Fasnacht bei der SPD-Linken

Zwei Wochen vor der Niedersachsen-Wahl eskaliert der SPD-Streit um Kanzlerkandidatur und programmatische Ausrichtung der Partei

Es war ein Experiment, und es ist gescheitert. Beinahe ein Jahr lang haben sich die Sozialdemokraten der Hoffnung hingegeben, mit der Kür des Kanzlerkandidaten warten zu können, bis am 1. März 1998 die Wähler in Niedersachsen darüber entschieden hätten, ob der Populist Gerhard Schröder das Zeug zum Kanzler hat.

Es gab Höhepunkte in diesem Jahr, als Schröder und Parteichef Oskar Lafontaine im August als hemdsärmelige Männerfreunde durchs Saarland wanderten, und es gab Tiefpunkte, als ein in seinem Stolz verletzter und in seinen Ambitionen eingeschränkter Schröder im Januar zur Kenntnis nehmen mußte, daß die endgültige Entscheidung über die Kanzlerkandidatur der SPD erst mehr als zwei Wochen nach der Niedersachsen-Wahl fallen wird.

Ein Jahr lang galt es für Wahlkampfmanager Franz Müntefering und Lafontaine, auf die besonderen Empfindlichkeiten Gerhard Schröders Rücksicht zu nehmen, auf diese merkwürdige Mischung aus Machtmensch und Mauerblümchen. Bis heute hat der Niedersachse daran zu nagen, daß er 1993 - wie er meint, mit unlauteren Mitteln - von Rudolf Scharping um die Kanzlerkandidatur gebracht wurde, nachdem Björn Engholm über eine Schublade gestürzt war. "Die Jungs fangen wieder an zu tricksen", soll sich Schröder über den späten Nominierungstermin beklagt haben.

Falsch gelegen hat der Kanzler-Aspirant mit dieser Einschätzung nicht. In der Tat hat Schröder - selbst ein begnadeter Intrigant - mit seiner programmatischen Annäherung an die Union Teile der eigenen Partei so sehr gegen sich aufgebracht, daß er nun kurz vor Ende der Kandidaten-Sperrfrist seinerseits fürchten muß, Opfer einer Intrige zu werden. Nach wie vor führt der Niedersachse zwar die Popularitätslisten an, was ihm die Zustimmung der machtpolitischen Pragmatiker in den Parteigremien einbringt.

Doch in dem Maße, wie sein Vorsprung gegenüber Parteichef Lafontaine schrumpft, muß Schröder auch um die Unterstützung jener einflußreichen Kreise fürchten. Als Ersatz bietet sich die Parteirechte aus dem Seeheimer Kreis an, doch bislang reagiert Schröder zögerlich - er weiß, daß er ohne die Unterstützung der Lafontaine-Anhänger, die sich in der Mehrheit der linken Mitte zurechnen, nicht punkten kann.

In Niedersachsen betreibt der Titelverteidiger derzeit einen Ministerpräsidenten-Wahlkampf wie aus dem sozialdemokratischen Lehrbuch der Ära Brandt: "Ein festes Bündnis der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zusammen mit Bauern und Handwerkern, gegen die, die nur eine schnelle Mark machen wollen."

Doch selbst wenn sie sich die Mühe machte, in Schröders Heimat zu reisen, um sich solche Sprüche anzuhören: Die Parteilinke ließe sich vom derzeitigen Habitus des Karrieristen Schröder kaum überzeugen. Und auch die Masse der traditionalistischen Sozialdemokraten wird Schröder erst noch gewinnen müssen, was ihm freilich leichtfallen wird, wenn er erst einmal Kanzlerkandidat ist: Loyalität zählt viel in der SPD, wenn einer ein Amt hat.

Freilich erst dann. Auf der Sitzung der Bundestagsfraktion am vergangenen Dienstag eskalierte der Konflikt zwischen Schröderianern und Gegnern des Niedersachsen. Vorausgegangen war eine ganze Reihe von offensichtlichen Provokationen der Parteilinken. Im Interview mit der taz hatte die Stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ingrid Matthäus-Maier tags zuvor gefordert, der Kanzlerkandidat der SPD müsse "gegen den Eurofighter, für ökologische Steuerreform und für den Euro" sein - alles Positionen, mit denen Schröder gelinde gesagt große Probleme hat. Offenbar durch gezielte Indiskretion war außerdem ein Strategiepapier aus dem linken Frankfurter Kreis bekanntgeworden, das forderte, die Sozialdemokratie als "moderne Partei der Linken" darzustellen, wozu die "Stärkung des linken Flügels in der SPD" nötig sei.

Ohne Schröders Namen zu nennen, warnt das Papier, das auch die Unterschriften des Stellvertretenden Partei- und Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Thierse trägt, vor "einem konservativeren Kanzlerkandidaten" und rät von einem "personalisierten Wahlkampf" und der "Anpassung an Stimmungen" ab. Brisanz gewann das Positionspapier durch einen gleichzeitig an die Öffentlichkeit gelangten Brief des Umweltpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion, Michael Müller, in dem es unter Bezug auf Parteichef Lafontaine heißt: "Er ist einverstanden, jetzt geht es um die Umsetzung."

Auf der Fraktionssitzung am Dienstag vergangener Woche leugnete Lafontaine zwar, daß das Konzept mit ihm abgestimmt sei; überzeugen konnte der Parteivorsitzende damit aber so gut wie niemanden. Tumultartige Szenen spielten sich ab, nachdem Vertreter der Parteirechten ihrerseits die Abmachung aufkündigten, bis zur Wahl in Niedersachsen keine Debatten über die Kanzlerkandidatur zu führen. Gerd Andres, der Sozialpolitische Sprecher der Fraktion, forderte, derjenige müsse Kandidat werden, der "die besten Wahlaussichten" habe. Noch deutlicher wurde der Sprecher des rechten Seeheimer Kreises, der niedersächsische Abgeordnete Reinhold Robbe: "Gerhard Schröder ist für mich der einzige Kandidat. Sonst verlieren wir die Wahl." Lediglich durch einen vorzeitigen Abbruch der Sitzung konnte der Fraktionsvorsitzende Scharping die Eskalation des ausgebrochenen Streits verhindern.

Ganz ähnliche Szenen spielten sich gleichzeitig im nur 70 Kilometer entfernten Düsseldorf ab, wo der Landesvorstand der nordrhein-westfälischen SPD tagte. Wutentbrannt verließ dort Schröders Wiedergänger, Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, die Sitzung. Zuvor hatte man über den Umgang mit dem Koalitionspartner Bündnis 90 / Die Grünen gestritten, den Clement im Streit um den geplanten Tagebau Garzweiler II vorführt, und war dann zu Unstimmigkeiten bei den Vorstandswahlen auf dem kürzlichen Landesparteitag in Dortmund gekommen.

Dabei hatte offenbar die der Parteilinken angehörende Schulministerin Gabriele Behler ihre an Clement und Fraktionschef Klaus Matthiesen gerichteten Vorwürfe erneuert, auf dem Parteitag gegen sie intrigiert zu haben. Er habe es satt, schäumte Clement, immer "in eine bestimmte Schublade" einsortiert zu werden. Überhaupt gebe es in der SPD gar keinen Richtungsstreit, sondern allenfalls "unterschiedliche Akzente". Auch an Realismus scheint die Parteirechte der Linken nichts vorauszuhaben.