Der heimliche Lehrplan muß aufgebrochen werden

Mit getrenntem Unterricht wurden in Berlin gute Erfahrungen gemacht

"Nach normalem Unterrichtsbeginn wurden 20 Minuten lang nur Jungen drangenommen - der Unterricht lief, die Mädchen zogen sich zurück; danach sollten 20 Minuten lang nur Mädchen drangenommen werden, der Unterricht lief fünf Minuten, dann protestierten die Jungen lautstark." So heißt es in einem Bericht über einen Versuch an einer Berliner Grundschule. Heißt die Konsequenz daraus: Weg mit der Koedukation, zurück zur Knaben- und Mädchenschule?

Seit Anfang der neunziger Jahre gibt es in Berlin zirka 180 Schulen, die von der Möglichkeit Gebrauch machen, Jungen und Mädchen in bestimmten Fächern getrennt zu unterrichten. Es handelt sich dabei vorwiegend um naturwissenschaftliche Fächer, in denen Mädchen im gemeinsamen Unterricht besonders benachteiligt werden. Zahlreiche Studien, statistische Erhebungen und eine Fülle von Erfahrungen belegen, daß im Rahmen der bisher praktizierten Koedukation das traditionelle Rollenverhalten der Geschlechter eher verfestigt wurde. Natürlich konnten viele Bildungsdefizite bei Mädchen aufgehoben werden und ein vergleichsweise hoher Anteil Schulabgängerinnen erreicht einen Realschulabschluß bzw. die allgemeine Hochschulreife. (1991/92 erhielten in Berlin 40 Prozent der Schulabgängerinnen einen Realschulabschluß, 44 Prozent eine allgemeine Hochschulreife; dagegen nur 35 Prozent bzw. 40 Prozent der Schulabgänger.)

Trotzdem entscheiden sich bundesweit immer noch 88 Prozent der Frauen für zwölf Berufsgruppen, und zwar vorwiegend im schlecht bezahlten Dienstleistungs- und Pflegebereich. Ein für Frauen noch mageres Ergebnis weisen bekanntlich Statistiken über die Geschlechterverteilung in Führungspositionen aus.

Anknüpfend an Vorschläge verschiedener Pädagogen und Wissenschaftler orientieren in NRW daher neue Richtlinien für Gymnasien und Gesamtschulen auf die "Reflexive Koedukation": Koedukation ist nicht mehr nur als schulische Organisationsform zu verstehen, sondern als pädagogisches Konzept, das zur Änderung der traditionellen Geschlechterrollen beiträgt. Nicht als Schritt zum Ausstieg aus der Koedukation, sondern als Form der Binnendifferenzierung im koedukativen Kontext wird so auch in Berlin die Möglichkeit der Einrichtung getrenntgeschlechtlicher Lerngruppen erweitert. Eine Verlängerung des getrenntgeschlechtlichen Unterrichts über die bisher möglichen sechs Monate hinaus muß mit den Erfordernissen der Unterrichtsinhalte und einem schlüssigen Konzept seitens der Schule begründet und von der Schulverwaltung genehmigt werden.

In beiden Bundesländern hat sich in entsprechenden Modellversuchen die zeitweise Trennung in Fächern wie Chemie, Physik, Informatik und Biologie als besonders für die Mädchen als förderlich erwiesen. So lagen z.B. die Zensuren der Mädchen aus den homogenen Gruppen generell höher als der Durchschnitt der Zensuren von Mädchen aus heterogenen Gruppen, auch bei den Jungen war das festzustellen, wenn auch nicht so deutlich. Die subjektiven Einschätzungen der Schülerinnen und Schüler, aber auch der Lehrer, bestätigten die Vorteile dieser Unterrichtsform. Die Mädchen beurteilten sie vielfach als wichtig, sie hätten sich mehr getraut und könnten sich besser konzentrieren, ein Argument, das auch bei den befragten Jungen häufig anzutreffen war. Lehrer, die am meisten Bedenken gehabt hatten, eine reine Jungengruppe zu übernehmen, machten mit dem Lernverhalten dieser Jungen äußerst positive Erfahrungen.

Der Vorwurf, mittels der reflexiven Koedukation würde die Koedukation als solche schrittweise beseitigt, geht ins Leere. Daß in der Schule unabhängig von der gesamten Gesellschaft die geschlechtsspezifische Rollenverteilung aufgebrochen werden kann, behauptet niemand. Daß aber durch geschlechtshomogene Lerngruppen als binnendifferenzierender Teil der Koedukation der rollenspezifische "heimliche Lehrplan" zugunsten von Mädchen und Jungen zu einem nicht unerheblichen Teil aufgebrochen werden kann, ist durch eine Vielzahl von Erfahrungen belegt.

Probleme können dagegen von einer ganz anderen Seite her auftreten und die gut gemeinten Ansätze in Berlin und NRW in Frage stellen. Die Arbeitsbedingungen an den Schulen haben sich in den letzten Jahren drastisch verschlechtert. Insbesondere den Lehrern wird in allen Bundesländern immer mehr abverlangt. In NRW waren die sog. Arbeitszeitkonten, auf die sich Lehrer in den nächsten Jahren Mehrarbeitsstunden gutschreiben lassen und später "abbummeln", bereits vor zwei Jahren im Gespräch, in Berlin werden sie mit einiger Sicherheit und mit Billigung der Gewerkschaft zum kommenden Schuljahr eingeführt. Das heißt für viele Lehrer, die bereits seit 1992 eine zusätzliche Pflichtstunde aufgedrückt bekamen, daß sie in den nächsten drei Jahren für das gleiche Gehalt noch zwei Stunden mehr unterrichten dürfen. Zusammen mit der zunehmenden "Vergreisung" der Kollegien ist dies keine gute Voraussetzung dafür, daß sich Lehrer mit Eifer an innerschulische Reformmaßnahmen begeben. Die in den letzten Jahren ebenfalls erhöhten Klassenfrequenzen und die z.T. dramatische Raumknappheit an den Schulen engen jede Möglichkeit, Unterricht anders zu organisieren, zusätzlich ein. Auch in einer geschlechtshomogenen Lerngruppe sind den Lernerfolgen durch übermäßig hohe Schülerzahlen und überlastete Lehrer Grenzen gesetzt.