You'll Never Wank Alone

Durch die Enthüllungen über die Nazi-Vergangenheit des ehemaligen St.-Pauli-Präsidenten Wilhelm Koch gerät auch der Mythos vom linken Fußball ins Wanken

Gibt es ein wahres Leben im Falschen? Gibt es einen linken Fußball? Gibt es wahren Fußball in einem falschen Stadion bzw. in einem Stadion mit falschem Namen? Antwort auf die erste Frage lautet: Nein.

Der zweiten haben sich die Feuilletonisten und Fußballtheoretiker in den achtziger Jahren angenommen. Cesar Julio Menotti beschwor die Utopie eines linken Fußballs als eine Art Schlaraffenland voller gepflegter Rasenplätze, in dem der Mensch ohne Selbstsucht die kreative Sau rausläßt, denn er dribbelt und flankt, so ungefähr hat es Sartre in der Kritik der dialektischen Vernunft erklärt, im Interesse des Kollektivs. So ging die Theorie. Der angebliche Praktiker des linken Fußballs, Günter Netzer, war schon zu seinen kreativsten Zeiten nichts anderes als ein Avantgardist einer von ethischem Gerümpel befreiten kapitalistischen Ästhetik. Sein Spiel war ein Konstrukt, eine Projektion frustrierter Revolutionsromantiker auf der Suche nach neuen Helden, nachdem die Che Guevara-Poster verstaubt waren. Also lautet auch hier die Antwort: Nein!

Immerhin aber hatte die Linke den Fußball entdeckt. Der Zufall wollte es, daß schließlich, am Ende der achtziger Jahre, ausgerechnet auf St. Pauli der berühmte Häuserkampf in der Hafenstraße tobte und daß ausgerechnet ein Fußballverein in diesem Hamburger Stadtteil in die erste Bundesliga aufstieg. Dazu kam mit dem Torwart Volker Ippig ein Typ wie gebacken für das Gemüt der Häuserkämpfer, denn Ippig war an den Wallfahrtsorte des Spontaneismus der Achtziger: im sandinistischen Nicaragua als Erntehelfer und in den besetzten Häusern der Hamburger Hafenstraße. Frau und man trugen T-Shirts, auf denen "Volker, hört die Signale!" stand und waren stolz auf ihren Volker, so stolz wie die deutschnationalen Kuttendeppen mit ihren verpißten Jogginghosen auf Lodda. Der FC St. Pauli hatte Fußball und Revolution unter eine Mütze gebracht, samt des unvermeidlichen Zubehörs: pubertärer Heldenverehrung, miefender Bierseligkeit, schleimiger Verbrüderung und spießiger Selbstzufriedenheit. Vor jedem Spiel gegen die Bayern wurde der Klassenkampf ausgerufen, danach bewunderte man sich dann selbst insgeheim in der Glotze, wenn Jörg Wontorra das putzige bunte Fanvolk vom "Freudenhaus der Liga" wegen der Farbtupfer, die es in die Wohnstuben bringe, über den grünen Rasen lobte.

Eine Kleinanzeige, die René Martens in einem Frankfurter Szene-Magazin entdeckt hat, bringt die Koinzidenz von linker Weltanschauung und Fußballpassion so trefflich auf den Punkt, daß Martens sie in sein schönes St.-Pauli-Buch "You'll never walk alone" (Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1997) hineinschrieb. Zwei Herren mittleren Alters suchen dort einen Mitbewohner mit dem Hinweis: "St.-Pauli- und Adorno-Fans bevorzugt". Freilich ist damit die dritte Frage nach der Bedingung der Möglichkeit des wahren Fußballs im falschen Stadion noch nicht beantwortet, doch wir haben eine Spur.

Martens ahnte nicht, daß ausgerechnet er mit seinem St.-Pauli-Buch den Zerfall der Idylle am Millerntor eingeleitet hat. Er hat die Wahrheit über Wilhelm Koch geschrieben, der von 1931 bis 1945 und von 1947 bis 1969 Präsident des FC St. Pauli und acht Jahre davon Mitglied der NSDAP war. Koch hatte den Verein mehrmals vor der Pleite gerettet. Das Geld stammte aus seiner Firma, die er 1933 von seinen beiden jüdischen Chefs übernommen hatte. Nach seinem Tod im Jahre 1969 wollten seine drei Töchter einen Teil des Geldes, das Koch in den Verein gesteckt hatte, zurückhaben. Statt der geforderten 300 000 Mark gab man ihnen die Hälfte und dem Stadion den Namen ihres Vaters, der bis heute geblieben ist. Das wollte Ronny Galczinski jetzt ändern und stellte auf der Jahreshauptversammlung einen Antrag auf Umbenennung.

Galczinski ist Vertreter der "Arbeitsgemeinschaft interessierter Mitglieder" (AGIM), die Martens "Anti-Chaoten" nennt, seriöse Linke, die im Viertel leben. Auch die AGIM ist ein Kind der Euphorie der späten Achtziger, ihr Weg ist eng verbunden mit anderen Errungenschaften wie den ersten lesenswerten Fanzines in deutscher Sprache. Die Gründung des legendären Millemtor Roar 1989, sehen nicht nur St.-Pauli-Fans als Stunde Null einer neuen Fanbewegung hierzulande an. In seinem Dunstkreis schlossen sich Aktivisten einer undogmatischen Linken zusammen und nutzten den FC St. Pauli als Forum antifaschistischer Arbeit, und dies sogar einigermaßen erfolgreich. St. Pauli ist ihr Club, er ist für sie etwas in der Art, was Neospießer Heimat und Sozialpädagogen Identität nennen.

Eigentlich muß es für diese Aufrechten um die AGIM, die Fanzines und die "Pfennig"-Leute aus dem Treff linker Fans ein Schock gewesen sein, das wahre Gesicht dieses Clubs zu sehen, den sie als den ihren betrachten, zu erleben, wie Galczinski auf der Jahreshauptversammlung von aufgebrachten Greisen beschimpft und bedroht wurde, nur weil er nicht gerne in ein Stadion geht, das den Namen eines ehemaligen NSDAP-Mitglieds trägt. Dabei hatte er auf das Wort "Nazi" sogar ganz bewußt verzichtet. Mit einer merkwürdige Diskussionsstrategie versuchte der Sozialdemokrat Hans Apel Stimmung gegen Galczinski und seinen Antrag zu machen. Er erklärte Kochs NSDAP-Mitgliedschaft zum Opfer für den Club und verteidigte ihn gegen Vorwürfe, die im Antrag gar nicht erhoben wurden, z.B. den, daß Koch von der Arisierungspolitik der Nazis profitiert habe, bis er sich verbal verdribbelte: "Ich weiß heute, wie es wahrscheinlich wirklich war."

Es müßte die Fans ernüchtert haben, als der Präsident "Papa" Heinz Weisener sich über Querulanten und Chaoten echauffierte, die immer wieder Politik in seinen Verein trügen. Dabei sind es eher Weisener und seine Vereinsmeier, die ein Chaos aus Arroganz, Ahnungslosigkeit, Großmannssucht und Gewurschtel verbreiten, während die AGIM redlich versucht, ein wenig Ordnung zu stiften. So hat die AGIM dem verwirrten und überforderten Vorstand ein durchdachtes Konzept für den vom DFB empfohlenen Aufsichtsrat vorgelegt, das auch angenommen wurde. Doch vor der Wahl zu jenem Kontrollgremium, so berichtet Renè Martens, "gab der Papa in der Presse eine Liste von Leuten bekannt, von denen er sich am liebsten überwachen lasse". Die Mitglieder gehorchten dem Patron, ohne dessen Finanzspritzen der Club längst nicht mehr im Profigeschäft spielen würde. Nach langen Wortgefechten zwischen altem Stamm von Konservativen und linken Fans einigte man sich politisch: Auf Vorschlag des GAL-Politikers Olaf Wuttke wird nun eine Kommission unter Vorsitz eines Historikers die Rolle Kochs im Dritten Reich untersuchen. Ronny Galczinski hatte sich keine Illusionen gemacht. Im Gegensatz zu einigen Entschlossenen, die den Namen auf der Stelle tilgen wollten, war er über die vorläufige Lösung erleichtert, denn er ist sich sicher, daß der alte Stamm um Apel und Weisener die Kampfabstimmung gewonnen hätte. So wird nun die Kommission das herausfinden, was schon René Martens herausgefunden hat, nämlich daß Koch ein Nazi war, daß er von den Nazis und der FC St. Pauli von ihm profitiert hat. Ob Koch unmittelbar die Arisierung für sich genutzt hatte, was ja niemand behauptet hat, wird man wahrscheinlich nicht aufklären können.

Die linken Fans im "Pfennig" müßten angesichts all dieser Umstände um das Wilhelm-Koch-Stadion längst vor Wut kochen, sollte man glauben. Doch eine Woche nach der Jahreshauptversammlung geben sich im Hauptquartier viele von ihnen gelassen. Man jubelt einer Mannschaft von Gnaden eines Patriarchen zu, denn man weiß, daß es ohne diesen "Sonnenkönig", wie selbst die bürgerliche Presse Weisener wegen seines autokratischen Gehabes gerne nennt, noch weniger zu jubeln gäbe. Man latscht weiter mit T-Shirts, auf denen "Destroy Fascism" steht, alle 14 Tage in ein Stadion, das den Namen eines Nazis trägt. Man redet wie Apels Parteigenossen von Strukturen, man warnt vor Vorverurteilungen, man will lieber noch abwarten, was die Historiker sagen, vielleicht war ja alles doch nur ein Irrtum, und ein Nazi war ja auch nicht jeder, der in der NSDAP war. Wie die Affäre um den Stadionnamen auch immer ausgehen mag, das Selbstverständnis der militant antifaschistischen Fan-Avantgarde ist angekratzt, über kurz oder lang werden sich Fußballfans und politische Aktivisten wieder auseinanderdividieren. Und nachwachsen werden nicht mehr viele, der St.-Pauli-Boom auf dem Kiez ist definitiv vorbei.

Im "Pfennig" ist jedenfalls für heute abend Schicht mit dem leidigen Thema W. Koch, man diskutiert lieber über Mannschaftsaufstellungen, die Wahrheit ist halt doch aufm Platz. Auf die Antwort zur dritten Frage, ob es denn wahren Fußball in einem Stadion mit falschem Namen geben könne, werden wir also noch warten müssen, nur eines kann man jetzt schon sagen: Guten Fußball sieht man dort sehr, sehr selten. Im "Pfennig" gibt's jedenfalls noch genug zu trinken und zu rauchen, und noch sind auch genug Leute da, um vor dem Heimweg wenigstens an die Wahrheit der schönen Fußballweise glauben zu können: "You'll never wank alone".