Tabula rasa in der Mensa

In der Hochschulpolitik setzt sich Kanthers Ordnungspolitik gegen ein Zweckbündnis von Standort-Politikern durch

Lange waren sich Wirtschaftsvertreter, Politiker und Professoren nicht mehr so einig: Der Hochschulstandort Deutschland ist in Gefahr. Einmütig gaben Außen- wie Bildungsminister, Vertreter des Industrie- und Handelstags (DIHT) sowie Lehrende zu Protokoll, daß mehr getan werden müsse, um die Internationalität deutscher Hochschulen zu erhalten.

Die Zahl der an deutschen Hochschulen eingeschriebenen ausländischen Studenten sinkt nämlich kontinuierlich. Von den etwa zwei Millionen Studierenden besitzen 146 000 einen ausländischen Paß. Davon hat aber rund die Hälfte bereits an bundesrepublikanischen Schulen das Abitur gemacht, zählt also zu den sogenannten Bildungsinländern. Der Anteil der "echten" Auslandsstudenten ist in den letzten sieben Jahren von sechs auf vier Prozent gesunken.

Doch nun weisen Unternehmer wie Politiker auf die wirtschaftliche Bedeutung der nichtdeutschen Studierenden hin: "Ausländische Studenten sind die künftigen Wirtschaftskapitäne in ihren Heimatländern", betont etwa Claus Kemmet vom Hamburger Industrieverband. "Sie sind die Ansprechpartner, die die deutsche Wirtschaft vor Ort braucht, um Kontakte herzustellen, Aufträge für unsere Exportindustrie hereinzuholen."

Einen solchen Mitnahme-Effekt sehen die Präsidenten des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD) und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) allerdings durch den Entwurf der "Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz" aus dem Innenministerium gefährdet. In einer gemeinsamen Presseerklärung griffen Theodor Berchem (DAAD) und Klaus Landfried (HRK) das Papier aus dem Hause Kanther ungewöhnlich scharf an: Der Entwurf sei von einer abwehrenden Haltung gegenüber ausländischen Studenten geprägt, statt die ausländerrechtlichen Rahmenbedingungen für diese zu verbessern. Wer Studienwillige wie potentielle Wirtschaftsflüchtlinge behandle, dürfe sich über die angeblich mangelnde Attraktivität der Hochschulen für ausländische Nachwuchseliten nicht beklagen.

"Was in anderen Ländern mit der Immatrikulation automatisch zugestellt wird, eben die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, muß hier erst beantragt werden. In diesem Bereich hat das 1991 verabschiedete Ausländerrecht unsere Arbeit erschwert", sagt auch Gerhard Müller, Stellvertretender Leiter des Akademischen Auslandsamtes der Universität Hamburg. Doch die Beschränkungen werden nicht gelockert, sondern weiter verschärft: Nach dem Kanther-Entwurf sollen ausländische Studierende künftig nur drei Monate in den Semesterferien arbeiten dürfen. Für Philippe (alle Namen geändert), Jurastudent aus Kamerun, würde dies das Ende seines Studiums bedeuten. "Dann kann ich meine Koffer packen, denn ich finanziere mich durch meine Dolmetschertätigkeit, die sich nicht auf drei Monate im Jahr komprimieren läßt."

Noch schlechter sieht es für Hassan aus, einen ägyptischen Studenten, dessen Arbeitserlaubnis nicht verlängert wurde, weil die sogenannte "Vorrangprüfung" ergab, daß für seinen Teilzeitjob bevorrechtigte Bewerber aus Deutschland bzw. einem EU-Land vorhanden sind. "Allerdings", so Hassan, "ist der Job auch heute noch frei." Die mindestens vierwöchige Vorrangprüfung, die auf eine Verordnung des Arbeitsministeriums aus dem Jahre 1993 zurückgeht, sorgt seit Anfang März dafür, daß Auslandsstudenten reihenweise ihre Jobs verlieren. Gleichzeitig setzte etwa in Hamburg der Run auf die Notfallfonds von Studentenwerk und Akademischem Auslandsamt ein, die mittlerweile erschöpft sind. "Aussichten auf neue Jobs haben die wenigsten Nicht-EU-Studenten", gibt selbst Wolfgang Jantz vom Arbeitsamt zu. Der peruanische Student Raœl macht sich keine lllusionen: "Die einzige Chance ist, schwarz zu arbeiten. Das ist zwar schlechter bezahlt und kann mich meine Aufenthaltserlaubnis kosten, es ist aber die einzige Möglichkeit, mein Studium zu beenden."

Doch das Kanther-Papier enthält noch weitere Hindernisse: Einreise- und Aufenthaltserlaubnis soll es nur noch geben, wenn eine hohe Bankbürgschaft vorliegt; die Aufenthaltserlaubnis wird künftig nur noch für ein Jahr erteilt, statt für zwei, wie es bislang in den meisten Bundesländern Praxis ist. Über Studienfortschritte sollen künftig die Ausländerbehörden wachen. Wird die durchschnittliche Studienzeit um drei Semester überschritten, droht die rote Karte: Nur noch in "begründeten Ausnahmefällen" soll dann die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.

Detlef Jütte von der internationalen Abteilung der HRK wundert sich, daß kaum etwas von den zahlreichen Vorschlägen der Interministeriellen Arbeitsgruppe Ausländerstudium in den Entwurf eingeflossen ist. "Unsere Empfehlungen, die unter anderem Reaktion auf die negativen Effekte des 1991 verabschiedeten Ausländerrechts waren, lagen dem Bundesinnenministerium lange vor, es gab genug Zeit, sie in den Entwurf einfließen zu lassen, was nur sehr bedingt geschehen ist." Jütte hält es deshalb für wenig wahrscheinlich, daß sich noch Grundlegendes an dem Entwurf ändern läßt; es sei denn, die Minister Rüttgers und Kinkel böten ihrem Kollegen Kanther Paroli und "hauen auf den Tisch".