Inspirierte Shakespeare den Holocaust?

Dietrich Schwanitz sucht im "Shylock-Syndrom" nach dem ntisemitischen Masterplot der europäischen Kulturgeschichte

"Die Debatte über den Holocaust steckt in der Krise," verkündet der Eichborn-Verlag aus Frankfurt am Main - und verspricht gleichzeitig Remedur. "Nachdem auch die Goldhagen-Debatte zwar die Gemüter bewegt, aber keinen Erkenntnisfortschritt gebracht hat, plädiert der Kulturwissenschaftler Dietrich Schwanitz für einen Perspektivenwechsel: Mit dem Rückgriff auf große Literatur gewinnt er eine ganz neue Optik", preist der Klappentext dessen Neuerscheinung "Das Shylock-Syndrom".

Wer diesen Versprechungen glaubt und das Buch liest, wird nicht enttäuscht - wohl aber geblendet. Schwanitz nimmt seine Leser mit auf einem Parforce-Ritt durch die europäische Kulturgeschichte und enthüllt vor ihren Augen einen "antisemitischen Masterplot", der im Venedig des 16. Jahrhunderts seinen Ausgangspunkt hat und in Auschwitz kulminiert. Doch bei aller Brillanz im Detail verfehlt das Buch sein Hauptziel: einen "Gegenentwurf zu Goldhagens These von der antisemitischen Kultur der Deutschen" zu präsentieren.

Schwanitz inszeniert seinen Text wie ein Theaterstück: Analog der fünf Akte von Shakespeares "Kaufmann von Venedig" schürzt er den dramatischen Knoten des Hasses, der sich in den letzten Jahrhunderten immer wieder um den Hals von Shylock zusammengezogen hat. Shylock: Auf diesen venezianischen Wucherer hat Shakespeare alle Stereotypen projiziert, die im Übergang vom religiös zum rassisch motivierten Antisemitismus virulent werden sollten. Als ihm ein christliche Kaufmann seine dreitausend Dukaten nicht zurückzahlen kann, verlangt er statt dessen, wie im Schuldvertrag festgelegt, ein Pfund Fleisch aus dessen Körper.

Hier verschmilzt, erstmals in der Weltliteratur, der mittelalterliche Aberglaube, wonach Juden bei Ritualmorden nach Christenblut gierten, mit dem neuzeitlichen Erschauern vor der Allmacht des Geldes. Nach Shakespeares Szenario führten in der Folge auch andere europäische Autoren Dramaturgie: Schwanitz analysiert unter anderem Marlowes "Jude von Malta" und Freytags "Soll und Haben", aber auch in den Schriften von Marx und Disraeli findet er das Shylock-Syndrom.

Shakespeare hat in seinem Drama jedoch nicht nur das Objekt, sondern auch die Subjekte des modernen Antisemitismus idealtypisch besetzt: mit dem Kaufmann Antonio und dem Edelmann Bassanio, für Schwanitz Verkörperungen von Bourgeoisie und Aristokratie. So wie Antonio das Liebeswerben Bassanios unterstützt und sein eigenes Leben dafür verpfändet, so habe sich das Bürgertum an den Adel geschmiegt - auf Kosten der Juden. Schwanitz erklärt die neue Aggressivität des Antisemitismus im 19. Jahrhundert damit, daß "das imperialistisch werdende Bürgertum in der Mimikry an den Sozialcharakter des Adels den eigenen bürgerlichen Selbsthaß auf die Juden als die eigentlichen Träger der niederen Geldgesinnung projiziert".

Wie dieser "bürgerliche Selbsthaß" in der fiebrigen Atmosphäre des Fin de siècle in mörderischen Rassismus umschlägt, zeichnet Schwanitz anhand der Dreyfus-Affäre für Frankreich, anhand der afrikanischen Kolonialpolitik für Großbritannien nach. Seine Expedition in das "Herz der Finsternis" (Conrad) führt in die Katakomben des europäischen Kapitalismus, in dessen Fundamenten die Leichen der vermeintlichen Untermenschen eingemauert sind. Doch so berechtigt diese Generalklage ist, sie versagt angesichts des Holocausts: Warum kam der "eliminatorische Antisemitismus" (Goldhagen) nicht in allen Ländern Europas an die Macht? Warum wählten die Deutschen Adolf Hitler, die Franzosen nur wenig später Zeit Léon Blum? Warum nahm Churchill das Angebot der Nazis, die Welt gütlich aufzuteilen, nicht an - sondern entschied sich für den Krieg (was das Empire so ruinierte, daß es danach auseinanderfiel)?

Schwanitz dechiffriert den Selbsthaß des Bürgertums, für den die Juden herhalten mußten, als "Kompensation für die versäumte Eroberung der Macht". Dem könnte man im allgemeinen zustimmen, wenn Schwanitz nicht die national unterschiedliche Intensität dieser kollektiven Neurose ignorierte: In England und Frankreich wurde der bourgeoise Selbsthaß nie hegemonial, denn der Dritte Stand hatte sich in blutigen und mutigen Revolutionen seine Rechte erkämpft. In Deutschland aber kuschte die Bourgeoisie vor den Feudalherren, so daß der Kapitalismus ersatzweise durch den preußischen Staat durchgesetzt werden mußte. Wurden in diesem Fall die preußischen Tugenden - Gehorsam, Ordnung, Pflichtgefühl - zum Modell von Bürgerlichkeit, so waren es in jenem die republikanischen - Zivilcourage und Toleranz. Wenn Schwanitz also schlußfolgert: "Bei allen Unterschieden ist die deutsche Kultur nicht von der europäischen Kultur zu trennen", so hat er damit ebenso recht wie der Biologe, der auch im Tiger nur einen Verwandten der Hauskatze sieht.

Den Antisemitismus als "europäische Obsession" darzustellen, ist einleuchtend - aber nur im deutschen Sonderfall verdichtete er sich zu Auschwitz.

Während Schwanitz'Analyse der Vorgeschichte des modernen Antisemitismus trotz allem anregend ist, fällt das Kapitel zur Nachkriegsentwicklung der Deutschen stark ab. Seine Obsession, mit der Political Correctness abzurechnen, versperrt ihm hier den Blick: Zwar ist es richtig, der Linken ins Stammbuch zu schreiben, daß in ihr "die Mentalität, die den deutschen Faschismus trug, zum Teil überlebt" hat: Die angeführten Beispiele vom Frankfurter Fassbinder-Skandal bis zu den Golfkrieg-Entgleisungen Ströbeles könnten mühelos noch ergänzt werden. Doch Schwanitz' Erklärung für den "trahison de clercs" ist Quatsch: Die Linke habe als intellektuelle Priesterschaft ihr Monopol auf die "Bundeslade der Erinnerung" verteidigen wollen und deshalb den Deutschen jahrzehntelang "inflationäre Schuldbekenntnisse" wegen des Holocausts abverlangt. Abgesehen von der durchaus antisemitischen Metaphorik: Kennzeichnend für die Bundesrepublik waren doch nicht die Schuldbekenntnisse, sondern die Schuldverleugnung, die von den Mitscherlichs konstatierte "Unfähigkeit zu trauern". Die Linke hat insofern versagt, als sie nur die non-konformistische Variante dieser kollektiven Verdrängung war.

"Es besteht die Gefahr, daß die Fixierung auf die vergangenen Verbrechen die Gesellschaft vergiftet", resümiert Schwanitz. Die Deutschen sollten endlich "aus dem Schatten des Shylock-Syndroms heraustreten". Mit ganz ähnlichen Worten hatte einst Strauß den Bauchredner der geknechteten Volkssele gegeben. Wo ist der Unterschied?

Dietrich Schwanitz: Das Shylock-Syndrom. Oder die Dramaturgie der Barbarei. Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 1997, 302 S., DM 39,80