Moralische Deregulierung

Oder: Was uns der Clinton-Sex-Skandal zu sagen hat.

Es war seit jeher das gute Recht des Pöbels, also von uns, den Herrschenden in die Schlafzimmer zu schauen. Und die sahen's, zumeist, nicht ungern: Macht veröffentlicht sich stets in einem sexuellen Diskurs. Weshalb es nur drei Formen des Herrschers gibt, den Sex-Protz, Dschinghis Khan, der in einer Nacht für gewöhnlich sieben Kinder zeugt (jedenfalls wenn wir einer deutschen Pop-Gruppe glauben wollen), den Asketen, der seinen Terror als Tugend ausgibt - in der furchtbarsten und groteskesten Form einer wie der Führer Adolf Hitler, der, statt zu trinken und in die Frauenbrüste in den Teppich biß, und schließlich den Familienvater, den braven Bürokraten der Macht (der aber, wer weiß, nur eine verkleidete Form des ersten oder des zweiten Herrschertypus ist).

Natürlich gibt es alle diese Herrscher im sexuellen Diskurs auch in der entsprechenden weiblichen Form, die Kaiserin Katherina, die sich ihr Offizierskorps als Männer-Harem hält, Victoria, die ihre Prüderie über die Welt legte, deren ökonomische und militärische Unterwerfung sie verlangte, oder die opfervolle Mutter auf dem Thron, Maria Theresia.

Die Einforderung der Moral der Herrscher durch das Volk ist also ein prekäres Spiel von Täuschung und Gegentäuschung. Ein analphabeter Dialog, in dem unentwegt gelogen wird, und niemand weiß, ob er oder sie ein Fenster, ein Bild oder einen Spiegel vor sich hat. Es war nicht zuletzt diese moralische "Kritik" an der katholischen Kirche, die zu ihrer Krise und zur Reformation führte. Anders gesagt: Moralisierte Sexualität/ sexualisierte Moral erweist sich immer einmal wieder als die Maus, über die der Elefant der Macht in Panik und ins Stolpern gerät. In der patriarchalen Gesellschaft war dieser moralische Diskurs stets vor allem der weibliche Teil des Diskurses; Bilder von Ökonomie, Architektur und Krieg für den Mann, von Glanz, Mode und Melodrama für die Frau.

Wenn wir von der real existierenden Waren- und Medienstruktur ausgehen, hat sich daran offensichtlich nicht viel geändert, bis auf etwas Entscheidendes: War früher der moralische Diskurs ein marginales Beiwerk für den politischen und militärischen Diskurs, so scheint er sich nun beharrlich ins Zentrum vorgearbeitet zu haben. Das ist nicht nur eine kapitalistische Karikatur von Emanzipation und notwendiges Ferment in der Transformation der "parlamentarischen" (also der auf das Wort gegründeten) zur medialen (also der auf das Bild gegründeten) Teilhabe. Es ist auch die Pop-Version der Remythisierung von Politik.

Herrschaft und Moral wurden umso verwickelter, je mehr die Herrschaft ihre mythische Selbstverständlichkeit verlor. Das "Unzüchtige" in Bild und Schrift war vor dem bürgerlichen Zeitalter nichts anderes als die sexualisierte Verunglimpfung des Herrschers: der kackende Kaiser, der fickende Papst. Die repräsentative Demokratie müßte, was diesen Neben-Diskurs zwischen Volk und Macht anbelangt, das Spiel eigentlich obsolet machen. Denn der Sender und der Empfänger wäre ja, theoretisch, derselbe Souverän: das Volk. Und dessen Repräsentant hätte dasselbe Recht wie jedes andere Mitglied der Gesellschaft, Arbeit und Privatleben voneinander zu trennen. Genau dieses Recht aber, so scheint es, verlieren im Transformationsprozeß der Demokratie zur populistischen Mediokratie beide Seiten. Der Untertan zerrt lustvoll sich und seinesgleichen in die Öffentlichkeit, ein großer Lauschangriff kann ihm nur ein anderes Wort für Sex sein. Sein großes Gefühl ist es, in einer Talkshow von seiner Erektionsschwäche oder Vergewaltigungsträumen zu reden. Und im Gegenzug veröffentlicht auch der Herrscher sein Privatleben, läßt sich auf jeden Fall auf ein stetes Geplänkel um diesen Blick ein. Der und die Mächtige / Reiche sucht den Ort öffentlicher Privatheit, wo man zugleich die Hosen herunterlassen und die Paparazzi verfluchen kann. Familienroman und Liebeshändel der Repräsentanten zerfallen in eine archaische Mythologie, die Erhabenheit griechischer Legenden oder elisabethanischer Tragödien, und in den Klatsch, die triviale Frivolität des Sozial-Voyeurismus. Das hehre Sinnbild kann sich nicht dagegen wehren, immer wieder zum banalen Abbild zu werden.

Das Spiel ist für beide Seiten prekär - was den zunehmend gereizten Ton inmitten gewaltigster Kitsch-Inszenierungen erklärt. Denn tatsächlich wissen wir wohl sehr genau, daß, wenn wir es mit der Moralisierung des Blicks auf die Macht-Repräsentanten übertreiben, nicht bloß diese mächtig geärgert und sogar zu fatalen Entscheidungen getrieben werden können, sondern daß die Idee des Politischen selbst in Frage steht. Wir wissen nicht mehr, ob der Skandal unsere Rache für den Betrug der Mächtigen an unseren Interessen ist, oder ob er schon diese Interessenvertretung so sehr ersetzt wie die die daily soap opera das Familienleben und die "Lindenstraße" den Klassenkampf.

Und in diesem Spiel verliert die Presse zunehmend ihre demokratische Kontrollfunktion, sofern sie überhaupt noch eine hatte; sie heizt im Konkurrenzkampf die Ersetzung der Politik durch sexualisierte und moralisierte Rollenspiele an, muß aber immer wieder auch darüber erschrecken, daß sie nicht allein kulturelle Legitimation dabei verliert, sondern am Ende ihre gesellschaftliche Funktion. Sie verliert, je mehr sie darüber schwadroniert, selber an moralischer Legitimität.

Die moralische Intimisierung des Politischen in den Medien deckt aufs trefflichste die völlige Unmoral der Politik selber. Wir verhandeln einen Seitensprung des Präsidenten (und entwickeln allenfalls gelegentlich die realkabarettistische Phantasie von einer Regierung, die einen Krieg anzettelt, um vom moralischen Image-Verlust ihres Oberhauptes abzulenken), statt ihm die Erfüllung von Programmen abzuverlangen. Paradoxerweise hat dieses manische Interesse an der körperlichen und sinnlichen Wirklichkeit der Mächtigen (das erbeutete Nacktbild der Mächtigen ist alles zugleich: ikonographische Überhöhung, Demokratisierung des Bildes und eine ästhetische Ableitung eines "Attentatsversuches") die Erfüllung aller radikaldemokratischen Vorstellungen zum Inhalt: Das Private öffentlich zu machen, die Aufhebung der Struktur von Sender und Empfänger, die Zerstörung von Geheimwissen. Aber diese Erfüllung hat etwas Furchtbares als Voraussetzung: die politische Abdankung des Souveräns. Des Volkes. Von uns.

Warum aber fallen auch durchaus kluge Menschen auf diese Strategien der Vermischung von Politik und Soap Opera herein? Zum einen, weil da in der Tat vitale Probleme symbolisch verhandelt werden, weil ja auch durch die Produktion des Peinlichen die Diskurse von Klasse, Geschlecht und Macht fließen. Der ökonomische und kulturelle Zerfall der Gesellschaft an der Basis, der vor allem als familiäres Schicksal spürbar wird, verlangt geradezu nach Repräsentanz. Seit langem schon ist der Politiker oder die Politikerin viel weniger Delegierter unserer Interessen als vielmehr Darsteller unser Gemütslage. Nur so auch ist die Endlos-Herrschaft der Kohl-Regierung zu erklären. Da ist einer an der Spitze, der keine Probleme löst, der weder besonders sympathisch noch irgendwie charismatisch ist, der aber vollständig zu repräsentieren scheint, was Deutschland ist (ästhetische Ignoranz und Freßsucht miteinbegriffen).

Die Art, wie eine Macht bedroht wird, spiegelt dabei nur die Art wider, in der sie entstanden ist. Wenn sich also Politiker als Bilder verkaufen, in denen nicht eine rationale, sondern eine mythische Aussage steckt, so ist nur folgerichtig, daß sie auch wie Bilder behandelt werden. Wir nehmen sie nicht mehr beim Wort, sondern beim Bild. Und Bill Clinton hat die regulierte, gleichberechtigte Kleinbürger-Ehe als karrieristische und sozialhygienische Einheit verkauft: gegen sozialen Abstieg und gegen Aids-Infizierung. Die Störung dieses Bildes geht also sehr viel tiefer als nur der Klatsch, mit dem wir die Mächtigen zu pikieren gewohnt sind; sie ist in der Mediokratie gleichbedeutend mit dem Bruch eines Wahlversprechens, ja, vielleicht sogar einer Pop-Abart des Gesellschaftsvertrages.

Machen wir uns nichts vor. Ein Zurück zu einer rationalen, textuellen, politischen Beziehung zwischen Herrschaftsrepräsentanz und Volk wird es innerhalb des Systems nicht geben, auch wenn letzte Widerstandsinseln in der Presse als einst notwendiger Teil demokratischer Gewaltenteilung sich nun in Scham und Buße üben. Die populistische Mediokratie funktioniert über eine analphabete Symbolsprache, in denen der Kurzschluß zwischen der individuellen Neurose und der gesellschaftlichen Katastrophe tatsächlich über so einfache Bilder vermittelt werden kann, die Psychohistoriker früher über sehr komplexe Systeme rekonstruieren mußten: Mein Leiden in der bigotten Familie oder im unglücklichen Hedonismus führt zur aggressiven Einforderung des moralischen Diskurses in der medialen Öffentlichkeit, zur endlosen Demontage sowohl meines Nächsten, des Nachbarn und seiner Familie in den Plapper- und Bekenntnis-Shows, als auch des so oder so erhöhten (das moralische Promi-Bashing wird zur festen Sparte der Unterhaltungsindustrie); meine unterdrückten Wünsche, Gier und Neid, werden ganz direkt zum Fernseh- und Presse-Programm, dem sich die politische Repräsentanz nicht nur nicht entziehen kann, sondern sogar noch eine Metaphysik liefert. Nicht der Dschinghis-Khan/Katherina-Mythos der sexualisierten Herrschaft und nicht mehr der Tugendterror der Asketen ist gefragt als Macht-Bild, sondern die Repräsentanz einer längst verlorenen Harmonie: die Heilige Familie des Kleinbürgertums. Eifersüchtig wachen wir, ob es den Macht-Darstellern gelingt, Ordnung im eigenen Haus zu halten oder ob auch sie der allgemeinen Chaotisierung verfallen sind.

Und natürlich sind wir nur allzu gern parteilich. Ist der amerikanische Präsident nicht ein Macho-Schwein? War Lady Di ein frigides Flittchen? Kann Helmut Kohl - aber lassen wir das. Auf den ersten Blick jedenfalls erscheint diese Verwandlung der Politik in eine Soap Opera einer Flucht vor den Unwägbarkeiten, der Unübersichtlichkeit des politischen und ökonomischen Geschehens zu entsprechen. Möglicherweise aber verhält es sich genau umgekehrt. Man reagiert damit vielleicht auch auf einen Verlust von Dynamik und Sinn in dem, was traditionell Politik und Ökonomie ausmachte. Im "Text" der Politik, so scheint es, ist auf absehbare Zeit und ohne Gewalt keine Veränderung, vor allem: kein Sinn zu erwarten, denn der Vertreter und die Vertreterin der populistischen Mediokratie "gestalten" ja nicht mehr Politik, sie sind nur noch dazu da, die Interessen des Kapitals mit den Wahnbildern seiner Opfer kurzzuschließen. Aber wie jede zwangsneurotische Inszenierung läuft auch diese auf die immergleichen Katastrophen hin. Deshalb kann man beides sagen: Bill Clinton kann machen was er will, nur keine Praktikantin ficken. Oder: Bill Clinton kann machen was er will, er muß immer die Praktikantin ficken.

Die Verschiebung des politischen Raumes vom Text der Interessen zum Bild der Moral - in Villem Flussers Modell vom linearen und vom visuellen Code bedeutet dies auch: der Sieg der Gegenwart über alle anderen Zeiten - hebt den Text auch als aufklärerisches Element auf. Der Herrscher macht sein Privatleben zugleich mythisch und öffentlich, um das Wesen seiner Herrschaft vollkommen zu verschleiern. Das moralische Bild spricht für sich (Männer sind Schweine, mächtige Männer sind mächtige Schweine. Oder: Liberale sind Schweine...) und verdrängt jenen Text (für den, verflucht sollt ihr sein, die Journaille nicht zuletzt verantwortlich wäre).

Dieser Text schreibt die Verelendung der Mehrheit und die absurde Anhäufung von Macht und Geld in wenigen Händen vor, zugleich die erzwungene Komplizenschaft des Mainstream zur entsprechenden Ideologie-Bildung, zum freiwilligen Leben in einem Wahnsystem. Das Problem des politischen Textes, also dessen, was auch eine in Maßen sich oppositionell verstehende Presse produzieren kann, ist es, daß sie nur als Teil dieses Wahnsystems möglich ist. Nachricht und Kommentar sind dazu verurteilt, das öffentliche Spiel der Macht-Repräsentanz als "Wirklichkeit" zu mißverstehen und sich auf einer Bühne wechselnde Perspektiven, wechselnde Identifikationsobjekte zu suchen. Es ist das Spiel, das auch dieser Text-Produktion den Wunsch einpflanzt, vom linearen zum visuellen Code auszuweichen. Tatsächlich scheint ein Sex-Skandal im Weißen Haus den derzeitigen Zustand der Welt besser zu erklären als eine politisch-ökonomische Theorie, so wie wir eher aus einem Hollywood-Trend als aus den Pressekonferenzen zur Lage der Nation militärische und wirtschaftliche Absichten erfahren. Nicht zuletzt dürfen wir argwöhnen, daß diese Weltmacht bereits auf ihre eigene Mythenproduktion hereinfällt.

Daß der Text der Politik im Augenblick nicht zu retten scheint, produziert indes nicht nur diese Mischung aus Aufgekratztheit und Katzenjammer, die wir vom Fernsehen her kennen, es macht sich, so scheint es, in einer bestimmten Phase als Defizit bemerkbar. Viele Journalistinnen und Journalisten fühlen sich derzeit bemüßigt, öffentlich zu bekennen, daß sie die Vermischung von Politik und Klatschgeschichte, die Verwischung der Grenzen zwischen Zeitung und yellow press, zum Beispiel, bedauern (aber die Leserinnen und Leser...), und kommen ebenso öffentlich überraschenderweise darauf, daß man bei der Einführung eines grinsenden Überwachungsstaates pressemäßig irgendwie "geschlafen" habe. Ein herrliches Bubenstück selbstreferentiellen Wahnsinns. Die Repräsentanten der Verblödungsmaschinen schauen uns ganz betrübt an und beschweren sich darüber, daß sie sich selber gleich mit verblödet haben.