»Express yourself«

Interview mit Dietrich Kuhlbrodt, Mitinitiator von "Chance 2000 - Wahlkampfzirkus 98"

Seid ihr zufrieden mit dem Auftakt von "Chance 2000"?

Die Partei hat sozusagen uns gegründet, d.h. die Entwicklung lief über uns hinweg, es gab großes Chaos in der Manege. Das ist durchaus beabsichtigt, denn wir wollen nur eine Art Initialzündung geben. Der Schritt vom Spiel in den Ernst ist gemacht, das Wahlkampfbüro, d.h. der Zirkuswagen, war stark frequentiert, dort wurden Adressen deponiert, Projekte geschmiedet. Das bedeutet, daß die Dinge im weiteren von selbst laufen müssen. Ich glaube, daß dieses Konzept des Theaters, des Spiels, des Partei-Gründung-Spiels und der Selbst-Organisation richtig ist, es ist im Grunde die uralte Frage des Revolutionärs: Ist die Organisierung der erste oder der zweite Schritt? Und das Neue hierbei ist wohl, das jeder aufgefordert ist, sich selbst zu organisieren.

Das Spektakel interessiert doch vor allem uns, die Medien, oder waren auch Arbeitslose im Theater-Zelt?

Wenn man den Schritt in die sogenannte Realität machen will, bedeutet das eben, auch den Schritt in die Medienrealität machen zu müssen, anders würde es nicht funktionieren, die Medien sind eben weitgehend selbstreferentiell, es müssen also die bekannten Namen auftauchen, deswegen dieses sicherlich unangenehme Element, zu sagen, wir kommen da mit diesen Talkmastern angefahren. Der nächste Schritt ist aber, nachdem diese Multiplikatoren ihre Wirkung getan haben, zu erreichen, daß der einzelne selbst initiativ wird, erkennt, daß er nicht nur als Nummer gehandelt wird.

Zur Frage, wer gekommen ist: Leute, die schon organisiert sind, z.B. der Leiter der Schwarzfahrer-Zentrale in Berlin-Friedrichshain, aber z.B. auch Leute aus dem Milieu der Nichtseßhaften ...

... an deren Situation eure Initative nichts ändern wird.

Kein Mensch kann da eine Prognose geben. Bl0ß, wenn man jetzt nichts wagen würde, passiert gar nichts, dann würde der Kandidat des Wahlkreises Prenzlauer Berg eben ein Admiral sein. Das beste, was passieren kann, ist der Rückzug der Funktionäre, und daß tatsächlich an deren Stelle Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Behinderte, all die Marginalisierten treten.

Es bleibt die Frage nach dem politischen Fernziel, wie es genau definiert wird. Aber gerade weil es offen bleibt, können verschiedene Vorstellungen nebeneinander verfolgt werden, das funktioniert eben nur, wenn nicht von vornherein eine Utopie definiert wird, Hierarchien festgelegt werden und ein Admiral sagt, wo es längs geht.

Euer Gegenkonzept ist der Künstler als Sozialarbeiter.

Das hängst schon damit zusammen, wir verwenden das gönnerhafte Wort "Sozialarbeit" aber überhaupt nicht, denn wir wenden uns nicht an Sozialfälle, sondern an Menschen, d.h. nicht an die, die von vornherein gesellschaftlich ausdefiniert sind, oder irgendwas repräsentieren. Wir haben uns gefragt: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Bewegung, die sich aus lauter Einzelpunkten zusammensetzt, wie die Arbeitslosenbewegung in Frankreich, wo dann bei einer Demo 70 000 und nicht wie bei uns 750 zusammenkommen. Ich denke, da geht uns in Deutschland etwas ab, was in Frankreich vorhanden ist, nämlich der Glaube daran, daß man gemeinsam expressiv werden kann. Das klingt hier nun wieder etwas künstlerisch, aber das Wort "Expressivität" ist in Frankreich nichts künstlerisch Definiertes, sondern einfach ein Wert, das Wissen, daß man einen gemeinsamen Ausdruck finden kann und daß dieser Ausdruck sozusagen die Organisation ist, um öffentlich werden zu können.

Das französische Vorbild schließt allerdings gerade die Vorturner aus.

Man kann die Skepsis einerseits teilen, weil sie natürlich legitim ist, anderseits guckt man schon neidisch auf Frankreich. Das Bedürfnis ist ja da, eine Bewegung wie z.B. in Frankreich hinzubekommen, dafür braucht es zwar eine Organisation, aber der Ansatzpunkt kann nicht sein, die Leute als Mitglieder einer Inititative oder einer Partei, sondern als Einzelpersonen anzusprechen. Es geht darum, die zu erreichen, die ihr Gesicht in dieser Gesellschaft verloren haben, denen man das Gesicht genommen hat, und die wieder daran glauben müssen, daß sie selbständig sind und handeln können.

Für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger ist die Bekämpfung des Sozialabbaus doch dringlicher als die Lösung von Identitätsproblemen. Warum fordert ihr nicht: Mehr Geld?

Wir wollten gerade keine politischen Forderungen sortieren. Das Aufstellen dieser Forderung ist zwar dringend nötig, aber es sollen keine Vorgaben dazu gemacht werden, damit ganz verschiedene Positionen aufgegriffen, Verbindungen eingegangen werden können, es gibt z.B. viele Gruppen, die erreichen wollen, Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft nicht länger als Makel des einzelnen zu betrachten, als moralischen Vorwurf. Zu sagen, es muß mehr Geld her, ist leicht, die Antwort wird sein, es ist kein Geld da. Wenn du die ökonomischen Verhältnisse ändern willst, mußt du dich zunächst so organisieren, daß du eine Macht wirst, und diese Macht besteht nach unserem Verständnis darin, daß die Leute daran glauben, daß sie eine Macht sind. Das Wichtigste ist also zunächst, eine Selbständigkeitsmaschine in Gang zu setzen, die den Leuten klarmacht, daß sie ein Kräftepotential darstellen.

Seid ihr spontan genug, eure Wahlkampf-Route zu ändern, um mit dem Zirkus den aussichtsreichsten Kandidaten, Gerhard Schröder, statt Helmut Kohl, zu begleiten?

Schröder wird in den Veranstaltungen genauso durchgenommen wie Kohl, allerdings gibt es kein Zentralkomitee, was nun beschließt, Schröder ist jetzt genauso zu behandeln wie Kohl. Aber aus unserer Perspektive sind Schröder und Kohl identisch.