»Ich habe mich nicht verweigert«

20 Monate Bewährungsstrafe wegen Beihilfe zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Israilovka

Der Schuldspruch war deutlich: Der 75 Jahre alte Angeklagte aus Leverkusen hat sich der Beihilfe zur "grausamen Tötung an 19, möglicherweise sogar 20 jüdisch-christlichen Mischlingskindern schuldig" gemacht. Das Strafmaß: Ein Jahr und acht Monate. Ein gerechtes Urteil konnte es trotzdem nicht werden. Wem sollte ein solcher Schuldspruch gerecht werden? Den ermordeten Kindern? Dem Angeklagten, der 75 Jahre alt ist? Was sollte angemessen sein, die Exhumierungsfotos mit den von Gewehrkolbenschlägen zertrümmerten Schädeln vor Augen?

Das Richterkollegium der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Köln - drei Berufs- und zwei LaienrichterInnen - fand in Anbetracht der "grausamen Tat" eine zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe von "20 Monaten erforderlich, aber auch ausreichend". "Ausreichend" deshalb, weil das "rückhaltlose Geständnis, zu dem der Angeklagte sich im Laufe des Verfahrens durchgerungen" habe, wesentlich zur Aufklärung des Verbrechens im Juni oder Juli 1942 beigetragen habe, wie der Vorsitzende Richter Schwellenberg betonte. Aber nicht nur dies unterscheide dieses Verfahren von anderen mit ähnlichem Tatvorwurf. Die vom Angeklagten geäußerte "Scham und Reue über die Tat", und daß er sich, entgegen einer ärztlichen Empfehlung, nicht in Krankheit geflüchtet, sondern sich "diesem Verfahren gestellt" habe, hebe Ernst H. von anderen "Gehilfen nationalsozialistischer Verbrechen" ab.

An elf Verhandlungstagen hatte die Kölner Jugendkammer "Geschichtsaufarbeitung" betrieben, versucht, sich die Ereignisse im ukrainischen Dörfchen Israilovka zu vergegenwärtigen. Ein schwieriges Unterfangen. Die jüdische Bevölkerung wurde im Sommer des Jahres 1942 ausgelöscht, die Leichen der ermordeten Juden und Jüdinnen unter einer Erdschicht versteckt. Erst 1991 wurde die Grube geöffnet, die Gebeine wurden exhumiert: Skelettreste von mehr als 100 Erwachsenen brachte die Ausgrabung zutage, sowie die Knochenreste von insgesamt 19 Kindern: Zwei etwa sechs Monate alte Säuglinge, sieben Kleinkinder zwischen ein und drei Jahren und zehn Kinder zwischen vier und zehn Jahren.

Die Mehrzahl der Täter lebt vermutlich nicht mehr oder ist namentlich nicht bekannt. Drei der damals an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung beteiligten Gendarmen wurden in der Sowjetunion festgenommen, abgeurteilt und hingerichtet, einer zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt und nach acht Jahren begnadigt.

Es mag ein gut gemeinter Versuch sein, den Opfern 52 Jahre nach der Niederlage des Nationalsozialismus mittels einer Gerichtsverhandlung nachträglich "Gerechtigkeit" widerfahren zu lassen, indem man der Öffentlichkeit die grauenvollen Geschehnisse von damals in Erinnerung ruft. Angesichts des allgemeinen Desinteresses bleibt der Versuch hilflos.

Dennoch muß man es dem Richterkollegium hoch anrechnen, daß es sich mit seinen Mitteln an eine Spurensuche wider das Vergessen gewagt hat. Es ist das Verdienst des Gerichts, daß manche der Ermordeten wieder einen Namen bekommen haben: Zum Beispiel der greise Jude Fellstein, der zur letzten Gruppe der Erwachsenen aus Israilovka gehörte, die von deutschen Polizisten der Ustinover Gendarmerie ermordet wurden. Von den Kindern, bei deren Ermordung der jetzt verurteilte Leverkusener Rentner Wache schob, sind nur zwei Namen zuverlässig überliefert. Wolodja und Tolja Shulkina, die Kinder von Tatjana Kirsonovna. Die Namen der anderen Kinder blieben unbekannt, lediglich die der Mütter waren noch zu ermitteln. Ermordet wurden die Kinder der Nadasa Loschkina, der Nina Kigel, Christina Rejbkina, Dusja Flesher, Jarina Fleshsteijn und Klawdija Jurewitz.

Das Gericht legte den Schwerpunkt seiner mündlichen Urteilsbegründung auf die Beschreibung der damaligen Situation und Ereignisse. Die der Gendarmerie angegliederte Polizeischutzmannschaft habe als "Handlanger gedient" und sollte "die Schmutzarbeit machen". Bereits um die Jahreswende 1941/42 habe der Angeklagte, so das Gericht, von antisemitischen Übergriffen und der Ermordung von Juden gewußt und "nichts getan, um den Befehl zu verweigern. Obwohl er von den verbrecherischen Taten seiner Vorgesetzten wußte und damit rechnen mußte, in diese hineingezogen zu werden."

In eindringlichem Ton und mit auf den Angeklagten gerichtetem Blick rekapitulierte Richter Schwellenberg die Beweisaufnahme über die Ermordung der "Mischlingskinder". Gendarmen und Hilfspolizisten zwangen die Mütter, ihre Kinder zum Dorfplatz zu bringen, diese würden "in ein Kinderheim" gebracht. Laut schreiend seien die Frauen den Pferdewagen hinterhergelaufen, auf denen die Kinder abtransportiert wurden, und hätten geschrien: "Laßt uns unsere Kinder". Ein ehemaliger Schulfreund und Schutzmannschaftskollege des Angeklagten habe mit dem Gewehrkolben nach den Frauen geschlagen. Nach Zeugenaussagen kam es auch unter den Kindern zu erschütternden Szenen. Sie mußten vor der Erschießungsgrube mit ansehen, wie andere mit Einzelschüssen niedergestreckt oder von "Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand wie einem Gewehrkolben" ermordet wurden.

Ernst H. habe als Wachposten zum "ungestörten Ablauf des Tötungsgeschehens beigetragen" und damit "schwere Schuld auf sich geladen", sagte der Vorsitzende Richter in der rechtlichen Würdigung der Beweisaufnahme. Dies erfordere Bestrafung, auch wenn diese "mehr als 55 Jahre nach der Tat" erfolge. Das sah am Ende des Verfahrens wohl auch der Angeklagte so. An einem der letzten Verhandlungstage hatte er Sätze ausgesprochen, wie sie selten von Menschen zu hören waren, die solcher Taten angeklagt waren. Stockend und nach Worten suchend legte der 75jährige sich Rechenschaft ab: "Das war Unrecht, ein Verbrechen, und ich habe nicht den Mut gehabt, mich zu verweigern."