Ethnographische Landkarten

Mit einem System von Abkommen will Deutschland dafür sorgen, daß jeder dahin kommt, wo er hingehört

Wie unerwünschte Flüchtlinge schnell wieder loswerden? - Diese Frage ist längst nicht mehr nur Thema deutscher Innenpolitik. Im Sommer drohte Außenminister Klaus Kinkel (FDP) damit, die Entwicklungshilfe für Staaten zu kürzen, die sich bei Abschiebungen nicht kooperativ zeigten. Und als Ghanas Präsident Jerry Rawlings letzte Woche zum Staatsbesuch in Bonn weilte, konfrontierten ihn sowohl Bundespräsident Roman Herzog (CDU) als auch Außenminister Klaus Kinkel (FDP) "mit dem Problem der illegal in Deutschland lebenden Afrikaner". Und folgsam versprach Rawlings die uneingeschränkte Unterstützung der ghanaischen Behörden bei der Rückführung eigener Staatsangehöriger.

Mit Versprechen alleine gibt sich die Bundesregierung allerdings nicht zufrieden. Um reibungslose Abschiebungen zu garantieren, schloß sie seit 1990 zehn sogenannte Rückübernahme-Abkommen mit anderen Staaten. Zuletzt, am 14. Februar diesen Jahres, brachte das Bundesinnenministerium einen solchen Vertrag mit Algerien unter Dach und Fach. Damit sich deutsche Beamte die Finger nicht mehr schmutzig machen müssen, ist darin vorgesehen, daß algerische Sicherheitskräfte die Abgeschobenen im Flugzeug "begleiten". Sichtlich befriedigt meldete Innenstaatssekretär Kurt Schelter diesen Verhandlungserfolg an die Innenministerien der Länder: "Dies ist angesichts der stetig zunehmenden Zahl renitenter algerischer Schüblinge von enormer praktischer und medien-öffentlicher Bedeutung." Als nächstes folgt vermutlich ein ähnlicher Vertrag mit dem Libanon. Seit längerem kursieren Gerüchte, die Bundesregierung führe entsprechende Verhandlungen, um staatenlose Palästinenser und Kurden in den Libanon zurückschieben zu können.

Allerdings sind solche Verträge nur ein kleiner Teil in dem Bündel von Maßnahmen, das Deutschland und die Europäische Union schnüren, um vor allem die osteuropäischen Staaten in ihre Abschottungs- und Abschiebepolitik einzubinden. Allein mit diesen Staaten schloß Deutschland seit 1990 über 60 bilaterale Abkommen in Sachen "Kriminalitätsbekämpfung", "Beschäftigung von Arbeitnehmern", Visumspolitik, "Rückübernahme" und "Durchbeförderung". Verbunden sind die Abkommen stets mit einer engen Zusammenarbeit zwischen den deutschen Grenzschützern und ihren Kollegen aus den Vertragsstaaten. Mit finanzieller und technischer Unterstützung aus Deutschland wird beispielsweise die tschechische Grenzpolizei aufgerüstet, um so Migranten und Flüchtlinge erst gar nicht an die deutsche Grenze kommen zu lassen. Im Rahmen des deutsch-tschechischen Rückübernahmeabkommens von 1994 investierte Deutschland 60 Millionen Mark: unter anderem in neue Datenübertragungssysteme, die Einführung von Beobachtungs-, Signal- und Monitoreinrichtungen, die Schaffung und Modernisierung eines zentralen Systems zur Erfassung von Ausländerdaten und ähnliche Dinge mehr, um die Überwachungstechnik des Nachbarstaates auf deutschen Standard zu bringen. Aber nicht nur durch technische Mittel, sondern auch durch Ausbildungshilfe wird daran gearbeitet, das komplette Abschottungssystem auf die osteuropäischen Staaten zu übertragen.

Länder wie Polen, die Tschechische Republik oder Bulgarien haben inzwischen nicht nur Rückübernahmeabkommen mit Deutschland und anderen EU-Staaten geschlossen, sondern auch mit ihren östlichen Nachbarn, um selbst nicht die Zurückgeschobenen behalten zu müssen. Dieses System von Rückübernahme- und Zusammenarbeitsabkommen führt nicht nur zu Kettenabschiebungen von Flüchtlingen in ihre Herkunfts- oder Verfolgerstaaten. Es bildet auch den Grundstock einer Art Großraumverwaltung mit der EU und Deutschland als Steuerungszentrum in Bereichen (Polizei, Justiz, Migration), die bisher zur Innenpolitik gezählt wurden. In der Migrationspolitik kommt den osteuropäischen Staaten dabei die Rolle von Deichgrafen zu, die bezahlt werden, um die Flüchtlingsfluten fernzuhalten.

Flüchtlingen, die es trotz aller Kontrollmaßnahmen geschafft haben, die Deiche zu überwinden, aber in Deutschland keinen aussichtsreichen Asylantrag stellen können, bleibt oft nur noch eins: Sie verschweigen ihren Reiseweg und ihr Herkunftsland. Wenn die deutschen Behörden nicht nachweisen können, wie und woher jemand eingereist ist, nützen auch die Drittstaatenregelung aus dem Asylrecht und Rückübernahmeabkommen nichts. Längst sinnen deutsche Politiker über Möglichkeiten, auch dieses Schlupfloch zu schließen. So sind im Etat des Bundesinnenministeriums für 1998 2,4 Millionen Mark für "flächendeckende Sprach- und Textanalysen" eingeplant. Es handle sich um einen Testlauf, erklärte dazu das Bundesinnenministerium. Vor allem afrikanische Asylsuchende sollten mit den jeweils 600 Mark teuren "wissenschaftlichen Analysen" auf ihre Herkunft überprüft werden. Vorbild ist die Schweiz. Dort werden bereits Ethnologen beschäftigt, um die Herkunft von Flüchtlingen zu bestimmen. Folgt man dem schweizer Verantwortlichen Florentin Lutz, so bedienen sie sich dabei einer "relativ neuen ethnographischen Linguistik". Sprachliche Unterschiede herauszuschälen sei allerdings bloß ein Aspekt. Ebenso werde in dem dreißigminütigen Verhör durch hochbezahlte Experten Erlebniswissen getestet - etwa mit solchen Fragen: "Wie riecht es auf dem Markt in Pristina?" oder: "Beschließt man den Kauf dort per Handschlag?"

Als "Kaffeesatzleserei" kritisierte Pro Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt dieses Verfahren. Burkhardt betonte, die meisten Flüchtlinge mit unklarer Herkunft stammten aus Regionen, in denen Sprachgrenzen nicht mit Staatsgrenzen übereinstimmten.

Doch auch an der Lösung dieses Problems wird schon gearbeitet. So regte der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Carl-Dieter Spranger, im August dieses Jahres Verhandlungen mit der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) mit dem Ziel an, Flüchtlinge aus der Region mit ungeklärter Staatsangehörigkeit an die OAU loszuwerden. Bereits 1995 hatte die Innenministerkonferenz einer Arbeitsgruppe den Auftrag erteilt zu prüfen, "ob und inwieweit es möglich ist, in Fällen ungeklärter Staatsangehörigkeit durch Abschluß von Rückübernahmeabkommen eine Rückführung in einen der Gesamtregion zuzurechnenden Vertragsstaat zu ermöglichen". Notwendig wäre dann nur noch eine ethnographische Weltkarte, die bestimmte - wahlweise kulturelle, sprachliche oder genetische - Merkmale eine Herkunftsregion zuordnet.