24. Ware Liebe

Fortgesetzte Erzählungen

Meine Mutter Charlotte war eine quicklebendige Berlinerin und galt als leichtsinnig. Sie war gutmütig, unordentlich, ging gerne tanzen, hatte vor nichts Angst und verlor nie die Hoffnung.

"Wird schon werden mit Frau Beeren, mit Frau Born is' auch gewor'n", sagte sie, wenn es dicke kam, und später, als die schlechteren Nachkriegszeiten hinter uns lagen und die Leute von Existenzängsten geplagt wurden:

"Ach, weißt du, Junge, wenn man das durchgemacht hat, was wir beide durchgemacht haben, kann einem nicht mehr viel passieren."

Im Konfliktfall handelte sie nach der Devise:

"Meine Großmutter hat mal Schläge gekriegt, weil sie keine Ausrede wußte."

Sie hielt es einfach für klüger, nicht mit dem Kopf gegen jede Wand zu rennen, und meistens gab es ja auch drei Schritte weiter ein offenes Gartentor.

Ihre Mitmenschen betrachtete sie mit mildem Spott. "Die Welt ist ein Zoo mit vielen komischen Tieren drin", sagte sie, wie sie überhaupt wenig Spaß am Leiden hatte.

Sie war das jüngste von sieben oder acht Kindern und ihre Mutter starb im Kindbett, aber ihr Vater, der in einer Baracke neben der Stadtbahn einen kleinen Schuhladen hatte, wurde auch nicht alt.

Bis sie 17 war, lebte meine Mutter in einem Heim und arbeitete als Platzanweiserin im Kino, dann schickte ihr Vormund, ein Rechtsanwalt, sie zu seinem Bruder aufs Land. Ich besitze davon ein Foto. Mutter sitzt in einem luftigen Kleidchen mit einem hübschen Burschen hoch oben auf einem Heuwagen und lacht, aber fragen Sie mich nicht, warum das Mädchen einen jüdischen Vormund hatte und wer der Vater des Kindes war, das sie neun Monate drauf in einer Klinik am Winterfeldtplatz zur Welt brachte.

Charlotte, die einem viel erzählen konnte, war diesbezüglich verschwiegen wie ein Grab, ließ jedoch durchblicken, daß der Vormund sie meines Vaters wegen deportiert habe, und der habe sie am Abend vor ihrer Abreise geschwängert.

Das klang gut, denn ich mochte meinen Vater, war aber unglaubwürdig, denn da sie auch erzählte, daß sie beim Häufeln der Kartoffeln geholfen habe, dann bei der ersten Heuernte und so weiter, bis die Kartoffelfeuer ihr würziges Aroma über die aufgewühlten Äcker schickten, und sie, nun schon recht schwanger, nach Berlin zurückgeschickt wurde, hätte ich mindestens ein Elf-Monatskind sein müssen.

Ich vermute deshalb, daß ich auf diesem Heuwagen gezeugt wurde, aber sooft ich auch fragte, sie wußte viele Details, nicht aber, wo der Ort lag und wie er hieß. Das habe sie vergessen.

Mein Vater dagegen raunte von unsittlichen Soireen in Grunewaldvillen mit Filmfritzen und Minderjährigen und deutete an, wenn der Vormund meine Mutter damals nicht aufs Land geholt hätte, wäre sie in der Gosse gelandet, da sie ihr bißchen Geld für Handtasche, Strümpfe, Schuhe und anderen Schnickschnack verplempert hätte.

An Mutters Vormund erinnerte ich mich gut. Er war groß, alt und sehr gemütlich, trug einen vornehmen dunklen Anzug, empfing uns in einem dunklen Zimmer voller schöner Möbel, redete meiner Mutter eindringlich zu und am Ende weinte sie, aber das tat sie öfter. Zumeist im Kino.

Zum Abschied streichelte er meinen kleinen Bruder und mich, schäkerte mit unserer kleinen Schwester und schenkte jedem ein Geldstück.

Einmal standen zwei SA-Leute vor seinem Haus und tönten:

"Sie als deutsche Mutter wollen einen Juden besuchen?"

Meine Mutter sagte schnippisch:

"Der Jude hat mir geholfen, als keiner von Ihren Deutschen für mich einen Finger gekrümmt hat. Helfen Sie mir lieber, den Kinderwagen raufzutragen."

Fakt ist, meine Alten bestellten das Aufgebot kurz nach dem ersten reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933. Der Vormund vermietete ihnen eine Dreizimmerwohnung mit Bad und Küche in einem von ihm verwalteten Haus und pumpte meinem Vater auch das Geld für den dreirädrigen Lieferwagen.

Meine Mutter sprach übrigens ungern über ihre erste Hochzeit, weil sie nur eine Woche vor meiner Geburt stattfand.

Sie war eben etwas katholisch und behauptete sogar, sie habe mich heimlich taufen lassen, nach dem Motto:

"Ich glaube zwar nicht an Gott, nehme mich aber vor ihm in acht."

An meine Geburt erinnere ich mich ebenfalls gut, da sie mir oft davon erzählte. Der Vorgang dauerte vierundzwanzig Stunden und war eine solche Tortur, daß sie sich vornahm, nie wieder Kinder zu kriegen. Dennoch kam sie noch zwei Mal nieder, da der Malerbetrieb, in dem sie das Kaufmännische übernahm, sich so gut entwickelte, daß sie sich noch vor dem Münchner Abkommen ein Segelboot leisten konnten.

Auch davon habe ich ein Foto. Das Boot dümpelt vor Schildhorn, meine Eltern mampfen, man sieht, daß Mutter auch im Zweiteiler aussah wie Lilian Harvey und blonde Locken hatte, ich stehe am Ufer, daneben ein Schäferhund.

Ein paar Minuten später wird der Hund ins Wasser springen, ich werde hinterherlaufen, jemand wird rufen: "Da ertrinkt ein Kind!", mein Vater wird mich retten, und meine Mutter wird zum Dank von ihm meine kleine Schwester empfangen.

Ob sie mich liebte, weiß ich nicht. Die Liebe war für sie eine Ware, und eine ihrer Meinungen lautete:

"Wie man in den Wald reinruft, so schallt es heraus."

Ihren zweiten Mann, einen pensionierten Hauptfeldwebel, den sie bei einem Tanztee der Arbeiterwohlfahrt kennenlernte, schätzte sie, da er schweigsam war, ihr nicht widersprach, gut tanzen konnte, nicht trank, eine anständige Rente hatte und ihr Kontrollvollmacht erteilte.

Ihr Dritter, ein debiler Wuppertaler mit ungeklärter beruflicher Karriere - mal war er Rommels Fahrer gewesen, mal der erste bundesdeutsche Generalvertreter für Fertighäuser -, hatte am rechten Arm keine Hand, an der linken nur drei Finger, kniff ihr damit jedoch gekonnt in den Hintern, als er sie, ebenfalls beim Tanztee traf, und es imponierte ihr auch, daß er gleich beim ersten Rendezvous zwei goldene Ohrringe mit Diamanten dabei hatte.

Der Schmuck erwies sich nach ihrem Tod zwar als Imitat, und auch finanziell legte sie in der Ehe drauf. Ich bin jedoch sicher, daß sie ihm verziehen hätte: Das Geld interessierte sie nur so lange, wie sie es ausgegeben konnte.

Als ich sie am Tag ihres Todes im Jahr 1995 besuchte, kruschtelte sie lange im Schlafzimmer, während der einarmige Bandit mir zum zigsten Mal erzählte, daß er mit 86 freiwillig den Führerschein zurückgegeben habe, und drückte mir zum Abschied viel Geld in die Hand, um die sechstausend Mark.

"Da nimm", sagte sie, "das brauche ich jetzt auch nicht mehr."

"Mutter", sagte ich und streichelte sie. "Du wirst hundert Jahre alt." Ihr früher so weicher Körper war hart und kantig, ihr üppiger Busen war weg und die Haut über den Schläfen war eingefallen.

"Wozu?" fragte sie. "Ich kann nicht mehr ausgehen und tanzen, jeden Tag muß der Gustav mich dreimal waschen, ich kann nicht mehr richtig essen und trinken - warum soll ich da hundert Jahre alt werden? Jetzt fahr schön nach Hause in dein Kölle Alaaf und laß mich sterben."

Die schönste Zeit hatten wir, als ich ein Junge war. Ich umsorgte sie wie ein Liebhaber, putzte die kleine Behelfswohnung, brachte ihr das Frühstück ans Bett, wusch ihren Rücken, und in den Kriegsjahren durfte ich auch in ihrem Bett schlafen. Nur wenn Onkel Formanowicz kam, mußte ich in die Kammer.

Ich lag dann lange wach, lauschte ihren Stimmen, ihrem Lachen, und später schienen sie auch zu beten.

Auch am Tag, als mein Vater starb, nahm sie jemand mit ins Bett: Jan Vosz, einen Niederländer, der extra nach Kassel gekommen war, um seinem Freund Ottokar Modjewski noch einmal ins wasserblaue Auge zu schauen.

Wir saßen im Schatten der gigantischen Schrankwand, tranken oude Genever, aßen Burekaas, sprachen über Vater, der in irgendeinem Gefrierfach lag, besichtigten seine Anzüge, Unterhosen und Schlipse, die niemand haben wollte, und als meine Geschwister samt Ehegatten und Kindern weg waren, sagte sie munter:

"Also versteht mich nicht falsch, aber einer von euch muß heute bei mir in diesem scheußlichen Schlafzimmer schlafen."

Wieder lag ich lange wach, wieder in einer Art Kammer, die ihr als Büro und Besuchszimmer diente, denn zu der Zeit hatte sie ein paar Hausverwaltungen.

Das Kopfteil der Klappcouch, die einem Prokrustesbett glich, roch nach Haarspray, und gegen Morgen, als die erste Wasserspülung rauschte, begannen ihre zwei Kanarienvögel zu lärmen.

Ich trat ins Schlafzimmer, um mich zu verabschieden. Sie schliefen fest und hielten sich umarmt. Da erst erkannte ich das Bett. Jan hatte es für meinen Vater organisiert, als der mit seiner Backkompanie in Alkmaar lag. Irgendein Tauschgeschäft im Krieg. Das Bett lagerte auf einem Speicher in Hofacker, als wir 1945 dort ankamen, und es war das gleiche, in dem sie lag, als sie starb, nachdem sie mir die sechstausend Stütz gegeben hatte.

Nächste Woche: "Trailer for sale or rent"