Regionalzentrum Ost

In elf thematischen Rundgängen durch Berlin beschreibt Uwe Rada die "Hauptstadt der Verdrängung"

Nichts ist mit Weltstadt, europäischer Dienstleistungsmetropole und Olympiastadt 2000; kein Vergleich mit Paris und London ist angesagt, Berlin steht im Wettbewerb mit Leipzig, Prag und Warschau. Ob der Regierungsumzug da noch viel retten kann oder nur ein weiteres kleines Ghetto rund um den Reichstag entstehen lassen wird, ist unklar. Die Stadt Berlin ist als "Regionalzentrum Ost" auf dem Boden der Tatsachen angekommen.

Zu elf Spaziergängen und thematischen Streifzügen durch das neue Berlin macht sich Uwe Rada auf. Sie führen u.a. zur virtuellen Welt der Infobox am Potsdamer Platz, durch die neue Friedrichstraße und in die verschiedenen Kieze von Kreuzberg, Prenzlauer Berg, Mitte und Neukölln.

Rada beschreibt das Scheitern der hochtrabenden Pläne der Herrschenden: Nicht die Armen verlassen die innenstädtischen Viertel, sondern die Besserverdienenden und jene Familien, die sich den Traum vom Häuschen im Grünen leisten können. Um die neu errichteten "Zitadellen" des Reichtums (nicht von ungefähr ähnelt das debis-Gelände am Potsdamer Platz einer mittelalterlichen Burg mit Wassergraben) und des Regierungsviertels legt sich langsam ein Ring von "sozialen Problemvierteln". Kreuzbergs Südosten und der Norden von Neukölln mit jeweils fast 30 Prozent Arbeitslosenquote geben die Richtung vor.

Die Horrorszenarien der autonomen Szene zu Beginn der neunziger Jahre, in denen sie sich schon zusammen mit den ärmeren Bevölkerungsteilen in die Ghettos von Hellersdorf und Marzahn verdrängt sahen, sind also nicht eingetroffen. Der Angriff kommt vielmehr als Auflösung des sozio-kulturellen Milieus. Aus diesem Szenario fallen nur einzelne Straßenzüge heraus, wie die Gegend rund um den Wasserturm in Prenzlauer Berg, die Bergmannstraße in Kreuzberg und die Spandauer Vorstadt rund um die Hackeschen Höfe in Mitte. Sie werden zwar aufgewertet, geben aber nur noch eine Kulisse für Touristen ab.

Den Hauptteil des Buches machen die materialreichen Betrachtungen zum Verschwinden der Öffentlichkeit und des öffentlichen Raums in der Stadt aus. Sozial abweichendes Verhalten soll per staatlicher und privater Polizei mit "Null Toleranz" kriminalisiert, verfolgt und verdrängt werden. Die Razzien gegen die Treffpunkte von Flüchtlingen am Breitscheidplatz oder die Sonderkommision der Kripo gegen Graffiti-SprayerInnen sind nur zwei Beispiele. Ausführlich wird beschrieben, wie die alte "Berliner Mischung" sich auflöst. Doch auch wenn gegenüber den neuen Multi-Media-Profit-Centern der alte patriarchal geführte Hinterhofbetrieb geradezu heimelig wirkt, sollte nicht vergessen werden, wie unerträglich diese Strukturen auch sein können. An einigen Stellen verfällt Uwe Rada allerdings in die Melancholie, daß früher alles besser gewesen sei. Es war anders, aber haben sich die BewohnerInnen 1983 gegenüber der Stadt weniger fremd gefühlt?

Daß sich das Buch mit "der Zukunft" der Stadt beschäftige, wie der Untertitel ankündigt, ist jedoch zu viel versprochen. Denn im letzten Kapitel, in dem Rada einen Ausblick versucht, bleibt er zu wenig konkret. Da sich Uwe Rada das ganze Buch hindurch nicht entscheiden kann, ob er als Beobachter oder als Akteur die Szenerien beschreibt, schwankt er ständig zwischen beiden Positionen hin und her. Dies ist bis zu dieser Stelle kein Problem, doch spätestens hier müßte er sich entscheiden und klar Position beziehen. Da reicht es nicht, sich hinter Micha Brumliks Forderung, neu über den Kommunismus reden zu wollen, zu verstecken.

Ärgerlich wird es bei seiner Kritik an den neuen sozialen und autonomen Bewegungen der achtziger Jahre. Warum dieser süffisante, außen-vor-stehende Ton? War Uwe Rada nicht selbst ein Träger dieser Politik? Daß andere Zeiten anderer politischer Antworten bedürfen, ist unbestritten.

Auf den letzten Seiten deutet Rada vorsichtig an, was die anstehenden Aufgaben sein könnten: eine "städtische Bewegung der Menschenrechte", die versucht, das Recht auf eine eigene Existenz für alle, sowohl materiell als auch sozio-kulturell, durchzusetzen. Zuerst bedeute dies, "soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Orte und Räume, in denen Stadt tatsächlich noch der Ort sozialen Zusammenlebens ist", zu verteidigen und neu zu besetzen. Gegen die Ausgrenzung und das Verdrängt-Werden durch die sich im Besitz der politischen Macht befindenden "Ins" und Reichen, wieder "einen gesamtstädtischen Handlungsspielraum zu schaffen". Sehr viel konkreter wird er leider nicht.

Mit seinen Spaziergängen und Streifzügen durch Berlin faßt Uwe Rada die Veränderungen der letzten zehn Jahre in der Stadt zusammen und befindet sich damit auf der Höhe der Zeit. Die individuell erfahrenen Veränderungen vor der eigenen Haustür können damit wieder in ein Gesamtbild der gemeinsamen Stadt eingeordnet werden. Und dies ist der erste Schritt, um sich die Stadt wieder als die Stadt der Gesamtheit ihrer BewohnerInnen, und nicht einer kleinen Clique von Mächtigen und ihrer Kofferträger, aneignen zu können.

Uwe Rada: Hauptstadt der Verdrängung - Berliner Zukunft zwischen Kiez und Metropole. Verlag Schwarze Risse, Berlin 1997, 238 S., DM 32