Grufti-Party auf dem Friedhof

Die Luxemburg-Gedenkrituale stiften Identität und verhindern Bewußtsein.

Vermutlich pilgern nur zum Grab von Elvis Presley mehr Anhänger als zu dem von Rosa Luxemburg, und vermutlich beruht die ewig junge Begeisterung in beiden Fällen eher auf Nostalgie als auf aktuellem Engagement. Dem Oldie jucken beim Jailhouse-Rock die müden Glieder, aber in den Discos dominieren längst Rap und Techno. Und der Gorbatschow-Fan denkt an seine wilden Tage zurück, als er die Stasi-Ost noch mit provokanten Luxemburg-Transparenten zur Weißglut bringen konnte - während die Stasi-West heute "Die Freiheit des Andersdenkenden" bemüht, um den Schutz von Nazi-Aufmärschen zu rechtfertigen. Der letzte Schrei: Seit zwei Jahren versuchen ML-Gruftis und PKK-Schlepper, auf der LL-Loveparade orientierungslose Teenager anzufixen. Soll man lachen oder heulen?

Freilich ist es nicht die Schuld von Luxemburg, daß sie als verstaubte Antiquität angepriesen wird, sondern die ihrer nostalgischen Verehrer. Luxemburgs Evergreens - der Aufruf zum Klassenkampf, die Verbindung von Demokratie und Sozialismus - werden jedes Jahr von neuem heruntergenudelt, dabei klingt das eine bestenfalls wie eine lahme Cover-Version der Ernst-Thälmann-Revival-Band, das andere könnte von den "Guten Onkelz" aus der SPD-Baracke stammen. Die wirklich originellen Teile des "Luxemburgismus" fallen dabei unter den Tisch, obwohl - nein: weil - sie von verzweifelter Aktualität sind: Zum Beispiel ihr Antinationalismus, der von Lenin genauso abgelehnt wurde wie von Bebel und der spätestens heute, angesichts des nationalen Wahns in Sarajevo, Luxor und Gollwitz, auf der Tagesordnung steht.

1871 wurde Rosa Luxemburg im polnischen Zamosc geboren. Polen freilich gab es damals gar nicht, es war vollständig zwischen Rußland, Deutschland und Österreich-Ungarn aufgeteilt. Die meisten Polen strebten wie selbstverständlich nach der nationalen Selbstbestimmung, das heißt, sie forderten das Verjagen der sogenannten Besatzungsmächte und einen eigenen Staat, und ganz in diesem Sinne agitierte auch die große sozialdemokratische Partei PPS. Nicht so Luxemburg, die zusammen mit Leo Jogiches eine kleine internationalistische Partei gründete, die Sozialdemokratische Partei Polens und Litauens (SDKPiL). Sie definierte jede Nation, egal ob groß oder klein, als bloßes Konstrukt "bürgerlicher und kleinbürgerlicher Klassen". Da das Gerede von der "nationalen Selbstbestimmung" die Unterdrückten nur vor der politischen und wirtschaftlichen Selbstbestimmung ablenke, bekämpfte sie die national-polnische Bewegung und rief statt dessen die Arbeiter zwischen Bialystok und Krakow auf, zusammen mit den russischen Proletariern den Zar zu stürzen. Aus diesem Antinationalismus zog Luxemburg jedoch nicht die Schlußfolgerung, gegenüber nationaler Unterdrückung gleichgültig zu sein. Nur sah sie die Lösung nicht in der Konstruktion neuer Nationen und Staaten, sondern in der Destruktion der bestehenden: "Die Arbeiterklasse darf nicht danach streben, neue bürgerliche Staaten und Regierungen zu errichten, sondern sie abzuschaffen." Als nach dem Ersten Weltkrieg die Vielvölkerstaaten (Österreich-Ungarn und das zaristische Rußland) zerfielen, kommentierte sie die Sezessionen mit Hohn und Spott: "Von allen Seiten melden sich Nationen und Natiönchen mit ihren Rechten auf Staatenbildung an. Vermoderte Leichen steigen aus hundertjährigen Gräbern, von neuem Lenztrieb erfüllt, und 'geschichtslose Völker', die noch nie selbständige Staatswesen bildeten, verspüren einen heftigen Drang zur Staatenbildung... Auf dem nationalistischen Blocksberg ist heute Walpurgisnacht."

Daß Rosa Luxemburg sich weder als Polin oder Deutsche noch als Jüdin bezeichnete, war gerade das spezifisch Jüdische an ihr. In jener Zeit wollten nicht nur Kommunisten wie Luxemburg und Trotzki, sondern auch radikale Freigeister wie Tucholsky und Ossietzky die ihnen zugeschriebene Volkszugehörigkeit abstreifen und Weltbürger werden - und genau das zeichnete sie, Linke jüdischer Herkunft, vor ihren Mitstreitern aus. Im Unterschied zu ihnen hatten ihre nicht-jüdischen Genossen in der Regel keine Schwierigkeiten, sich zu ihrer "nationalen Identität" zu bekennen: Stalin rief den "Großen Vaterländischen Krieg" aus, Thorez feierte die "Grande Nation", Thälmann wetteiferte mit den Nazis um die Verteidigung Deutschlands gegen die "Schmach von Versailles". Muß man sich wundern, daß diese nationale Sozialisten, sobald sie die Gelegenheit hatten, zur Verfolgung der Juden schritten? Dies illustriert das Beispiel Polen, wo die von Luxemburg bekämpfte sozialpatriotische PPS den antisemitischen Diktator Pilsudski hervorbrachte, vor allem aber die antisemitische Repressionswelle in allen Ländern des Warschauer Paktes zu Beginn der fünfziger Jahre.

Im Unterschied zu Luxemburgs Demokratietheorie wurden ihre antinationale Texte (die "polnischen Schriften") nicht nur von den Stalinisten, sondern auch von den Sozialdemokraten dem Vergessen überantwortet - zu kraß haben sie den deutschnationalen Bekenntnissen sowohl von SED-Ulbricht wie von SPD-Schumacher widersprochen. Seit fünf Jahren plant der Dietz-Verlag nun endlich die Herausgabe als Band 6 der "Gesammelten Werke", bisher scheiterte das Vorhaben an finanziellen Engpässen. Wäre es nicht besser, der PDS-Vorstand griffe hier unterstützend ein, anstatt eine zweifelhafte Nekrophilie zu sponsern? Ein frommer Wunsch: Was der PDS Wählerstimmen bringt, sind nicht die Inhalte der lebendigen, sondern die Gebeine der toten Luxemburg.