Ein Buch zur Geschichte der Roten Brigaden

Enttäuschte Zuneigung

Renato Curcio, Gründungsmitglied der Brigate Rosse, über die Geschichte des bewaffneten Kampfes

Die Nachricht des Exekutivkomitees fiel knapp aus. Nur zwei Zeilen waren auf dem Zigarettenpapier zu lesen: "Wir wissen nicht genau wo, aber an euren Thesen ist ganz sicher etwas falsch." Punkt. Nicht weniger schroff klang die Antwort aus dem Knast: "Die gefangenen Militanten der Roten Brigaden verlangen den Rücktritt des Exekutivkomitees."

Für Renato Curcio war, wie für alle Gefangenen, die dem "historischen Kern" der italienischen Stadtguerilla-Gruppe angehörten, nach dem bitteren Ausgang der Entführung des Christdemokraten Aldo Moro klar: So kann es nicht weitergehen. Deshalb schrieben die inhaftierten Kader in 20 Thesen im "documentone", dem "Riesenpapier", nieder, was sie im Laufe des Sommers 1979 im Spezialgefängnis auf der Insel Asinara diskutiert hatten: Die Roten Brigaden, wie sie ursprünglich konzipiert wurden, machen in der aktuellen historischen Phase keinen Sinn mehr.

Dennoch sitzt Curcio, ein Brigadist der ersten Stunde, noch heute, knapp 20 Jahre später, hinter Gittern. Als Freigänger darf er zwar mittlerweile tagsüber das Gefängnis verlassen, um zu arbeiten. Da er sich aber nicht wie viele andere dem italienischen Staat als pentiti, als reumütiger Verräter, oder als dissociati, als einer, der eigenen Geschichte abschwört, andiente, kämpft der heute 56jährige immer noch mit dem Justizsystem.

Der Journalist Mario Scialoja, der in den siebziger Jahren zu den meist- gesuchten Personen Italiens zählte, hält Kontakt mit dem inhaftierten Curcio. Schon 1975 hat Scialoja den Rotbrigadisten, damals schriftlich, interviewt und sah sich mit einem "Kauderwelsch des rigidesten Marxismus-Leninismus" konfrontiert. Zwölf Jahre später traf er Curcio im Gefängnis. Aus fünfzehn Unterhaltungen, die er mit Curcio dann 1992 führen konnte, entstand das Buch "Mit offenem Blick", das jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Im Gegensatz zur Kommunistin Rossana Rossanda, deren Gespräche mit dem einst führenden Rotbrigadisten Mario Moretti im vergangenen Jahr veröffentlicht wurden ("Brigate Rosse", Hamburg 1996) ist Scialoja ein Journalist aus dem bürgerlichen Lager. So bleibt er häufig Stichwortgeber, wird nur dann scharf, wenn es um vermeintliche Zusammenhänge zwischen der Guerilla und Geheimdiensten geht, während Rossanda, die Gründerin der linksradikalen Gruppe und Tageszeitung il manifesto, aus linksradikaler Sicht nachfragt. Scialoja läßt erzählen, Rossanda greift an. Schließlich verbinden Rossanda und ihren Interviewten Moretti die gleichen Fragen zu Strategie und Taktik linker Politik. Und noch etwas haben die beiden gemein: die enttäuschte Liebe zur Kommunistischen Partei, des damaligen PCI, aus dem Rossanda 1967 ebenso als Linksabweichlerin ausgeschlossen wurde wie die organisatorischen Vorläufer der Roten Brigaden.

Dieses ambivalente Verhältnis zum PCI dringt allerdings auch bei Curcios Darstellungen durch: "Wir konnten es uns nicht erlauben, die Partei von Berlinguer zu hart anzufassen." Von jenem ML-"Kauderwelsch", das er heute selbst als die "unmenschliche Sprache von Politik und Ideologie" bezeichnet, ist der Verfasser früherer Kommando-Erklärungen der Roten Brigaden mittlerweile weit entfernt. Lieber erzählte von seiner Jugend in Ligurien, "Herumstreuner"-Zeiten in Genua, seinem Studium in Trento, wo er seine zukünftige Ehefrau Mara Cagol kennenlernte.

Gemeinsam mit ihr zieht er nach Mailand, ins Zentrum der Fabrikkämpfe. Mit Alberto Franceschini und einem weiteren knappen Dutzend Leuten gründeten die beiden 1970 die Roten Brigaden. Die Situation entwickelte sich günstig, besaß doch schon 1972 "die halbe außerparlamentarische Linke in Mailand Waffen", wie Curcio erläutert.

Doch trotz gemeinsamer Geschichte unterschieden sich die Roten Brigaden von anderen militanten Ansätzen. So trennte sie von der GAP, der Gruppi di Azione Partigiani, des Verlegers Giangiacomo Feltrinelli deren primärer Bezug zum antifaschistischen Widerstand gegen Mussolini, von den Potere Operaio (PotOp) das Konzept bewaffneter Politik: "Während PotOp eine Art Zweigleisigkeit vertrat, also eine politische Organisation und ein militärischer Kern, die voneinander getrennt sind, vertraten wir die politisch-militärische Einheit und gingen davon aus, daß die zwei Elemente untrennbar verbunden und wechselseitig wirken mußten."

Wer der Ansprechpartner sein sollte, darin waren sie sich jedoch einig: Die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Mailänder und Turiner Großbetrieben. Und zunächst sollte ihnen die Praxis recht geben. Ob die Roten Brigaden Autos von Firmendirektoren abbrannten oder einen unbeliebten Ingenieur entführten, sie konnten sich großer Sympathie sicher sein.

Die größeren Aktionen kamen - spätestens, nachdem sich die Brigaden 1974 aufmachten, das "begrenzte Innenleben der Fabrik" zu verlassen, um eine neue Phase einzuleiten: den Angriff auf das Zentrum des Staates. Doch von den Aktionen gegen die politische Macht erlebte Curcio nur noch die wenigsten in Freiheit. Er muß herbe Rückschläge hinnehmen: Im September 1974 wird er durch einen Spitzel verhaftet, ein knappes halbes Jahr später aber von einem Kommando der Roten Brigaden wieder befreit. Im Juni 1975 wird Margherita, seine Frau, während einer Entführungsaktion von der Polizei erschossen. Acht Monate danach wird Curcio schließlich zum zweiten und letzten Mal verhaftet. Er nimmt nun zwar federführend am Gefängnisaufstand von Asinara 1979 teil, kann aber nur noch durch dicke Gefängnismauern auf die Entwicklung der Roten Brigaden einwirken.

So sind Curcios Darstellungen eine aufschlußreiche Ergänzung zu den Berichten seines damaligen politischen Widersachers, Mario Moretti. War doch Moretti, der erst 1981 verhaftet wurde, 1978 maßgeblich an der Entführung Aldo Moros beteiligt, während Curcio die Aktion aus seiner Perspektive als Gefangener schon damals heftig kritisierte. Curcio schildert seine Ängste, als das Kommando den christdemokratische Politiker nach 55 Tagen hinrichtete, weil die Regierung keinen der geforderten 13 Häftlinge freiließ: "Stammheim war erst ein paar Monate her."

Doch nicht nur die Todesnacht in dem deutschen Hochsicherheitstrakt erinnert an die RAF-Entführung Hanns-Martin Schleyers. Curcio: "Die Roten Brigaden waren am Ende; ihre Geschichte endete mit dieser Aktion, die zu einem extremen Niveau der politisch-militärischen Auseinandersetzung geführt und das alte Konzept der bewaffneten Propaganda verlassen hat. Die Reaktion der Öffentlichkeit, des italienischen Staates und der internationalen Kräfte auf diese extreme Zuspitzung würden nicht mehr die gleichen sein wie zuvor."

Auf diese Einschätzung reagiert man im von Moretti angeführten Exekutivkomitee mit jenem knappen Satz auf dem Zigarettenpapier, das die Inhaftierten 1979 im Florenzer Gefängnis erreichte. In den folgenden Jahren spalteten sich die Roten Brigaden, zerfielen in drei Fraktionen und verloren sich in der Bedeutungslosigkeit.

Dennoch gestand Curcio erst 1986 öffentlich die Niederlage seiner Organisation ein, um "durch eine klare Entscheidung eine Erfahrung zu beenden, die aus Trägheit verlängert und dafür schon unerbittlich zur Rechenschaft gezogen wurde". Die Geschichte der Gruppe, die in den siebziger Jahren Tausende zu mobilisieren vermochte, wird für ihn abgeschlossen sein, "sobald ich die Freude haben werde, alle Genossen, die in das Abenteuer der siebziger Jahre verwickelt waren, außerhalb des Knastes und aus dem Exil zurückgekehrt wiederzusehen".

Renato Curcio: Mit offenem Blick. Ein Gespräch zur Geschichte der Roten Brigaden in Italien von Mario Scialoja. Aus dem Italienischen von Dario Azzellini. ID-Archiv, Berlin 1997, 208 S.,DM 28