»Kosmopolit Nr. 1«

Eine Ausstellung über die vielen Leben des Ilja Ehrenburg - Schriftsteller und Kommunist, Jude und Sowjetbürger

"Wenn wir sowjetischen Schriftsteller noch am Leben sind, so deshalb, weil wir die größten Akrobaten der Welt sind." So verallgemeinerte Ilja Ehrenburg (1891 bis 1967) den Drahtseilakt, der vor allem ihn selbst über die Abgründe dieses Jahrhunderts hinüberführte. Er war doppelt gefährdet: Als "Stalins Hausjude" (Hitler) wurde er von den Nazis gejagt, "als Volksfeind und Kosmopolit Nr. 1" (Stalins Funktionär Golowentschenko) geriet er in den Sog der Säuberungen. Doch während er dem Zugriff des sowjetischen Diktators entkam und sein Roman "Tauwetter" sogar den folgenden Reformjahren ihren Namen gab, blieb die Verleumdung des deutschen Führers lange an ihm hängen: Erst in den sechziger Jahren konnten die ersten Bücher von ihm in der Bundesrepublik erscheinen, es gab Drohungen gegen den Verlag. Noch heute schreit die rechte Presse bei Ehrenburgs Namen Zeter und Mordio.

Eine Ausstellung in Karlshorst erklärt, unter anderem, woher die deutschen Aversionen gegen Ehrenburg kommen. Warum Karlshorst? So fernab der Zivilisation einem der Ostberliner Stadtteil vorkommen mag - bei der Rettung dieser Zivilisation hat er eine wichtige Rolle gespielt: Hier mußte in der Nacht vom 8. auf 9. Mai 1945 Generalfeldmarschall Keitel die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht unterzeichnen. Der historische Saal und das Arbeitszimmer des sowjetischen Oberkommandierenden Shukow blieben unverändert. Eine Tür weiter zeigt die Ausstellung eine Fotografie jenes Dokuments, das Ehrenburgs Anteil an diesem Geschehen verdeutlicht: Ein Flugblatt für die sowjetischen Frontsoldaten, von Ehrenburg, dem wichtigsten Armeepropagandisten, abgefaßt in hämmerndem Stakkato. Überschrift: "Töte!" Kostprobe: "Von jetzt an ist das Wort 'Deutscher' für uns der schlimmste Fluch. Von jetzt an läßt das Wort 'Deutscher' das Gewehr von alleine losgehen. Wenn Du nicht einen Deutschen am Tag getötet hast, war der Tag verloren. Wenn Du glaubst, daß Dein Nachbar für Dich den Deutschen tötet, hast Du die Gefahr nicht verstanden. Wenn Du einen Deutschen getötet hast, töte einen weiteren - nichts stimmt uns froher als deutsche Leichen." So spricht ein "Kriegstreiber", urteilt Mark Siemons in der FAZ vom 15. Dezember 1997. Aber ein aufmerksamer Besucher findet in der Ausstellung genügend Argumente, die diesem Verdikt widersprechen. Etwa einen Text Alexander Werths, der im Zweiten Weltkrieg als Korrespondent einer englischen Zeitung in der UdSSR war: "Was Ehrenburg über die Deutschen geschrieben hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was die russischen Soldaten mit ihren eigenen Augen sehen - und mit ihrer eigenen Nase riechen konnten. Denn wo immer auch die Deutschen gewesen waren, hing der Geruch verwesender Leichen in der Luft." Schon im ersten halben Jahr der "Aktion Barbarossa" hatten die Eroberer eine Million sowjetischer Juden ermordet - großteils, wie Goldhagen erschütternd beschrieben hat, per Handarbeit. Die synonyme Verwendung der Begriffe "Nazi" und "Deutscher", die der Amerikaner über fünfzig Jahre später aus der wissenschaftlichen Untersuchung dieser Schlächterei deduzierte, war für Ehrenburg und seine Zeitgenossen unmittelbare Lebensrealität.

Auch die Einwände, die gegen Ehrenburgs Flugblätter formuliert wurden, ähneln den Angriffen gegen Goldhagen. "Genosse Ehrenburg vereinfacht", titelte die Prawda am 14. April 1945 auf Anweisung Stalins: Er unterscheide zu wenig zwischen den Faschisten und der großen Masse der deutschen Bevölkerung, hieß es jetzt plötzlich. Ehrenburg wurde, ebenso wie Morgenthau auf amerikanischer Seite, dem Kurswechsel der alliierten Kriegszielpolitik geopfert: Weg von der noch in Teheran und Jalta unisono beschlossenen Auflösung Deutschlands als Industriestaat hin zur Verteidigung der deutschen Einheit, wie sie die Großen Vier - mit bereits gegensätzlichen Interessen - auf der Konferenz von Potsdam beschworen. Über diese Hintergründe informiert die Ausstellung leider nicht.

Auch fehlt der wichtigste Brief Ehrenburgs: Ende Januar 1953 schrieb er an Stalin und begründete, warum er seine Unterschrift unter eine Petition verweigere, die das Politbüro zur Rechtfertigung einer Deportation aller sowjetischen Juden nach Sibirien lanciert hatte. Die Aktion, von vielen Historikern als "Stalins Endlösung" (Rapoport) eingeschätzt, war der Höhepunkt einer antisemitischen Kampagne, die sich mit dem Kalten Krieg verschärft hatte: Zuvor waren das Jüdische Antifaschistische Komitee aufgelöst und seine Führer ermordet worden, Juden wurden aus qualifizierten Berufen gedrängt, ein Schauprozeß mit Todesurteilen gegen jüdische Ärzte war angekündigt. Wie hoch der Druck zur Unterstützung besagter Petition war, zeigt allein die Tatsache, daß sie auch von dem in jeder Hinsicht untadeligen Wassili Grossman unterschrieben wurde - er fürchtete andernfalls um sein Leben. Ehrenburgs Mut, sich der Parteilinie nicht zu beugen und dies sogar in einem Brief zu begründen, könnte dazu beigetragen haben, daß Stalin den verbrecherischen Plan fallenließ - so jedenfalls die Meinung des Gorbatschow-Vertrauten Alexander Jakowlew, der später die entsprechenden KGB-Akten studieren konnte.

Trotz dieser Ungenauigkeit im Detail ist die Ausstellung unbedingt sehenswert. Zum einen, weil sie weltweit die erste über Ehrenburg ist. Zum anderen, weil sie ihn in seiner Dialektik zeigt. Auf privaten Fotos sieht man ihn mit Tänzerinnen beim Maskenball in Paris, mit jüdischen Partisaninnen in Belarus, mit Hemingway auf einer Barrikade des spanischen Bürgerkrieges, mit Grosz beim Trinkgelage, mit Albert Einstein beim Durchblättern seines "Schwarzbuches über die Ermordung der sowjetischen Juden" (das in Moskau erst 1991 erscheinen konnte). Bibliophile Erstausgaben dokumentieren, daß sein literarisches Schaffen ebenso vielfältig war: Dem Kriegspropagandisten steht der Expressionist, dem Verfasser peinlicher Stalin-Elogen der "jüdische Schwejk" gegenüber, ein wunderbarer Spötter wider die sozialistische Bürokratie. Selbstverständlich war er keine Lichtgestalt, dazu stand er dem sowjetischen Establishment zu nahe. Doch für das Leben und Überleben der Juden setzte er sich immer ein: Bei einer Rundfunkansprache an seinem siebzigsten Geburtstag - mitten in der Ära Chruschtschow, dessen Judenfeindschaft bestens bekannt ist - betonte er, er werde "niemals verstummen zu sagen, daß ich Jude bin, solange es auf der Welt noch einen einzigen Antisemiten gibt".

Die Ausstellung im "Deutsch-Russischen Museum" in Berlin-Karlshorst ist noch bis zum 18. Januar 1998 zu sehen (montags geschlossen)