Runde Ecken

"Ahasver, der die Welt durchschweifende, unsäglich elende Menschengott ist wahrhaft der Pfleger des Judentums!" Dieser Satz findet sich im 1931 erschienenen Buch "Das Rätsel des Judentums" von Ludwig Thieben und wäre gar nichts Außergewöhnliches, wenn nicht der Schweizer Persus-Verlag die Schrift 1991 als die "bis heute einzige umfassende Darstellung des Judentums und seiner Geschichte aus anthroposophischer Sicht" wieder aufgelegt hätte.

"Wie verhält sich nun jenes Volk, das sich wie kein zweites durch seine Blutsveranlagung gegen das Christentum sträubt?" fragt Thieben. Die Juden wollen die Heilsbotschaft auch nach sechzig Jahren nicht hören: Die Basler Gruppe "Kinder des Holocaust" forderte die Anthroposophen auf, das Buch nicht weiter zu vertreiben. Die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft beeilte sich zu erklären, daß es "vollkommen unmöglich" sei, von Eurythmie und Esoterik zu "irgendwelchen antisemitischen Äußerungen zu kommen". Wo es keine rechten Winkel gibt, existiert erst recht kein Antisemitismus. Dieser Logik folgend, gab man jedenfalls den Ausschluß des langjährigen Mitglieds Gennadij Bondarews bekannt und damit gleich den nächsten Fall zu: Der russische Autor hatte in seinem Buch "Die Anthroposophie auf der Kreuzung der okkulten Bewegungen der Gegenwart" Antisemitisches geschrieben. Die Anthroposophie im Kreuzfeuer des P.C.-Terrors?

Erst kürzlich mußten die Waldorfschulen in Holland das Fach "Rassenkunde" nach öffentlichen Protesten abschaffen. "Neger haben dicke Lippen und viel Gefühl für Rhythmik", lernten die Kinder in einem Schulbuch. Auch Steiner, der Indianer für "degeneriert" hielt und "Malaien" für "unbrauchbare Menschen", geriet ins Fadenkreuz, mit dem Resultat, daß diese (und andere) rassistischen Passagen in dessen Werk in Holland künftig kommentiert veröffentlicht werden sollen. In Deutschland nicht. "Goethe hatte es ja auch nicht nötig, von kleineren Geistern interpretiert zu werden", verteidigte der deutsche Waldorfschulenvertreter Stefan Leber den Meister. Thiebens Werk ist unterdessen weiterhin in jeder anthroposophischen Buchhandlung in Deutschland und der Schweiz erhältlich. Passend zur gerade laufenden christlich-jüdischen "Woche der Brüderlichkeit" hat deshalb das Auschwitz-Komitee der Bundesrepublik die Anthroposophischen Gesellschaften noch einmal aufgefordert, dieses Buch aus dem Sortiment zu nehmen: Bisher will man sich dort vom christlich geprägten Antijudaismus Thiebens nicht distanzieren, denn dieser gehört zur anthroposophischen Tradition.

So ist der Verleger Thomas Meyer keine Ausnahme, wenn er in seinem Nachwort schreibt, daß heute "die Deutschen als die Juden der Moderne bezeichnet" werden könnten, weil "Juden und Deutsche bemerkenswerte Parallelen" aufweisen: Im "unter das Niveau des sonstigen Nationalismus Sinkens". "Durch die Leiden des Holocaust" könnten die Juden begreifen, daß einzig die Anthroposophie ihre Rettung sei. Der sich "fortentwickelnde Teil des Judentums" könne dann "dem Deutschtum bei der Verwirklichung seiner wahren Aufgabe" beistehen.

Worin letztere besteht, läßt der Autor wohlweislich offen.