochen darauf präzisierte, ausschließlich nach Einzelfallprüfung erfolgen sollte.

Nachdem Anfang der achtziger Jahre eine sozialistisch-kommunistische Koalition die Regierung gestellt hatte, waren in einer ersten Zäsur 1981/82 noch alle Immigranten legalisiert worden, die vor dem 1. Januar 1981 eingereist waren und ihren Lebensunterhalt in Frankreich verdienten. Gegenwärtig haben nur drei Prozent unter den Antragstellern tatsächlich Papiere erhalten. Bis zum 31. August sind 89 000 Anträge gestellt worden; von diesen wurden bis zum gleichen Tag 1 200 legalisiert und 300 definitiv abgelehnt. Ende September sind nach vorläufigen Zahlen des Innenministeriums 120 000 Anträge eingegangen, von denen bisher 5 000 positiv beschieden wurden. Die Meldefrist der Behörden läuft bis Ende Oktober. Das Prinzip der Einzelfallprüfung dient lediglich der Verlangsamung des Verfahrens. Ein Teil der vom Innenministerium aufgestellten Kriterien für die "Legalisierungsfähigkeit", wie jenes der "guten Integration in die französische Gesellschaft" - welche durch ein "Indizienbündel" festzustellen sei -, läßt den Behörden sehr große Interpretationsspielräume. Im übrigen fällt es den Sans-papiers wegen ihrer illegalen Situation oft schwer, geforderte Dokumente wie Mietquittungen oder andere Aufenthaltsnachweise zu beschaffen. Nach Ansicht von Solidaritätsvereinigungen werden zwischen zehn und 20 Prozent der Anträge positiv beschieden werden, die Presse spricht von maximal der Hälfte.

Eine Frage allerdings bleibt offen: "Was wird aus all jenen Sans-papiers, die nicht legalisiert werden - jenen, die morgen alles verloren haben werden, weil sie nunmehr registriert sind und potentiell abgeschoben werden?" (Aufruf des Unterzeichnerkollektivs). Gegenüber Le Monde präzisierte der Schriftsteller Patrick Cahuzac, einer der Erstunterzeichner: "Wir alle, die Unterzeichner der Petitionen vom Februar, aber auch die Regierung, die Sozialisten, die Linke, wir haben sie dazu aufgefordert, aus der Illegalität aufzutauchen und uns zu vertrauen. Und diese Legalisierungsoperation wird sich in eine richtigegehende Polizeioperation umwandeln. Man stelle sich eine Kartei mit 60 000 Namen" - basierend auf der Annahme, die Hälfte der 120 000 Antragsteller erhalte Papiere - "von Ausländern mit illegalem Aufenthalt vor!" Aus dieser einfachen Überlegung heraus fordert die Petition, "alle Sans-papiers zu legalisieren, die den Antrag gestellt haben".

Innenminister Chevènement reagierte sehr schnell. Für ihn kommt das nicht in Frage. Am 2. Oktober erklärte er: "Es ist sehr leicht, eine Petition zu machen. Das ist ihr gutes Recht. Sie werden aber nicht recht behalten, weil nicht alle Antragsteller legalisiert werden können. Es gibt Kriterien. Also werden die Kriterien angewandt werden." Im übrigen gelte es, "eine Grenze zwischen einem Ausländer in legaler und einem Ausländer in illegaler Situation zu ziehen". Er sei aber "nicht nachtragend, denn sie wissen nicht, was sie unterzeichnen". Am gleichen Tag trug die Petition 1 300 Unterschriften, unter ihnen 80 Anwälte, 115 Schauspieler und 210 Filmemacher, je rund 30 Schriftsteller und Journalisten. Am 4. Oktober waren es bereits 2 500 Unterschriften.

Die Befürchtungen sind nicht aus der Luft gegriffen. Berichte der protestantischen humanitären Organisation CIMADE belegen, daß Fälle sich häufen, in denen Ausländer festgenommen und in Abschiebehaft gesteckt wurden, deren Antrag auf Legalisierung lief. Libération berichtet allein von acht Personen, die unter solchen Umständen in der Abschiebehaftanstalt von Vincennes bei Paris sitzen.

Neben der Legalisierung der Sans-papiers fordert der Aufruf eine Neugestaltung der Ausländergesetze, die "mit den Gesetzen von gestern (Pasqua, Debré) und denen, die man uns heute ankündigt (Chevènement) radikal bricht". Am 1. Oktober wurde eine Beurteilung der Nationalen Konsultativkommission für Menschenrechte (CNCDH), einem dem Premierminister beigeordneten Beratungsgremium, veröffentlicht, gewissermaßen ein Verriß des Chevènement-Textes. An 31 Einzelpunkten widerspricht die Kritik den Plänen des Innenministers. Beispielsweise, wenn dieser die Dauer der Abschiebehaft von zehn auf 14 Tage verlängern will, um "schwierige Fälle" identifizieren oder in aufnahmeunwillige Länder abschieben zu können. Pasqua war mit einer solchen Regelung 1993 vor dem Verfassungsgericht noch gescheitert.